Alexandra Kautzky-Willer
Als Alexandra Kautzky-Willer 2010 die österreichweit erste Professur für Gendermedizin annahm, wurde das Geschlecht in der Medizin kaum berücksichtigt. Dank ihrer Pionierarbeit weiß man heute, wie stark die Gesundheit vom biologischen und sozialen Geschlecht abhängt. © MedUni Wien

Mediziner:innen leisten detektivische Schwerarbeit: Unterschiedlichste Faktoren wollen berücksichtigt werden, wenn Krankheiten diagnostiziert, deren Entstehung, Verlauf, Heilung und Prävention studiert werden. Das macht die Faszination als auch Schwierigkeit medizinischer Arbeit aus. Einer der vielen Faktoren wurde allerdings lange Zeit viel zu wenig beachtet, oft sogar völlig ausgeblendet: das Geschlecht! Lange galt der Mann in der medizinischen Forschung als Prototyp. „So wie auch das gesamte Weltbild Männer-zentriert war und Frauen mit ihren Besonderheiten nicht entsprechend wahrgenommen wurden“, merkt die Medizinerin Alexandra Kautzky-Willer an.

„Frauen wurden in der Vergangenheit aufgrund ihrer Zyklusschwankungen und möglicher Schwangerschaften als ungeeignete Probanden angesehen.“ Die unterschiedlichen Hormonsituationen beeinflussen pharmakologische Testergebnisse. So wurden Frauen lange Zeit als Proband:innen ausgeschlossen und auch heute sind sie noch in Studien unterrepräsentiert. „Mit dem Ergebnis, dass wir in der Medizin noch immer viel zu wenig über das weibliche Geschlecht wissen“, resümiert Kautzky-Willer.

Biologische Unterschiede

Worin bestehen diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern? „Es sind einerseits die biologischen und genetischen Unterschiede sowie die Hormone, deren Rezeptorenverteilung, Wirkung und die Organstruktur“, präzisiert die Forscherin. Einige Herzmedikamente oder Mittel zur Blutgerinnung wirken bei Frauen anders, weil der weibliche Körper nicht nur anders gebaut ist, sondern auch unterschiedliche Enzymaktivitäten hat, Substanzen dadurch also schneller oder auch langsamer abgebaut werden. Sie verteilen sich wegen des höheren Fett- und niedrigeren Wasser- und Muskelmasseanteils im weiblichen Körper anders als im männlichen. Frauen sind leichter, haben insgesamt mehr Körperfett und eine stärkere Organdurchblutung. Ausreichend Argumente also, um das biologische Geschlecht zu berücksichtigen.

Dass der kleine Unterschied zwischen den Geschlechtern enorm sein kann, zeigt sich besonders auf Gebieten wie Diabetes oder der Kardiologie: „Man weiß, dass Herzinfarkte sich bei Frauen nicht nur anders zeigen, sondern auch zehn Jahre später auftreten als bei Männern, auch weil sie durch Östrogene bis zur Menopause besser geschützt sind. Die Mortalität bei Frauen ist dann allerdings im Fall eines Herzinfarkts besonders hoch. Weiters erhöhen Stoffwechselstörungen das Risiko der Frauen enorm schon in jungen Jahren“, berichtet Kautzky-Willer. Als Spezialistin für Diabetes hat sie gerade auch auf diesem Gebiet über Jahre enorme geschlechtsspezifische Unterschiede festgestellt. Eine Folge aus ihren Studien zum Schwangerschaftsdiabetes war, dass der Zuckerbelastungstest seit 2010 Bestandteil der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen ist.

Zur Person

Alexandra Kautzky-Willer leistete Pionierarbeit, als sie 2010 mit der Gründung der Gender Medicine Unit an der Medizinischen Universität Wien zur ersten Professorin für Gendermedizin in Österreich berufen wurde. Sie untersucht biologische und psychosoziale Unterschiede zwischen Männern und Frauen – sowohl beim Gesundheitsbewusstsein als auch bei der Entstehung und Wahrnehmung von Krankheiten. 

