Das Kind als ModellbĂŒrger

Europa blickt auf ein Jahrhundert zurĂŒck, in dem sich immer wieder Grenzen verschoben und nationale Zugehörigkeiten verĂ€ndert haben. Machteld Venken untersuchte in ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Elise-Richter-Projekt die Nationalisierung von Kindern und Jugendlichen, die in annektierten Grenzregionen aufgewachsen sind. Neu dabei ist nicht nur der Fokus auf das Kind, sondern auch ein Zeit-Raum-Vergleich von zwei Grenzgebieten: Eupen-St. Vith-Malmedy in Belgien und Oberschlesien in Polen. Beide ehemals deutschen Gebiete fielen nach dem Ersten Weltkrieg jeweils an Belgien und Polen, wurden wĂ€hrend des Zweiten Weltkrieges wieder von Deutschland annektiert und gehörten nach Kriegsende erneut zu belgischem beziehungsweise polnischem Staatsgebiet.
Nationalisierung der Kinder
Die Eingliederung der Ostkantone in Belgien und Oberschlesiens in Polen fĂŒhrte hĂ€ufig zu Spannungen: âDie Regierungen begegneten der Bevölkerung dieser Regionen angesichts pro-deutscher Stimmungen mit Misstrauen. Sie konzentrierten ihre NationalisierungsmaĂnahmen daher auf den politisch noch formbaren Nachwuchsâ, erklĂ€rt die Historikerin der UniversitĂ€t Wien. Die Ausgangssituation war dabei in beiden Regionen unterschiedlich: âBelgien entstand bereits 1830 und war einer der liberalsten Staaten weltweit. Man konnte sowohl die Sprache als auch die Schule fĂŒr seine Kinder selbst wĂ€hlenâ, schildert Machteld Venken die damaligen VerhĂ€ltnisse ihres Heimatlandes. âPolen wurde hingegen erst 1918 unabhĂ€ngig und bewegte sich schon 1926 in Richtung Autokratie. Das Land war damit beschĂ€ftigt, seine eigene IdentitĂ€t zu finden.â
âDas Grenzkind hatte als ModellbĂŒrger eine wichtige Rolle.â
Das âGrenzkindâ
So unterschiedlich diese beiden Grenzgebiete waren, eine wesentliche Gemeinsamkeit konnte die Wissenschaftlerin herausfiltern: Das âGrenzkindâ hatte in beiden Gesellschaften eine bedeutende Rolle, galt es doch als âModellbĂŒrgerâ des neuen Staates. In beiden Gebieten war die Ausbildung der Kinder ein zentrales Instrument, um nationale Zugehörigkeit zu bilden: âViele Lehrerinnen und Lehrer, die wĂ€hrend des Ersten Weltkrieges im Grenzgebiet unterrichtet hatten, wurden nach dem Krieg entlassen und durch LehrkrĂ€fte aus dem Landesinneren ersetzt. Sie lehrten in Landessprache und hatten den Auftrag, mit ânationalen Wertenâ zu arbeitenâ, nennt die Historikerin ein Beispiel.
Internationale EinflĂŒsse, Macht und Geld
Es zeigte sich jedoch auch, dass der Einfluss des Nationalstaates auf die Grenzgebiete begrenzt war. Zum einen gab es internationale EinflĂŒsse. âMan hat die Probleme der Verhandlungstische in Versailles in die Grenzregionen katapultiertâ, bringt es Venken auf den Punkt. Zum anderen gab es weitere einflussreiche Faktoren wie Macht und Geld. Mit der UnabhĂ€ngigkeit 1918 wollte der polnische Staat die
âGeld, Prestige und Grundbesitz waren Machtfaktoren.â
Anzahl der deutschen Schulen in der polnisch-deutschen Grenzregion reduzieren. Als Grundlage fĂŒr die Entscheidung, welches Kind in welche Schule geht, sollten vom Völkerbund beauftragte Sprachtests dienen. Das Ergebnis war jedoch, dass es viel mehr Anmeldungen in deutschsprachigen Schulen als deutschsprachige Kinder gab. âDeutschsprachige Schulen hatten einfach ein höheres Prestigeâ, erklĂ€rt die Wissenschaftlerin diesen Umstand. In Polen gab es auĂerdem lokale Macht-Magnaten, die der Bevölkerung Arbeit und ihren Kindern einen Platz in der deutschsprachigen Schule anboten. âGeld, Prestige und Grundbesitz waren Machtfaktoren, die fĂŒr die Grenzregion eine Rolle spieltenâ, sagt Venken.

