Der groĂe kleine Unterschied
Mediziner:innen leisten detektivische Schwerarbeit: Unterschiedlichste Faktoren wollen berĂŒcksichtigt werden, wenn Krankheiten diagnostiziert, deren Entstehung, Verlauf, Heilung und PrĂ€vention studiert werden. Das macht die Faszination als auch Schwierigkeit medizinischer Arbeit aus. Einer der vielen Faktoren wurde allerdings lange Zeit viel zu wenig beachtet, oft sogar völlig ausgeblendet: das Geschlecht! Lange galt der Mann in der medizinischen Forschung als Prototyp. âSo wie auch das gesamte Weltbild MĂ€nner-zentriert war und Frauen mit ihren Besonderheiten nicht entsprechend wahrgenommen wurdenâ, merkt die Medizinerin Alexandra Kautzky-Willer an.
âFrauen wurden in der Vergangenheit aufgrund ihrer Zyklusschwankungen und möglicher Schwangerschaften als ungeeignete Probanden angesehen.â Die unterschiedlichen Hormonsituationen beeinflussen pharmakologische Testergebnisse. So wurden Frauen lange Zeit als Proband:innen ausgeschlossen und auch heute sind sie noch in Studien unterreprĂ€sentiert. âMit dem Ergebnis, dass wir in der Medizin noch immer viel zu wenig ĂŒber das weibliche Geschlecht wissenâ, resĂŒmiert Kautzky-Willer.
Biologische Unterschiede
Worin bestehen diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern? âEs sind einerseits die biologischen und genetischen Unterschiede sowie die Hormone, deren Rezeptorenverteilung, Wirkung und die Organstrukturâ, prĂ€zisiert die Forscherin. Einige Herzmedikamente oder Mittel zur Blutgerinnung wirken bei Frauen anders, weil der weibliche Körper nicht nur anders gebaut ist, sondern auch unterschiedliche EnzymaktivitĂ€ten hat, Substanzen dadurch also schneller oder auch langsamer abgebaut werden. Sie verteilen sich wegen des höheren Fett- und niedrigeren Wasser- und Muskelmasseanteils im weiblichen Körper anders als im mĂ€nnlichen. Frauen sind leichter, haben insgesamt mehr Körperfett und eine stĂ€rkere Organdurchblutung. Ausreichend Argumente also, um das biologische Geschlecht zu berĂŒcksichtigen.
Dass der kleine Unterschied zwischen den Geschlechtern enorm sein kann, zeigt sich besonders auf Gebieten wie Diabetes oder der Kardiologie: âMan weiĂ, dass Herzinfarkte sich bei Frauen nicht nur anders zeigen, sondern auch zehn Jahre spĂ€ter auftreten als bei MĂ€nnern, auch weil sie durch Ăstrogene bis zur Menopause besser geschĂŒtzt sind. Die MortalitĂ€t bei Frauen ist dann allerdings im Fall eines Herzinfarkts besonders hoch. Weiters erhöhen Stoffwechselstörungen das Risiko der Frauen enorm schon in jungen Jahrenâ, berichtet Kautzky-Willer. Als Spezialistin fĂŒr Diabetes hat sie gerade auch auf diesem Gebiet ĂŒber Jahre enorme geschlechtsspezifische Unterschiede festgestellt. Eine Folge aus ihren Studien zum Schwangerschaftsdiabetes war, dass der Zuckerbelastungstest seit 2010 Bestandteil der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen ist.
Zur Person
Alexandra Kautzky-Willer leistete Pionierarbeit, als sie 2010 mit der GrĂŒndung der Gender Medicine Unit an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien zur ersten Professorin fĂŒr Gendermedizin in Ăsterreich berufen wurde. Sie untersucht biologische und psychosoziale Unterschiede zwischen MĂ€nnern und Frauen â sowohl beim Gesundheitsbewusstsein als auch bei der Entstehung und Wahrnehmung von Krankheiten.
Mehr Informationen
âWir wissen in der Medizin noch immer zu wenig ĂŒber das weibliche Geschlecht.â
Das soziale Geschlecht
Im Unterschied zum englischen âsexâ, dem biologischen Geschlecht, beinhaltet âgenderâ, das soziale Geschlecht, auch soziale und psychologische Unterschiede. Gemeint ist der Lebensstil: ErnĂ€hrung und Bewegung, die Eingliederung in das Umfeld, das Rollenbild und gesellschaftliche Erwartungen an diese Person. âAll das beeinflusst das Verhalten, damit auch die GesundheitsprĂ€vention, die Wahrnehmung von Krankheit, die Compliance, wie Therapien eingehalten werdenâ, erklĂ€rt die Leiterin der Abteilung fĂŒr Endokrinologie und Stoffwechsel am AKH. âIn Studien wurden solche genderassoziierten Parameter kaum erhoben, sodass uns die Daten fĂŒr Analysen fehltenâ, sagt Kautzky-Willer.