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„Wir wissen in der Medizin noch immer zu wenig über das weibliche Geschlecht.“ Alexandra Kautzky-Willer

Illustration Gendermedizin
Das biologische – aber auch soziale – Geschlecht in Diagnose und Therapie miteinzubeziehen, kann entscheidend für den Erfolg der medizinischen Behandlung sein. © Etactics Inc unsplash

Das soziale Geschlecht

Im Unterschied zum englischen „sex“, dem biologischen Geschlecht, beinhaltet „gender“, das soziale Geschlecht, auch soziale und psychologische Unterschiede. Gemeint ist der Lebensstil: Ernährung und Bewegung, die Eingliederung in das Umfeld, das Rollenbild und gesellschaftliche Erwartungen an diese Person. „All das beeinflusst das Verhalten, damit auch die Gesundheitsprävention, die Wahrnehmung von Krankheit, die Compliance, wie Therapien eingehalten werden“, erklärt die Leiterin der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel am AKH. „In Studien wurden solche genderassoziierten Parameter kaum erhoben, sodass uns die Daten für Analysen fehlten“, sagt Kautzky-Willer.

Pionierarbeit

2010 nahm die Expertin für Endokrinologie und Stoffwechsel die Professur für Gendermedizin an – den damals ersten Lehrstuhl in dieser „Querschnittsmaterie“ in Österreich, der an der Medizinischen Universität Wien eingerichtet wurde. Damals gab es noch wenig Sensibilität für das Thema. Dank ihrer Pionierarbeit hat sich hier sehr viel verändert. So richten etwa einzelne Fachgesellschaften in ihren Kongressen zunehmend eigene Symposien zum Thema Gender aus. Große, renommierte Fachzeitschriften wie Nature und Lancet rufen dazu auf, in Zukunft bei allen Publikationen das Geschlecht zu berücksichtigen, und es gibt Sonderhefte zu Frauengesundheit.

Big-Data-Analysen

Die Gender Medicine Unit unter der Leitung von Kautzky-Willer ist heute national und international vielfach vernetzt und die Liste ihrer Kooperationen und Publikationen beachtlich. Auf nationaler Ebene gibt es etwa eine intensive Zusammenarbeit zu Big-Data-Analysen mit Stefan Thurner und Peter Klimek von Science of Complex Systems an der Medizinischen Universität Wien, wo große Datensätze zu Krankheiten wie Corona und Diabetes analysiert werden.

Soziales Geschlecht und Gesundheit

2019 schlossen sich Kautzky-Willer und ihre Kollegin Teresa Gisinger mit Kolleg:innen aus Kanada, Italien, Schweden und Spanien zur „Gender Outcomes & Well-being Development“-Gruppe, kurz GOING-FWD, zusammen. Ihr Ziel war es, den Einfluss von psychosozialen und soziokulturellen Einflüssen auf die Gesundheit zu untersuchen. „Das ist gar nicht so einfach, weil diese Faktoren schwer zu untersuchen sind, in Studien genderassoziierte Parameter wie Geschlechterrollen und -beziehungen kaum erhoben werden und uns dazu die Daten fehlen“, erklärt die Medizinerin. In dem vom FWF finanzierten Projekt entwickelte das internationale Team dafür ein neues Analysetool.

Neues Gender-Analysetool

Basierend auf vergangenen Gesundheitsbefragungen aus den einzelnen Ländern mit insgesamt über 30 Millionen Teilnehmer:innen suchten die Forscherinnen in den Datensätzen nach genderspezifischen Häufungen, die nicht aus dem biologischen Geschlecht resultieren. Das Ziel war, die soziale Dimension von Geschlechtsunterschieden im Zusammenhang mehrerer chronischer Erkrankungen zu untersuchen. „Dazu identifizieren wir in einem Datensatz zunächst genderspezifische Faktoren, wie zum Beispiel: Wie ist der Anstellungsstatus der Person? Mit wie vielen Personen teilt sie sich den Haushalt? Wer verdient den Hauptteil des Einkommens? Und wer ist für die Hausarbeit verantwortlich?“, erläutert die Medizinerin. Aus diesen Elementen wurde ein Gendermodell konstruiert, wobei die Zuordnungen der Faktoren zu einem eher weiblichen oder eher männlichen Gender rein aus den Daten entnommen werden.

„Wo eine Gruppe von Menschen gesundheitlich benachteiligt ist, müssen wir Geschlechterrollen ändern.“ Alexandra Kautzky-Willer

Nachteil weibliches Gender

Dabei stellte sich heraus: Menschen mit weiblichem Gender – das können sowohl Frauen als auch Männer sein – haben unter anderem ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Außerdem finden sie schwerer Zugang zum Gesundheitssystem. Die Ergebnisse zeigen deutlich, wie stark soziokulturelle Geschlechteraspekte die Gesundheit des:der Einzelnen beeinflussen. Denn obwohl beispielsweise Frauen aufgrund ihres höheren Östrogenspiegels und weiterer biologischer Vorteile besser vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt sind, spielen bei der Entstehung dieser Krankheiten soziokulturelle Aspekte eine größere Rolle.

