Die Historikerin und Slawistin Machteld Venken betreibt seit vielen Jahren Grenzforschung. Mit Unterstützung des FWF hat sie die Nationalisierungspolitik der Zwischen- und Nachkriegszeit in zwei Grenzregionen untersucht. Im Fokus dabei standen die Jüngsten. © Peter Rigaud

Europa blickt auf ein Jahrhundert zurück, in dem sich immer wieder Grenzen verschoben und nationale Zugehörigkeiten verändert haben. Machteld Venken untersuchte in ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Elise-Richter-Projekt die Nationalisierung von Kindern und Jugendlichen, die in annektierten Grenzregionen aufgewachsen sind. Neu dabei ist nicht nur der Fokus auf das Kind, sondern auch ein Zeit-Raum-Vergleich von zwei Grenzgebieten: Eupen-St. Vith-Malmedy in Belgien und Oberschlesien in Polen. Beide ehemals deutschen Gebiete fielen nach dem Ersten Weltkrieg jeweils an Belgien und Polen, wurden während des Zweiten Weltkrieges wieder von Deutschland annektiert und gehörten nach Kriegsende erneut zu belgischem beziehungsweise polnischem Staatsgebiet.

Nationalisierung der Kinder

Die Eingliederung der Ostkantone in Belgien und Oberschlesiens in Polen führte häufig zu Spannungen: „Die Regierungen begegneten der Bevölkerung dieser Regionen angesichts pro-deutscher Stimmungen mit Misstrauen. Sie konzentrierten ihre Nationalisierungsmaßnahmen daher auf den politisch noch formbaren Nachwuchs“, erklärt die Historikerin der Universität Wien. Die Ausgangssituation war dabei in beiden Regionen unterschiedlich: „Belgien entstand bereits 1830 und war einer der liberalsten Staaten weltweit. Man konnte sowohl die Sprache als auch die Schule für seine Kinder selbst wählen“, schildert Machteld Venken die damaligen Verhältnisse ihres Heimatlandes. „Polen wurde hingegen erst 1918 unabhängig und bewegte sich schon 1926 in Richtung Autokratie. Das Land war damit beschäftigt, seine eigene Identität zu finden.“

„Das Grenzkind hatte als Modellbürger eine wichtige Rolle.“ Machteld Venken

Das „Grenzkind“

So unterschiedlich diese beiden Grenzgebiete waren, eine wesentliche Gemeinsamkeit konnte die Wissenschaftlerin herausfiltern: Das „Grenzkind“ hatte in beiden Gesellschaften eine bedeutende Rolle, galt es doch als „Modellbürger“ des neuen Staates. In beiden Gebieten war die Ausbildung der Kinder ein zentrales Instrument, um nationale Zugehörigkeit zu bilden: „Viele Lehrerinnen und Lehrer, die während des Ersten Weltkrieges im Grenzgebiet unterrichtet hatten, wurden nach dem Krieg entlassen und durch Lehrkräfte aus dem Landesinneren ersetzt. Sie lehrten in Landessprache und hatten den Auftrag, mit „nationalen Werten“ zu arbeiten“, nennt die Historikerin ein Beispiel.

Internationale Einflüsse, Macht und Geld

Es zeigte sich jedoch auch, dass der Einfluss des Nationalstaates auf die Grenzgebiete begrenzt war. Zum einen gab es internationale Einflüsse. „Man hat die Probleme der Verhandlungstische in Versailles in die Grenzregionen katapultiert“, bringt es Venken auf den Punkt. Zum anderen gab es weitere einflussreiche Faktoren wie Macht und Geld. Mit der Unabhängigkeit 1918 wollte der polnische Staat die

„Geld, Prestige und Grundbesitz waren Machtfaktoren.“ Machteld Venken

Anzahl der deutschen Schulen in der polnisch-deutschen Grenzregion reduzieren. Als Grundlage für die Entscheidung, welches Kind in welche Schule geht, sollten vom Völkerbund beauftragte Sprachtests dienen. Das Ergebnis war jedoch, dass es viel mehr Anmeldungen in deutschsprachigen Schulen als deutschsprachige Kinder gab. „Deutschsprachige Schulen hatten einfach ein höheres Prestige“, erklärt die Wissenschaftlerin diesen Umstand. In Polen gab es außerdem lokale Macht-Magnaten, die der Bevölkerung Arbeit und ihren Kindern einen Platz in der deutschsprachigen Schule anboten. „Geld, Prestige und Grundbesitz waren Machtfaktoren, die für die Grenzregion eine Rolle spielten“, sagt Venken.

