Die Alpen zwischen Verödung und Gentrifizierung

Ein wachsender Anteil der Weltbevölkerung â schon mehr als die HĂ€lfte â lebt heute in StĂ€dten. Im Vergleich dazu ĂŒberaltern lĂ€ndliche Gebiete und Bergdörfer, und ehemals gepflegte Kulturlandschaften wachsen zu. Ein Team um Ernst Steinicke vom Institut fĂŒr Geographie der UniversitĂ€t Innsbruck registriert jedoch seit einigen Jahren einen kleinen, aber feinen siedlungsgeografischen Gegentrend. Erstmals fiel dem Projektleiter die âAmenity Migrationâ in der kalifornischen Sierra Nevada (USA) ins Auge. Als âAmenity Migrantsâ werden ZuzĂŒgler bezeichnet, die aufgrund von Annehmlichkeiten wie Sicherheit, Abgeschiedenheit und landschaftlichem Reiz einen zweiten Wohnsitz auĂerhalb der Stadt kaufen. Die alpine Wanderungsbewegung â von der Stadt ins Gebirge â ist aber keine reine Wohlstandsmigration. Sie folgt mehr dem französischen âNĂ©o-ruralismeâ â lose als neue Landliebe ĂŒbersetzbar. Auch in abgelegenen Gebieten, geprĂ€gt von Abwanderung, niedriger Geburtenrate und hohem Altersdurchschnitt, âsehen wir in den Statistiken eine Fluktuation in der Bevölkerung. Es findet ein Austausch statt, in manchen Orten sogar eine Art alpine Gentrifizierungâ, betont Ernst Steinicke im GesprĂ€ch mit scilog. Die Stadtflucht der âNew Highlanderâ, der neuen Bergbewohner, ist hĂ€ufig lĂ€ngerfristig, betrifft verschiedene Gruppen und ist durch niedrige GrundstĂŒckspreise in peripheren Gebieten fĂŒr mehr Menschen leistbar. In einem Forschungsprojekt wurden â unterstĂŒtzt vom Wissenschaftsfonds FWF â humangeografische Fallstudien zum gegenwĂ€rtigen demografischen Wandel in den Alpen durchgefĂŒhrt. 70 Gegenden mit starker Zu- und Abwanderung wurden nĂ€her untersucht und davon 25 TĂ€ler und Dörfer in Slowenien, Frankreich, Italien und Osttirol genau kartiert nach Parametern wie Wohnsitztyp, Herkunft der Einwohnerinnen und Einwohner, Nutzungsart, Naturgefahren oder EigentumsverhĂ€ltnisse. Anhand typischer Orte wie etwa in Italien Dordolla (Friaul), Ostana (Piemont) oder Gressoney (Aostatal) oder in Frankreich Le Roux (Provence-Alpes-CĂŽte dâAzur) und Les Chapelles (RhĂŽne Alpes) wurden Modelle von Zuzugsgebieten definiert und Effekte aufgezeichnet.

Wie peripher ist noch attraktiv?
Die neuen Bergbewohnerinnen und -bewohner sind eine heterogene Gruppe. Manche von ihnen haben aber das Potenzial demografische Probleme von Abwanderung und Ăberalterung im lĂ€ndlichen Raum zu lindern. Einige sind Remigranten, die im Ruhestand in ihre Heimat zurĂŒckkehren. Wie bisher heiraten manche in lokale Familien ein. Gastarbeiter bleiben eine wichtige Gruppe. Im Unterschied zu den âCounter-Urbanenâ, die fĂŒr immer aus der Stadt flĂŒchten, sind die meisten Amenity-Migranten multilokal: Sie legen sich einen zweiten Wohnsitz auĂerhalb der Stadt zu, den sie nicht nur am Wochenende nutzen. Eine weitere spannende Gruppe sind die âNew Farmersâ, vorwiegend sehr junge Menschen ohne agrarischen Hintergrund, die ihren Traum von landwirtschaftlicher Selbstversorgung und Sinnsuche leben. Dass die ZuzĂŒgler mit Störenfrieden gleichgesetzt werden, konnte Ernst Steinicke in Italien nicht beobachten: âZuwanderer werden in Peripheriegebieten eher als Bereicherung empfunden und als Impulsgeber geschĂ€tzt.â Selbst dort, wo ethnolinguistische Minderheiten leben, bringen ZuzĂŒgler zwar die Mehrheitssprache mit, wirken sich auf die Minderheiten aber eher positiv aus. Sie engagieren sich im kulturellen Leben und sind in die Dorfgemeinschaft integriert. Und wenn es um das naturrĂ€umliche Risiko geht (Hochwasserschutz, Rutschungen etc.) können schon ein bis zwei neue Landwirte die Situation in einem Dorf verbessern. Viele âNew Highlanderâ brauchen Computer und Internetverbindung, weil sie vom zweiten Wohnsitz aus arbeiten wollen. In abgelegenen Gebieten ist ein befahrbarer Weg jedenfalls eine Voraussetzung. âIm Friaul haben wir aber echte Ghost Towns gefunden, verlassene Dörfer, die neu besiedelt wurden. Manche Orte haben sich von einstelligen zu dreistelligen Einwohnerzahlen gesteigertâ, berichtet der Forscher. NatĂŒrlich gibt es auch Nachteile: Wenn zu viele kommen, steigen die Bodenpreise und die Jungen können sich kein GrundstĂŒck mehr leisten. â Steinicke nennt das den âKitzbĂŒhel-Effektâ.

