Katharina Meissner
Sanktionen haben sich zu einem wichtigen Instrument in den Außenbeziehungen entwickelt. Die Politikwissenschaftlerin Katharina Meissner untersucht, warum, wie und welche Formen von Sanktionen in der EuropĂ€ischen Union eingesetzt werden. © privat

Frau Meissner, wie definiere ich Sanktionen, und was will ich mit ihnen erreichen?

Katharina Meissner: Die Frage ist nicht trivial. Es gibt grundsĂ€tzlich verschiedene Definitionen in der Literatur. Ich finde die von Tostensen und Bull ganz sinnvoll. Diese Wissenschaftler:innen definieren Sanktionen als jede EinschrĂ€nkung, die von Staaten gegenĂŒber anderen Staaten benutzt wird, um ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen oder eine VerhaltensĂ€nderung zu erreichen. Der Begriff ist also recht weit gefasst. Jeder Einschnitt wirtschaftlicher oder finanzieller Natur, aber auch im Bereich Kultur oder Sport, kann eine Sanktion sein. Gleichzeitig ist die Definition aber auch wieder recht eng. Sanktionen können unterschiedliche Zielrichtungen haben. Und diese Definition unterstellt, dass man mit Sanktionen ein bestimmtes Verhalten oder dessen Ende erreichen will. Es gibt in der Literatur auch AnsĂ€tze, die nicht darauf abzielen.

Worum geht es dann dort?

Meissner: Beispielsweise darum, dass Sanktionen eine Signalwirkung haben oder dass die Kosten fĂŒr das entsprechende Verhalten in die Höhe getrieben werden sollen. Das ist mit der eben erwĂ€hnten Zielrichtung zwar verwandt, aber lĂ€ngerfristig ausgerichtet. NatĂŒrlich gibt es bei den Sanktionen gegen Nordkorea die Hoffnung, dass es irgendwann so etwas wie eine Öffnung oder einen Regimewechsel gibt. Aber auch wenn ich mir bewusst bin, dass diese VerhaltensĂ€nderung wahrscheinlich nicht eintreten wird, kann ich Sanktionen verhĂ€ngen, eben weil sie die Kosten erhöhen und eine Signalwirkung haben.

Sie beschÀftigen sich in Ihrer Forschung mit den Sanktionsregimen der EU. Auf welcher Rechtsgrundlage werden diese beschlossen?

Meissner: Sanktionen werden in der EU auf Basis der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) getroffen. DafĂŒr braucht es eine Entscheidung des Rats der EuropĂ€ischen Union. Die Schwelle dafĂŒr ist relativ hoch: Im Rat brauchen diese Entscheidungen Einstimmigkeit, jeder Mitgliedsstaat hat also ein Vetorecht. Das sind die „klassischen“ Sanktionen, ĂŒber die wir jetzt auch bei Russland reden. Das etwas Komplizierte ist, dass es in der EU auch noch andere Maßnahmen gibt, die Sanktionen Ă€hneln, aber ĂŒber eine ganz andere Rechtsgrundlage laufen und auch in der Öffentlichkeit meist nicht als Sanktionen rezipiert werden. Diese betreffen die Bereiche Handelspolitik und Entwicklungszusammenarbeit. Es gibt beispielsweise vereinfachte Zollbestimmungen fĂŒr Developing Countries, GSP genannt, die aufgehoben werden können. Der Ablauf ist da ganz anders: Das lĂ€uft ĂŒber den supranationalen Teil der EU, also unter Beteiligung von Kommission, Parlament und Rat. In diesen Politikbereichen braucht es im Rat auch nur eine qualifizierte Mehrheit, die Schwelle ist also niedriger.

Zur Person

Katharina Meissner ist Postdoc am Centre for European Integration Research (EIF), Institut fĂŒr Politikwissenschaft der UniversitĂ€t Wien. Die Politikwissenschaftlerin arbeitet an der Schnittstelle von internationalen Beziehungen und EU-Forschung mit Schwerpunkt auf den Außenbeziehungen der EU. Das Projekt „Was bestimmt EU-Sanktionen? Design und Ausnahmen“ (2019–2023) wird vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert.

