Display eines Mobiltelefons mit Social Media Apps
Es kann sich lohnen, auch am digitalen Stammtisch Überzeugungsarbeit zu leisten, wie Citizen-Science-Forschung aufzeigt. © Adem AY/unsplash

Der Zustrom geflĂŒchteter Menschen ab 2015 hat den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Österreich auf die Probe gestellt. In einer reprĂ€sentativen Befragung erhob damals ein Team der UniversitĂ€t Wien um den Soziologen Jörg Flecker, unterstĂŒtzt vom Wissenschaftsfonds FWF, wie Vorstellungen von SolidaritĂ€t in Zeiten der Krise verhandelt werden. FĂŒr ein reprĂ€sentatives Sample von Einzelpersonen ging es in der Befragung ans Eingemachte: Ist SolidaritĂ€t wichtig oder umstritten? Wer hat Anspruch auf Leistungen des Sozialstaats? Welchen Menschen gebĂŒhrt UnterstĂŒtzung und in welchem Ausmaß? Und was sind die Voraussetzungen dafĂŒr?

Aufbauend auf dem Grundlagenprojekt untersuchte der Projektleiter dann 2018 gemeinsam mit der Postdoktorandin Saskja Schindler und Citizen-Scientists, wie der gesellschaftliche Kitt und die zugehörige politische Orientierung in sozialen Medien verhandelt werden. „Wir wollten herausfinden, wie diese Themen diskutiert werden, wenn Meinungen aufeinandertreffen. Soziale Medien bergen die Gefahr von Filterblasen und Echokammern, in denen die eigenen Auffassungen stets verstĂ€rkt werden. Das wollten wir uns nĂ€her ansehen“, erklĂ€rt Jörg Flecker. Und Saskja Schindler ergĂ€nzt: „Der Citizen-Science-Ansatz, also die Arbeit mit Laienwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, ist hier besonders sinnvoll, weil es um das Erforschen möglichst unterschiedlicher Lebenswelten geht, die anders kaum zugĂ€nglich sind.“

Die Ergebnisse sind damit zum einen methodisch interessant, zum anderen zeigt sich, dass es in den Echokammern gar nicht von jeder Wand gleich zurĂŒckschallt und man sich am digitalen Stammtisch durchaus um Überzeugungsarbeit bemĂŒhen kann. Mit der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt FORBA und Veronika Wöhrer, Spezialistin fĂŒr partizipative Forschung an der UniversitĂ€t Wien, wurde in dem Projekt eng zusammengearbeitet.

Vorabfragen der Forschungsethik

Um Einblick in unterschiedliche Milieus zu bekommen, suchte Projektkoordinatorin Saskja Schindler Zugang zu unterschiedlichen Facebook-Gruppen: „Wir konnten unseren Aufruf, sich an der Forschung zu beteiligen, nicht einfach in verschiedenen Gruppierungen vom SchĂŒtzenverein ĂŒber Interessenvertretungen bis zum Cartellverband einspeisen. Die Admins reagierten oft nicht oder ablehnend. Das war verwunderlich, zumal in den Foren selbst oft recht offenherzig diskutiert wird.“ Also schrieb das Team via Messenger direkt Personen an, die auf den jeweiligen Seiten hĂ€ufiger Posts ablieferten, um zehn Citizen-Scientists zu rekrutieren, die sich in politischer Orientierung, Geschlecht, Milieu, Alter, Erwerbsstatus etc. unterscheiden.

Die zweite Herausforderung bestand darin, einen „informed consent“ sicherzustellen. Also allen Beteiligten zu jedem Zeitpunkt bewusst zu machen, dass sie Teil eines Forschungsprojekts sind, was ĂŒber die Information in den stets sichtbaren Gruppenbildern gelang. Nach einer Einschulung regten die Citizen-Scientists eigenstĂ€ndig in geschlossenen Gruppen mit geladenen Freundeskreisen Diskussionen an und stellten im Anschluss den schriftlichen Kommunikationsverlauf sorgfĂ€ltig pseudonymisiert zur VerfĂŒgung. Als „Reizthemen“ fĂŒr die Debatten dienten der „1,50-Euro-Stundenlohn fĂŒr gemeinnĂŒtzige Arbeit von Asylwerberinnen und Asylwerbern“ und die „Mindestsicherung neu“.