Pionierarbeit
2010 nahm die Expertin fĂŒr Endokrinologie und Stoffwechsel die Professur fĂŒr Gendermedizin an â den damals ersten Lehrstuhl in dieser âQuerschnittsmaterieâ in Ăsterreich, der an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien eingerichtet wurde. Damals gab es noch wenig SensibilitĂ€t fĂŒr das Thema. Dank ihrer Pionierarbeit hat sich hier sehr viel verĂ€ndert. So richten etwa einzelne Fachgesellschaften in ihren Kongressen zunehmend eigene Symposien zum Thema Gender aus. GroĂe, renommierte Fachzeitschriften wie Nature und Lancet rufen dazu auf, in Zukunft bei allen Publikationen das Geschlecht zu berĂŒcksichtigen, und es gibt Sonderhefte zu Frauengesundheit.
Big-Data-Analysen
Die Gender Medicine Unit unter der Leitung von Kautzky-Willer ist heute national und international vielfach vernetzt und die Liste ihrer Kooperationen und Publikationen beachtlich. Auf nationaler Ebene gibt es etwa eine intensive Zusammenarbeit zu Big-Data-Analysen mit Stefan Thurner und Peter Klimek von Science of Complex Systems an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien, wo groĂe DatensĂ€tze zu Krankheiten wie Corona und Diabetes analysiert werden.
Soziales Geschlecht und Gesundheit
2019 schlossen sich Kautzky-Willer und ihre Kollegin Teresa Gisinger mit Kolleg:innen aus Kanada, Italien, Schweden und Spanien zur âGender Outcomes & Well-being Developmentâ-Gruppe, kurz GOING-FWD, zusammen. Ihr Ziel war es, den Einfluss von psychosozialen und soziokulturellen EinflĂŒssen auf die Gesundheit zu untersuchen. âDas ist gar nicht so einfach, weil diese Faktoren schwer zu untersuchen sind, in Studien genderassoziierte Parameter wie Geschlechterrollen und -beziehungen kaum erhoben werden und uns dazu die Daten fehlenâ, erklĂ€rt die Medizinerin. In dem vom FWF finanzierten Projekt entwickelte das internationale Team dafĂŒr ein neues Analysetool.
Neues Gender-Analysetool
Basierend auf vergangenen Gesundheitsbefragungen aus den einzelnen LĂ€ndern mit insgesamt ĂŒber 30 Millionen Teilnehmer:innen suchten die Forscherinnen in den DatensĂ€tzen nach genderspezifischen HĂ€ufungen, die nicht aus dem biologischen Geschlecht resultieren. Das Ziel war, die soziale Dimension von Geschlechtsunterschieden im Zusammenhang mehrerer chronischer Erkrankungen zu untersuchen. âDazu identifizieren wir in einem Datensatz zunĂ€chst genderspezifische Faktoren, wie zum Beispiel: Wie ist der Anstellungsstatus der Person? Mit wie vielen Personen teilt sie sich den Haushalt? Wer verdient den Hauptteil des Einkommens? Und wer ist fĂŒr die Hausarbeit verantwortlich?â, erlĂ€utert die Medizinerin. Aus diesen Elementen wurde ein Gendermodell konstruiert, wobei die Zuordnungen der Faktoren zu einem eher weiblichen oder eher mĂ€nnlichen Gender rein aus den Daten entnommen werden.
âWo eine Gruppe von Menschen gesundheitlich benachteiligt ist, mĂŒssen wir Geschlechterrollen Ă€ndern.â
Nachteil weibliches Gender
Dabei stellte sich heraus: Menschen mit weiblichem Gender â das können sowohl Frauen als auch MĂ€nner sein â haben unter anderem ein erhöhtes Risiko fĂŒr Herz-Kreislauf-Erkrankungen. AuĂerdem finden sie schwerer Zugang zum Gesundheitssystem. Die Ergebnisse zeigen deutlich, wie stark soziokulturelle Geschlechteraspekte die Gesundheit des:der Einzelnen beeinflussen. Denn obwohl beispielsweise Frauen aufgrund ihres höheren Ăstrogenspiegels und weiterer biologischer Vorteile besser vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschĂŒtzt sind, spielen bei der Entstehung dieser Krankheiten soziokulturelle Aspekte eine gröĂere Rolle.