Ausnahme am Ostalpenrand
Laufend erreichen das Team Berichte ĂŒber vergleichbare PhĂ€nomene in GebirgszĂŒgen weltweit, ob aus der Region rund um den Kilimanjaro, dem Hohen Atlas, dem West-Kaukasus oder den Bergen um Sapporo. Der Ostalpenrand in Ăsterreich â in der Steiermark, dem sĂŒdlichen Niederösterreich und KĂ€rnten â wird als einzige Region der Alpen von dieser positiven Wanderungsbewegung nicht erfasst. Die Berge sind hier nicht so hoch und oft von Wald bedeckt. Aber daran liegt es nicht. Humangeograf Ernst Steinicke und seine Mitarbeiter Peter Cede sowie Roland Löffler haben einen Parameter gefunden, den es sonst nirgendwo in dieser Form gibt: âDie Gegend ist geprĂ€gt von GroĂgrundbesitz, und die Holznutzung ist stark. Wenn kein Grundverkehr möglich ist, ziehen Menschen weg, aber es kommen keine neuen dazu. Daran wird sich bis auf weiteres auch nicht so viel Ă€ndern.â
Zur Person Ernst Steinicke ist Professor an der UniversitĂ€t Innsbruck und Studiendekan der FakultĂ€t fĂŒr Geo- und AtmosphĂ€renwissenschaften. Sein Forschungsinteresse gilt der alpinen Bevölkerungsgeografie und Ethno-Demografie. Er leitet seit dem Jahr 2003 vier aufeinanderfolgende FWF-Projekte, die sich mit der Bevölkerungsdynamik in den Alpen befassen. Als Fulbright Fellow an der University of California (UC) Davis hat er 2001 in der kalifornischen Sierra Nevada seine Konzeption von Counterurbanization und Amenity Migration entwickelt und in der Folge in den Alpenraum gebracht.
Projekt-Webseite https://www.uibk.ac.at/geographie/migration/
Publikationen
Löffler R., Warmuth W., Beismann M., Walder J., Steinicke E.: Amenity Migration in the Alps: Applying Models of Motivations and Effects to 2 Case Studies in Italy. In: Mountain Research and Development 36/4, Special Issue: Mountains of Our Future Earth - Perth 2015, pp. 484-493, 2016 (pdf)
Steinicke E., Warmuth W., Löffler R., Beismann M., Walder J.: Die Wiederbelebung der Alpendörfer â Ein Blick in den Westen. In: Innsbrucker Geographische Studien 40: 437-452, 2016 (pdf)
Steinicke E., Löffler R., Beismann M., Walder J.: New Highlanders in Traditional Out-migration Areas in the Alps. The Example of the Friulian Alps. In: Journal of Alpine Research/Revue de géographie alpine 102-4 | 2014, 2015
Äede P., Beismann M., Walder J., Löffler R., Steinicke E.: Neue Zuwanderung in die Alpen â der Osten ist anders. In: Mitteilungen der Ăsterreichischen Geographischen Gesellschaft 156, pp. 249-272, 2014 (pdf)
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