„KollateralschĂ€den umfassender Wirtschaftssanktionen sind auch fĂŒr die Bevölkerung hoch.“ Katharina Meissner

Welche Arten von klassischen Sanktionen gibt es?

Meissner: Der ĂŒberwiegende Teil von Sanktionen sind sogenannte „smart sanctions“ oder „targeted sanctions“. Diese zielen auf Individuen, einzelne Firmen oder Sektoren ab. Das sind vor allem EinreisebeschrĂ€nkungen und Maßnahmen gegen Vermögen, das in der EU liegt. So wie das jetzt fĂŒr einige Oligarchen, aber auch fĂŒr Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow beschlossen wurde. Das GegenstĂŒck sind umfassendere Wirtschaftssanktionen, also zum Beispiel Restriktionen im Bereich Import/Export oder großflĂ€chige Finanzsanktionen. Die absolute Zahl an Staaten, die von der EU mit eigenen, klassischen Sanktionen belegt sind, ist relativ niedrig. Das sind Russland und Sewastopol/Krim, Syrien, Iran, Myanmar und Venezuela. Man sieht aber, dass insbesondere in den letzten zehn Jahren diese umfassenderen Sanktionen wichtiger geworden sind. Das ist insofern interessant, als man sich in den 90er- Jahren eher in Richtung „smart sanctions“ bewegt hat, weil die KollateralschĂ€den – in der Wissenschaft sagen wir dazu „nicht intendierte Konsequenzen“ â€“ der umfassenden Wirtschaftssanktionen hoch sind, auch fĂŒr die Bevölkerung.

Gibt es Hypothesen, warum die umfassenden „Sanktionspakete“ wichtiger werden?

Meissner: Diese Trendwende ist leider noch nicht gut erforscht. Ich habe mir aber zuletzt angesehen, welche Voraussetzungen gegeben sein mĂŒssen, damit solche umfassenden Sanktionen verabschiedet werden. Der zu sanktionierende Staat muss unter dem Verdacht stehen, schwere Menschenrechtsverletzungen zu begehen, und auch die militĂ€rischen Möglichkeiten haben, diese ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Diese beiden Bedingungen mĂŒssen gekoppelt sein: entweder mit einem gleichzeitigen Eingreifen der USA, oder es muss sich um einen salienten Konflikt handeln, also einen mit hoher öffentlicher Aufmerksamkeit.

Sie haben die USA erwĂ€hnt. Umfassende Sanktionsregime werden also fĂŒr gewöhnlich von der „westlichen Staatengemeinschaft“ erlassen?

Meissner: Ja, auch weil den EntscheidungstrĂ€ger:innen natĂŒrlich bewusst ist, dass diese Wirtschaftssanktionen nur dann wirken, wenn sie von vielen VerbĂŒndeten mitgetragen werden. Sonst könnte der Staat einfach auf andere Handelspartner ausweichen. DarĂŒber hinaus ist meine These, dass sich die EU in Sicherheitsfragen auf die USA verlĂ€sst, die ja auch maßgeblich sind in der NATO. Entweder ĂŒben da die USA Druck aus oder man hĂ€ngt sich an sie als Vorreiter dran.

Was macht Sanktionen effektiv?

Meissner: Das ist eine sehr umstrittene Frage, obwohl sich der ĂŒberwiegende Teil der Sanktionsforschung seit Jahrzehnten damit beschĂ€ftigt. Die Breite der EinschĂ€tzungen ist interessant und reicht von „Weniger als ein Drittel der Sanktionen sind erfolgreich“ bis zu „Zwei Drittel der Sanktionen sind erfolgreich“. Überwiegend ist die Forschung aber recht pessimistisch. Das hat auch damit zu tun, dass „Erfolg“ nicht leicht zu definieren ist. Erinnern wir uns an die Eingangsfrage: Wenn ich den Erfolg von Sanktionen an einer ganz bestimmten VerhaltensĂ€nderung messe, wird die Rate niedrig sein. Das passiert selten so klar. Messe ich es aber an Faktoren wie Signalwirkung oder Erhöhung der Kosten, habe ich natĂŒrlich eine höhere Erfolgsrate. Die Forschung hat aber einige Faktoren aufseiten des sanktionierten Staates gefunden, die die Erfolgsrate erhöhen.