Schlussfolgerungen fĂŒr Social-Media-Forschung

Letztlich konnten neun Citizen-Scientists gewonnen werden. Die Diskussionen verliefen sehr unterschiedlich, ein paar kamen nicht recht in Gang, etwa weil die Freundeskreise keinen Bezug zum Thema hatten. Jörg Flecker zieht aus den Ergebnissen zunĂ€chst methodische Schlussfolgerungen mit Relevanz fĂŒr die Social-Media-Forschung: „Die Beteiligten an den Diskussionen in den geschlossenen Gruppen fĂŒhlten sich trotz zugesicherter AnonymitĂ€t weniger sicher und waren zögerlicher in ihren Aussagen als in den öffentlichen Diskussionen der Foren. Das wĂŒrde man umgekehrt erwarten. Unsere ErklĂ€rung dafĂŒr ist, dass die Feeds als vergĂ€nglicher wahrgenommen werden. Das Gepostete rutscht in der Timeline nach unten, wĂ€hrend bei uns klar war: Das liest noch jemand, nutzt es fĂŒr Forschung. Die soziale Kontrolle wurde wohl als höher wahrgenommen.“

Wie dicht ist die Filterblase?

Eine Schlussfolgerung des Projekts ist, dass es zu kurz greift, wenn man Gruppen, die sich in den sozialen Medien austauschen, pauschal als Filterblasen und Echokammern bezeichnet. In den Freundeskreisen wurde relativ kontrovers diskutiert und nicht nur einhellige Meinungen ausgetauscht. Selbst bei Ă€hnlichen Vorstellungen darĂŒber, warum jemand UnterstĂŒtzung bekommen sollte, konnten die Meinungen darĂŒber, wie viel UnterstĂŒtzung angemessen sei, weit auseinanderklaffen. In den Ergebnissen einmal mehr bestĂ€tigt hat sich, dass Gerechtigkeitsprinzipien eine wichtige Rolle bei den SolidaritĂ€tsvorstellungen spielen, also ob jemand aufgrund von Leistung, BedĂŒrftigkeit oder Status den Anspruch auf UnterstĂŒtzung und Zugehörigkeit erwirbt. Selbst wenn sich die Beteiligten darĂŒber einig waren, dass, wer arbeitet, auch Leistungen beziehen soll, konnte es darĂŒber heiß hergehen, was genau als Arbeit gilt.

Potenzial fĂŒr Überzeugungsarbeit vorhanden

Saskja Schindler betont, dass sich trotz der gezielten Auswahl der Beteiligten ohnehin nicht immer alle einig sind. Es zeigt sich aber auch, dass sich soziale Medien wenig dafĂŒr eignen, allgemeine gesellschaftspolitische Diskussionen zu fĂŒhren: „Es blieb auf der Ebene konkreter Meinungen zu EinzelfĂ€llen und Sachverhalten. Was einer langen komplexen AusfĂŒhrung bedarf, wird eher ignoriert. Selbst wenn jemand ĂŒbergeordnete Tendenzen wie zum Beispiel Neoliberalismus ansprach, wurde das meist nicht weiterverfolgt.“ LĂ€ngere Postings sind im Format von Facebook einfach auch mĂŒhselig zu lesen. Was das Forschungsteam sehr wohl sieht, ist ein Potenzial fĂŒr Überzeugungsarbeit am digitalen Stammtisch. Man kann in Diskussionen einsteigen und versuchen, andere Menschen umzustimmen. Und: Freundeskreise sind auch auf Facebook nicht ganz homogen, genauso wie im echten Leben, obwohl der Algorithmus stets die grĂ¶ĂŸte Übereinstimmung befördert.


LebenslÀufe

Jörg Flecker ist Professor fĂŒr Allgemeine Soziologie am Institut fĂŒr Soziologie der UniversitĂ€t Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitsorganisation und Arbeitsbeziehungen, Arbeitsmarkt, Digitalisierung, Rechtspopulismus und -extremismus.

Saskja Schindler ist wissenschaftliche Angestellte bei SORA Institute for Social Research and Consulting und UniversitĂ€tslektorin am Institut fĂŒr Soziologie der UniversitĂ€t Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitssoziologie, Politische Soziologie und soziale Ungleichheit.

Das Projekt Getrennte Welten? SolidaritĂ€tskonzepte und politische Orientierungen in sozialen Medien wurde im Rahmen der Förderinitiative Top Citizen Science vom Wissenschaftsfonds FWF mit 50.000 Euro unterstĂŒtzt und endete 2020.  


Publikationen

Wöhrer V., Schindler S., Papouschek U. & Schönauer A.: Protected by the Anonymous Mass? Reflecting Anonymity and Informed Consent in a Citizen Science Project on Social Media Platforms. Poster presented at the European Citizen Science Conference 2020 (PDF)

Hofmann J., Altreiter C., Flecker J., Schindler S., & Simsa R.: Symbolic struggles over solidarity in times of crisis: Trade unions, civil society actors and the political far right in Austria, in: European Societies, 21(5), 649–671, 2019

Altreiter C., Flecker J., Papouschek U., Schindler S., & Schönauer A.: UmkÀmpfte SolidaritÀten. Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft, Promedia Verlag 2019