Medizinische Versorgung sinkt mit Geschlechterungleichheit
Auch bezĂŒglich Diabetes zeigte die Studie einen deutlichen Zusammenhang zum Gender: So erhalten Diabetes-Patient:innen mit weiblichem Gender seltener HbA1c-Messungen â ein Parameter, der die EffektivitĂ€t der Blutzuckereinstellung anzeigt und deshalb zur Kontrolle herangezogen wird. Ăsterreich schnitt hier im direkten Vergleich mit Kanada schlechter ab, obwohl sich die LĂ€nder in ihren sozialen Strukturen und dem Ranking nach dem Gender-Inequality-Index der Vereinten Nationen Ă€hneln. Innerhalb Europas verschlechterte sich die medizinische Versorgung von Personen mit weiblichem Gender mit steigendem Gender-Inequality-Index.
Genderunterschiede verringern
Diese Ergebnisse unterstreichen zum einen die Notwendigkeit, die medizinische Forschung und Versorgung stĂ€rker fĂŒr Genderunterschiede zu sensibilisieren. Zum anderen lassen sich daraus aber auch wichtige gesellschaftspolitische Forderungen ableiten. âDort, wo es um die Ungleichbehandlung und gesundheitliche Benachteiligung einer Gruppe von Menschen geht, können und mĂŒssen wir Geschlechterrollen Ă€ndernâ, sagt die Leiterin der Gender Medicine Unit. Dazu brauche es MaĂnahmen, um Genderunterschiede zu verringern und Rollenbilder abzubauen.
Zukunftsvision personalisierte Medizin
Die Zukunftsvision in der Medizin geht fĂŒr Kautzky-Willer noch weiter; sie besteht in einer personalisierten Medizin, wo jede:r einzelne Patient:in optimal behandelt wird. Wo Faktoren wie Geschlecht, Alter, Gewicht und Körperzusammensetzung berĂŒcksichtigt werden. âDie Wissenschaft entwickelt sich immer weiter. Wir haben Genome entschlĂŒsselt, wir wissen bei einzelnen Krankheiten schon sehr viel, aber wir können dieses Wissen noch zu wenig in die Praxis umsetzen. Es kann nicht sein, dass die Forschung vorauslĂ€uft und die Praxis hinterherhinkt. Sich darauf zu konzentrieren, wird eine Hauptaufgabe seinâ, sieht sie die Zukunft.
âBereits bei der Entwicklung von KI muss Gender mitgedacht werden.â
Gender in der Entwicklung von KI mitdenken
Eine groĂe Herausforderung fĂŒr die Medizin sieht Kautzky-Willer auch im zunehmenden Einsatz kĂŒnstlicher Intelligenz: âAuch die Medizin wird immer technisierter. Schon bei der Entwicklung der Technik muss Gender â sowohl biologisch als auch sozial â mitgedacht werden, sonst haben wir ĂŒberall versteckte Gendergaps. Die KI ist nur so gut, wie ihre DatensĂ€tze sind.â
Kontakt zu den Patient:innen
Wichtig fĂŒr ihre Arbeit erscheint Kautzky-Willer, dass sich Grundlagenforschung mit klinischer Forschung verbindet. So erkenne man ZusammenhĂ€nge besser. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Klinik, wie es sie in den USA gibt, wĂŒnscht sie sich nicht, glaubt aber, dass es langfristig auch in Europa zu dieser Entwicklung kommen wird. Obwohl die Arbeit an der Klinik, bei der man mehrere Aufgaben vereinen muss, oft sehr stressig ist, schĂ€tzt die Medizinerin gerade diese Verbindung von Forschung, Lehre und Klinik sehr: âIch forsche klinisch und brauche den Kontakt zur Patientin und zum Patienten. Das eine flieĂt in das andereâ.
Kindheitswunsch Medizinerin
Dies hat sie schon als Kind hautnah erleben können. Als Tochter des ehemaligen Direktors des Gehörloseninstitutes wusste sie schon sehr frĂŒh, dass sie Ărztin und Wissenschaftlerin werden wollte. âAls Kind verklĂ€rt man diesen Beruf natĂŒrlich: dass man heilen und Lösungen finden kann. Dass der Arztberuf nicht nur schön, sondern ein sehr anstrengender ist, lernt man erst im Berufslebenâ, erzĂ€hlt sie von den AnfĂ€ngen. In ihrer spĂ€rlichen Freizeit erholt sie sich am liebsten beim Bergwandern, Mountainbiken und Surfen. Gelernt hat die Wienerin das Surfen â natĂŒrlich â am Neusiedler See.