„Es gibt einen Faktor, der zu wenig erforscht ist: die Implementierung der Sanktionen.“ Katharina Meissner

Welche sind das?

Meissner: Demokratien sind anfĂ€lliger fĂŒr Sanktionen als autoritĂ€re Regime, wobei natĂŒrlich der Großteil der Sanktionen auf autoritĂ€re Regime entfĂ€llt. Schwache autoritĂ€re Regime sind anfĂ€lliger als stabile, weil Letztere oft zu einem gewissen Teil lenken können, wo die Folgen der Sanktionen auftreten. Dann sind die Kosten ein entscheidender Faktor. Je höher die Kosten fĂŒr den Staat, desto höher sind die Chancen, dass Sanktionen erfolgreich sind. Und dann gibt es noch einen Faktor, der meiner Meinung nach zu wenig erforscht ist: die Implementierung der Sanktionen. Man muss sich das so vorstellen: Die EU beschließt Sanktionen, umsetzen und kontrollieren mĂŒssen sie die Mitgliedsstaaten. Die Implementierung kann sehr unterschiedlich streng sein, auch weil Sanktionen natĂŒrlich ebenso in den Mitgliedsstaaten Unternehmen treffen und damit Verteilungskonflikte hervorrufen. Anwendung und Kontrolle dieser Regime und Sanktionierung von VerstĂ¶ĂŸen kann sehr stark variieren.

Wir haben jetzt abstrakt ĂŒber Sanktionen gesprochen, der Grund fĂŒr das GesprĂ€ch sind aber die Sanktionen gegen Russland. Ist das jetzt beschlossene Paket das hĂ€rteste Sanktionsregime, das die EU aktuell hat?

Meissner: Ich wĂŒrde sagen: ja. Vor allem mit dem zuletzt beschlossenen Ausschluss von Swift. Das wurde in den Medien ja als „nukleare Option“ im Finanzbereich bezeichnet. Das sehe ich differenzierter. Der Ausschluss betrifft mit Stand 1. MĂ€rz 70 Prozent der russischen Banken, es ist also eher ein „targeted“ Vorgehen. Viel hĂ€rter ist das Handelsverbot mit Reserven der russischen Zentralbank, die in der EU lagern. Das hat massive Auswirkungen auf die russische Wirtschaft und auf den gesamten Finanzbereich.

Sind Sanktionen erfolgreicher, wenn sie lÀnger andauern? Oder ist es besser, sofort mit aller Kraft reinzugehen?

Meissner: Auch da ist die Forschung uneins. Es gibt Zeichen, die darauf hindeuten, dass lĂ€ngere Sanktionen erfolgreicher sind, aber auch welche, die sich in die Gegenrichtung interpretieren lassen. Das hat auch mit den oben erwĂ€hnten nicht intendierten Konsequenzen zu tun. Das kann die Entstehung oder StĂ€rkung einer Schattenwirtschaft sein oder humanitĂ€re Folgen. Auch wenn diese Wirkungen nicht erwĂŒnscht sind, gehören sie wesentlich zur Wirkung von Sanktionen dazu. Sie treten vor allem bei den umfassenden Sanktionen auf, das werden wir jetzt wahrscheinlich auch im Fall Russlands sehen. Gleichzeitig muss man natĂŒrlich auch sehen: Was sind die Alternativen? Es braucht die Signalwirkung, dass dieser Einmarsch auf keinen Fall akzeptiert werden kann.

Können Sanktionen Regime auch stÀrken?

Meissner: Ja, die FĂ€lle gibt es. Wir wissen aus der Forschung, welche Bedingungen solche negativen „side effects“ begĂŒnstigen können. Einer davon ist, wenn ein autoritĂ€res Regime einen relativ großen Zugriff auf die Medienlandschaft hat und das Narrativ der Sanktionen so bestimmen kann. Hinzu kommt der oben erwĂ€hnte Lenkungseffekt: Der Ausschluss aus Swift betrifft ja nicht nur regimetreue, sondern auch oppositionelle Gruppen. AutoritĂ€re Regime können ĂŒber die Schattenwirtschaft lenken, wer die Sanktionen umgehen kann und wer nicht. Diese Gefahr wĂŒrde ich bei Russland durchaus sehen.