Bevölkerung sprengt das System
Schulen waren in beiden untersuchten Regionen ein zentraler Ort der nationalen IdentitĂ€tsbildung. So galten zusĂ€tzliche Regeln fĂŒr âGrenzkinderâ. In der belgisch-deutschen Region gab es beispielsweise die Debatte, ab welcher Schulstufe der Unterricht in der zweiten Sprache beginnen solle. âIn der Grenzregion sollte das bereits die erste Klasse sein. Im restlichen Belgien begann der Sprachunterricht in der dritten Klasse beziehungsweise in Flandern in der fĂŒnften. In der Grenzregion verschob sich der Beginn jedoch binnen acht Jahren von der ersten zur fĂŒnften Klasseâ, stellt Venken fest, und hat damit eine weitere Gemeinsamkeit herausgefunden: âDie Bevölkerung nĂŒtzte ihre Möglichkeiten, das System zu sprengen und zu ihrem Nutzen zu Ă€ndern.â Auch in Polen versuchte die Bevölkerung, ihre Autonomie zu vergröĂern, in dem sie deutschsprachige Privatschulen grĂŒndete, auf die der polnische Staat weniger Einfluss hatte.
Selbst Kind an der Grenze
Dass sich Machteld Venken mit Grenzgebieten beschĂ€ftigt, scheint auch einen biografischen Hintergrund zu haben, ist sie doch selbst in Belgien an der Grenze zu den Niederlanden aufgewachsen. Sie erinnert sich an zahlreiche hollĂ€ndische Schulkolleginnen und -kollegen, Kinder âwohlhabender hollĂ€ndischer Migranten, die in Belgien Steuervorteile genossenâ.
âDie Bevölkerung nutzte ihre Möglichkeiten, das System zu sprengen.â
Von der Geige ĂŒber Odessa nach Wien
Venkens Weg zur Geschichte fĂŒhrte ĂŒber die Slawistik und begann mit Geigennoten. Anfang der 1990er-Jahre reisen ihre Eltern nach Russland. Die GeigennotenbĂŒcher, die sie ihrer Tochter von dieser Reise mitbringen, werden von deren Geigenlehrerin hoch geschĂ€tzt und sind viele Jahre im Einsatz. Das einzige Manko: sie sind auf Russisch geschrieben. Mithilfe von WörterbĂŒchern aus der öffentlichen BĂŒcherei versucht die SchĂŒlerin die BĂŒcher zu ĂŒbersetzten und entwickelt so immer mehr Interesse und Begeisterung fĂŒr die russische Sprache. SchlieĂlich entscheidet sich fĂŒr ein Studium der Slawistik. Was zur damaligen Zeit nicht gerade als Mainstream gilt. âDie Abteilung fĂŒr Slawistik der UniversitĂ€t Leuven war sehr klein und wir Studierenden galten als Exotenâ, erinnert sie sich.
Bei einem Sommersprachkurs 1999 in Odessa lernt Venken Land und Menschen besser kennen und damit wĂ€chst auch ihr Interesse an der Kultur und Geschichte Osteuropas. So erzĂ€hlt ihr etwa die alte Dame, bei der sie wohnt, von ihrem Leben als Arbeiterin beim Verlegen von Eisenbahnschienen durch Sibirien, davon, wie sie in ZĂŒgen im sibirischen Permafrost gelebt hat. Hoch motiviert kehrt die Studentin an ihre HeimatuniversitĂ€t zurĂŒck.
Die folgende steile Wissenschaftskarriere bezeichnet sie als âSchneeballeffektâ: âIch habe mich verbessert, habe ein Stipendium bekommen, mich wieder verbessert. Ich habe gemerkt, dass ich gut bin und hatte den Hunger, mehr zu wissen und weiter zu gehenâ, erlĂ€utert sie die Dynamik. Nach dem Master in Slawistik macht die heute 38-JĂ€hrige einen âMaster in European Studiesâ im polnischen Krakau. Nach dem Abschluss des Doktorats in Geschichte an der UniversitĂ€t Leuven, verbringt sie drei Jahre als Postdoktorandin in Warschau.
2011 kommt Venken schlieĂlich mit einer Lise-Meitner-Förderung des FWF nach Wien. ZunĂ€chst am Ludwig Boltzmann Institut fĂŒr EuropĂ€ische Geschichte, spĂ€ter am Institut fĂŒr OsteuropĂ€ische Geschichte der UniversitĂ€t Wien erforscht sie Kriegserinnerungen und Nationalisierungsstrategien in Grenzregionen. Danach folgt ein Elise-Richter-Projekt und schlieĂlich das Citizen-Science-Projekt âGrenzen. Ein Austausch lokaler Expertisen auf globalem Levelâ, das sie im FrĂŒhjahr diesen Jahres abgeschlossen hat. Mit dieser Programmschiene finanziert der FWF inhaltlich und methodisch geeignete Erweiterungsprojekte von bereits geförderten FWF-Projekten, die mittels Citizen-Science-Komponenten ausgebaut werden sollen. Unter Citizen Science versteht man in diesem Zusammenhang vor allem die aktive Einbindung von BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern und deren Wissen, Ressourcen und Engagement in wissenschaftliche Forschung und wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn.