Das „Grenzkind“ hatte in beiden Grenzgebieten eine wichtige Rolle, galt es doch als „Modellbürger“ des neuen Staates. Im Bild eine deutschsprachige Schulklasse einer bilingualen Grundschule im Oberschlesischen Lubliniec 1929. © Schulchronik, Archiv der Grundschule Lubliniec

Bevölkerung sprengt das System

Schulen waren in beiden untersuchten Regionen ein zentraler Ort der nationalen Identitätsbildung. So galten zusätzliche Regeln für „Grenzkinder“. In der belgisch-deutschen Region gab es beispielsweise die Debatte, ab welcher Schulstufe der Unterricht in der zweiten Sprache beginnen solle. „In der Grenzregion sollte das bereits die erste Klasse sein. Im restlichen Belgien begann der Sprachunterricht in der dritten Klasse beziehungsweise in Flandern in der fünften. In der Grenzregion verschob sich der Beginn jedoch binnen acht Jahren von der ersten zur fünften Klasse“, stellt Venken fest, und hat damit eine weitere Gemeinsamkeit herausgefunden: „Die Bevölkerung nützte ihre Möglichkeiten, das System zu sprengen und zu ihrem Nutzen zu ändern.“ Auch in Polen versuchte die Bevölkerung, ihre Autonomie zu vergrößern, in dem sie deutschsprachige Privatschulen gründete, auf die der polnische Staat weniger Einfluss hatte.

Selbst Kind an der Grenze

Dass sich Machteld Venken mit Grenzgebieten beschäftigt, scheint auch einen biografischen Hintergrund zu haben, ist sie doch selbst in Belgien an der Grenze zu den Niederlanden aufgewachsen. Sie erinnert sich an zahlreiche holländische Schulkolleginnen und -kollegen, Kinder „wohlhabender holländischer Migranten, die in Belgien Steuervorteile genossen“.

„Die Bevölkerung nutzte ihre Möglichkeiten, das System zu sprengen.“ Machteld Venken

Von der Geige über Odessa nach Wien

Venkens Weg zur Geschichte führte über die Slawistik und begann mit Geigennoten. Anfang der 1990er-Jahre reisen ihre Eltern nach Russland. Die Geigennotenbücher, die sie ihrer Tochter von dieser Reise mitbringen, werden von deren Geigenlehrerin hoch geschätzt und sind viele Jahre im Einsatz. Das einzige Manko: sie sind auf Russisch geschrieben. Mithilfe von Wörterbüchern aus der öffentlichen Bücherei versucht die Schülerin die Bücher zu übersetzten und entwickelt so immer mehr Interesse und Begeisterung für die russische Sprache. Schließlich entscheidet sich für ein Studium der Slawistik. Was zur damaligen Zeit nicht gerade als Mainstream gilt. „Die Abteilung für Slawistik der Universität Leuven war sehr klein und wir Studierenden galten als Exoten“, erinnert sie sich.

Bei einem Sommersprachkurs 1999 in Odessa lernt Venken Land und Menschen besser kennen und damit wächst auch ihr Interesse an der Kultur und Geschichte Osteuropas. So erzählt ihr etwa die alte Dame, bei der sie wohnt, von ihrem Leben als Arbeiterin beim Verlegen von Eisenbahnschienen durch Sibirien, davon, wie sie in Zügen im sibirischen Permafrost gelebt hat. Hoch motiviert kehrt die Studentin an ihre Heimatuniversität zurück.

Die folgende steile Wissenschaftskarriere bezeichnet sie als „Schneeballeffekt“: „Ich habe mich verbessert, habe ein Stipendium bekommen, mich wieder verbessert. Ich habe gemerkt, dass ich gut bin und hatte den Hunger, mehr zu wissen und weiter zu gehen“, erläutert sie die Dynamik. Nach dem Master in Slawistik macht die heute 38-Jährige einen „Master in European Studies“ im polnischen Krakau. Nach dem Abschluss des Doktorats in Geschichte an der Universität Leuven, verbringt sie drei Jahre als Postdoktorandin in Warschau.

2011 kommt Venken schließlich mit einer Lise-Meitner-Förderung des FWF nach Wien. Zunächst am Ludwig Boltzmann Institut für Europäische Geschichte, später am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien erforscht sie Kriegserinnerungen und Nationalisierungsstrategien in Grenzregionen. Danach folgt ein Elise-Richter-Projekt und schließlich das Citizen-Science-Projekt „Grenzen. Ein Austausch lokaler Expertisen auf globalem Level“, das sie im Frühjahr diesen Jahres abgeschlossen hat. Mit dieser Programmschiene finanziert der FWF inhaltlich und methodisch geeignete Erweiterungsprojekte von bereits geförderten FWF-Projekten, die mittels Citizen-Science-Komponenten ausgebaut werden sollen. Unter Citizen Science versteht man in diesem Zusammenhang vor allem die aktive Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern und deren Wissen, Ressourcen und Engagement in wissenschaftliche Forschung und wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn.