Medizinische Versorgung sinkt mit Geschlechterungleichheit

Auch bezüglich Diabetes zeigte die Studie einen deutlichen Zusammenhang zum Gender: So erhalten Diabetes-Patient:innen mit weiblichem Gender seltener HbA1c-Messungen – ein Parameter, der die Effektivität der Blutzuckereinstellung anzeigt und deshalb zur Kontrolle herangezogen wird. Österreich schnitt hier im direkten Vergleich mit Kanada schlechter ab, obwohl sich die Länder in ihren sozialen Strukturen und dem Ranking nach dem Gender-Inequality-Index der Vereinten Nationen ähneln. Innerhalb Europas verschlechterte sich die medizinische Versorgung von Personen mit weiblichem Gender mit steigendem Gender-Inequality-Index.

Genderunterschiede verringern

Diese Ergebnisse unterstreichen zum einen die Notwendigkeit, die medizinische Forschung und Versorgung stärker für Genderunterschiede zu sensibilisieren. Zum anderen lassen sich daraus aber auch wichtige gesellschaftspolitische Forderungen ableiten. „Dort, wo es um die Ungleichbehandlung und gesundheitliche Benachteiligung einer Gruppe von Menschen geht, können und müssen wir Geschlechterrollen ändern“, sagt die Leiterin der Gender Medicine Unit. Dazu brauche es Maßnahmen, um Genderunterschiede zu verringern und Rollenbilder abzubauen.

Zukunftsvision personalisierte Medizin

Die Zukunftsvision in der Medizin geht für Kautzky-Willer noch weiter; sie besteht in einer personalisierten Medizin, wo jede:r einzelne Patient:in optimal behandelt wird. Wo Faktoren wie Geschlecht, Alter, Gewicht und Körperzusammensetzung berücksichtigt werden. „Die Wissenschaft entwickelt sich immer weiter. Wir haben Genome entschlüsselt, wir wissen bei einzelnen Krankheiten schon sehr viel, aber wir können dieses Wissen noch zu wenig in die Praxis umsetzen. Es kann nicht sein, dass die Forschung vorausläuft und die Praxis hinterherhinkt. Sich darauf zu konzentrieren, wird eine Hauptaufgabe sein“, sieht sie die Zukunft.

„Bereits bei der Entwicklung von KI muss Gender mitgedacht werden.“ Alexandra Kautzky-Willer

Gender in der Entwicklung von KI mitdenken

Eine große Herausforderung für die Medizin sieht Kautzky-Willer auch im zunehmenden Einsatz künstlicher Intelligenz: „Auch die Medizin wird immer technisierter. Schon bei der Entwicklung der Technik muss Gender – sowohl biologisch als auch sozial – mitgedacht werden, sonst haben wir überall versteckte Gendergaps. Die KI ist nur so gut, wie ihre Datensätze sind.“

Kontakt zu den Patient:innen

Wichtig für ihre Arbeit erscheint Kautzky-Willer, dass sich Grundlagenforschung mit klinischer Forschung verbindet. So erkenne man Zusammenhänge besser. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Klinik, wie es sie in den USA gibt, wünscht sie sich nicht, glaubt aber, dass es langfristig auch in Europa zu dieser Entwicklung kommen wird. Obwohl die Arbeit an der Klinik, bei der man mehrere Aufgaben vereinen muss, oft sehr stressig ist, schätzt die Medizinerin gerade diese Verbindung von Forschung, Lehre und Klinik sehr: „Ich forsche klinisch und brauche den Kontakt zur Patientin und zum Patienten. Das eine fließt in das andere“.

Kindheitswunsch Medizinerin

Dies hat sie schon als Kind hautnah erleben können. Als Tochter des ehemaligen Direktors des Gehörloseninstitutes wusste sie schon sehr früh, dass sie Ärztin und Wissenschaftlerin werden wollte. „Als Kind verklärt man diesen Beruf natürlich: dass man heilen und Lösungen finden kann. Dass der Arztberuf nicht nur schön, sondern ein sehr anstrengender ist, lernt man erst im Berufsleben“, erzählt sie von den Anfängen. In ihrer spärlichen Freizeit erholt sie sich am liebsten beim Bergwandern, Mountainbiken und Surfen. Gelernt hat die Wienerin das Surfen – natürlich – am Neusiedler See.

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