Weltkonferenz der Grenzgebietsforschung
Unter anderem mit Mitteln der Citizen-Science-Förderung organisierte Venken die âAssociation for Borderlands Studies World Conferenceâ, die im Juli 2018 in Wien und Budapest stattfand. Der Verein von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich weltweit mit Grenzregionen beschĂ€ftigen, organisiert alle vier Jahre eine Weltkonferenz. Das 100. JubilĂ€umsjahr zum Ende der Habsburgermonarchie nahm Venken zum Anlass, die Konferenz, die gleichzeitig in den beiden StĂ€dten abgehalten wurde, zum Begegnungsraum zwischen Forschenden und Studierenden zu machen, die heute im Gebiet der ehemaligen Habsburgermonarchie studieren.
Blick zurĂŒck erfĂŒllt einen Zweck
Machteld Venken wollte in ihrem Projekt unter anderem herausfinden, inwieweit die Habsburgermonarchie in FamilienerzĂ€hlungen heute noch vorkommt. Die Daten mĂŒssen noch fertig ausgewertet werden. Aber was sie jetzt schon sagen kann: âStudierende aus RumĂ€nien, Serbien, der Ukraine und Polen, jenen LĂ€ndern, die nur teilweise zur k.u.k. Monarchie gehörten, haben sich besonders oft auf die Habsburgerzeit bezogen, um damit zeitgenössische regionale Differenzen innerhalb ihrer LĂ€nder zu erklĂ€renâ, erzĂ€hlt die Historikerin.
Bis Ende Mai diesen Jahres pendelte die gebĂŒrtige Belgierin zwischen Wien, wo ihre Familie lebt, und Jena, wo sie am âImre KertĂ©sz Kollegâ, einem Institut fĂŒr Advanced Studies mit Fokus auf osteuropĂ€ische Geschichte des 20. Jahrhunderts, ihre fertige Habilitation in Buchform brachte.
Grenzziehung in BrĂŒssel
Seit 1. Juni 2019 arbeitet Venken mit Mitteln eines Belgischen Citizen Science Grants an ihrem Projekt âBordering Brusselsâ an der Freien UniversitĂ€t BrĂŒssel (VUB). Anlass ist das JubilĂ€umsjahr 2020, in dem sich die Unterzeichnung der ersten Belgischen Staatsreform zum fĂŒnfzigsten Mal jĂ€hrt. Dieser folgten weitere fĂŒnf Reformen. Heute ist Belgien ein Cluster von Regionen mit Entscheidungsautonomie in bestimmten Bereichen. âDie politische Geschichte der Grenzziehung des Landes und der Stadt BrĂŒssel sind bereits geschrieben, aber ich untersuche die Frage, wie die Bewohnerinnen und Bewohner diesen Grenzziehungsprozess erlebt haben, wo sie kooperiert oder Widerstand geleistet habenâ, erlĂ€utert die Historikerin ihr aktuelles Forschungsprojekt.
Ausganspunkt sind Daten der Belgischen NGO âBruxelles nous appartientâ, die in den vergangenen 15 Jahren mĂŒndliche Quellen von BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern gesammelt hat. Die Historikerin hat ein Forschungstool entwickelt, mit deren Hilfe Laiinnen und Laien diese Daten analysieren können. âDabei entdecken sie möglicherweise neue Forschungsfragen dazu, wo etwa Bewohnerinnen und Bewohner Grenzen wahrgenommen haben und wahrnehmen und warum diese Grenzen fĂŒr sie Bedeutung habenâ, nennt sie ihre Vision einer Dynamik in ihrem Citizen-Science-Projekt.
Zur Person
Machteld Venken studierte Slawistik, Geschichte und Wirtschaftspolitik an der UniversitĂ€t Leuven in Belgien und machte einen Master in European Studies an der UniversitĂ€t Krakau. Sie absolvierte Forschungsaufenthalte in Warschau. Mit einer Lise-Meitner-Förderung des FWF kam sie 2011 nach Wien. Bis Mitte 2018 arbeitete sie an ihrem Elise-Richter-Projekt am Institut fĂŒr OsteuropĂ€ische Geschichte der UniversitĂ€t Wien. Venken organisierte unter anderem mit Mitteln des Citizen-Science-Programmes des FWF die Weltkonferenz der Grenzgebietsforschung, die im Juli 2018 in Wien und Budapest stattfand. Zurzeit arbeitet sie an der Freien UniversitĂ€t BrĂŒssel an dem Citizen-Science-Projekt âBordering Brusselsâ, gefördert von der Belgischen Forschungsstiftung Innoviris. Die Forschungsschwerpunkte der 38-JĂ€hrigen sind die Sozial- und Kulturgeschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert, Vergleichende Nationalismusstudien, Komparatistik und Kulturtransfer, Migration, Grenzregionen, Geschichte der Kindheit und mĂŒndliche Geschichte.