Weltkonferenz der Grenzgebietsforschung

Unter anderem mit Mitteln der Citizen-Science-Förderung organisierte Venken die „Association for Borderlands Studies World Conference“, die im Juli 2018 in Wien und Budapest stattfand. Der Verein von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich weltweit mit Grenzregionen beschäftigen, organisiert alle vier Jahre eine Weltkonferenz. Das 100. Jubiläumsjahr zum Ende der Habsburgermonarchie nahm Venken zum Anlass, die Konferenz, die gleichzeitig in den beiden Städten abgehalten wurde, zum Begegnungsraum zwischen Forschenden und Studierenden zu machen, die heute im Gebiet der ehemaligen Habsburgermonarchie studieren.

Blick zurück erfüllt einen Zweck

Machteld Venken wollte in ihrem Projekt unter anderem herausfinden, inwieweit die Habsburgermonarchie in Familienerzählungen heute noch vorkommt. Die Daten müssen noch fertig ausgewertet werden. Aber was sie jetzt schon sagen kann: „Studierende aus Rumänien, Serbien, der Ukraine und Polen, jenen Ländern, die nur teilweise zur k.u.k. Monarchie gehörten, haben sich besonders oft auf die Habsburgerzeit bezogen, um damit zeitgenössische regionale Differenzen innerhalb ihrer Länder zu erklären“, erzählt die Historikerin.

Bis Ende Mai diesen Jahres pendelte die gebürtige Belgierin zwischen Wien, wo ihre Familie lebt, und Jena, wo sie am „Imre Kertész Kolleg“, einem Institut für Advanced Studies mit Fokus auf osteuropäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, ihre fertige Habilitation in Buchform brachte.

Grenzziehung in Brüssel

Seit 1. Juni 2019 arbeitet Venken mit Mitteln eines Belgischen Citizen Science Grants an ihrem Projekt „Bordering Brussels“ an der Freien Universität Brüssel (VUB). Anlass ist das Jubiläumsjahr 2020, in dem sich die Unterzeichnung der ersten Belgischen Staatsreform zum fünfzigsten Mal jährt. Dieser folgten weitere fünf Reformen. Heute ist Belgien ein Cluster von Regionen mit Entscheidungsautonomie in bestimmten Bereichen. „Die politische Geschichte der Grenzziehung des Landes und der Stadt Brüssel sind bereits geschrieben, aber ich untersuche die Frage, wie die Bewohnerinnen und Bewohner diesen Grenzziehungsprozess erlebt haben, wo sie kooperiert oder Widerstand geleistet haben“, erläutert die Historikerin ihr aktuelles Forschungsprojekt.

Ausganspunkt sind Daten der Belgischen NGO „Bruxelles nous appartient“, die in den vergangenen 15 Jahren mündliche Quellen von Bürgerinnen und Bürgern gesammelt hat. Die Historikerin hat ein Forschungstool entwickelt, mit deren Hilfe Laiinnen und Laien diese Daten analysieren können. „Dabei entdecken sie möglicherweise neue Forschungsfragen dazu, wo etwa Bewohnerinnen und Bewohner Grenzen wahrgenommen haben und wahrnehmen und warum diese Grenzen für sie Bedeutung haben“, nennt sie ihre Vision einer Dynamik in ihrem Citizen-Science-Projekt.

Zur Person

Machteld Venken studierte Slawistik, Geschichte und Wirtschaftspolitik an der Universität Leuven in Belgien und machte einen Master in European Studies an der Universität Krakau. Sie absolvierte Forschungsaufenthalte in Warschau. Mit einer Lise-Meitner-Förderung des FWF kam sie 2011 nach Wien. Bis Mitte 2018 arbeitete sie an ihrem Elise-Richter-Projekt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Venken organisierte unter anderem mit Mitteln des Citizen-Science-Programmes des FWF die Weltkonferenz der Grenzgebietsforschung, die im Juli 2018 in Wien und Budapest stattfand. Zurzeit arbeitet sie an der Freien Universität Brüssel an dem Citizen-Science-Projekt „Bordering Brussels“, gefördert von der Belgischen Forschungsstiftung Innoviris. Die Forschungsschwerpunkte der 38-Jährigen sind die Sozial- und Kulturgeschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert, Vergleichende Nationalismusstudien, Komparatistik und Kulturtransfer, Migration, Grenzregionen, Geschichte der Kindheit und mündliche Geschichte.