Strategien: Randarbeitszeiten und Kinder vor dem Fernseher parken
Welche Strategien wählten Eltern, um den Spagat zwischen Homeoffice, Homeschooling und Familienversorgung zu schaffen? Die Soziologin erzählt von Frauen, deren Arbeitstag um vier Uhr früh beginnt, damit sie schon einmal drei Stunden arbeiten können, bevor sie den Rest der Familie wecken, oder von Müttern, die während ihrer Videokonferenzen die Kinder im Nebenzimmer vor dem Fernseher parken, um den Eindruck zu erwecken, alles laufe bestens. „Wenn dem aber so wäre, bräuchte man ja keine Schulen und Betreuungseinrichtungen“, sagt Ulrike Zartler und sieht in dieser Diskussion eine klare Abwertung der Bildungsberufe. Hier bringt sie folgendes Beispiel: „Würden Sie einer Kindergartenpädagogin vertrauen, die behauptet, sie könne ihre Kinder hervorragend betreuen, während sie nebenbei E-Mails beantwortet und ein paar Telefonkonferenzen führt? Das ist genau die Situation, in der die Eltern im Homeoffice waren.“
Erschöpftes Durchwurschteln im Herbst
Nach der ersten Phase der Pandemie im Frühjahr gab es für viele Eltern auch im Sommer nicht wirklich eine Erholungsphase: Der Urlaub war aufgebraucht, Betreuungsnetzwerke wie jene mit Großeltern waren bereits im März zusammengebrochen. Im Herbst kamen zu der Erschöpfung der Eltern, die bereits im Frühsommer deutlich erkennbar war, noch Resignation und Lethargie hinzu. „Ich kann zwar nicht mehr, aber ich kann nichts dagegen machen und wurschtle mich durch“, bringt Zartler diese Stimmung auf den Punkt. Als zusätzlicher Stressfaktor kamen zum Schulstart noch gestiegene Leistungsanforderungen dazu: Nun sollte im Unterricht alles aufgeholt werden, was versäumt wurde. „Manche Eltern waren wirklich verzweifelt. Die zusätzliche Rolle als Lehrerin oder Lehrer hat viele massiv überfordert: inhaltlich, didaktisch und in der Motivierung der Kinder“, erzählt Zartler.
Sorge um Bildungschancen und psychische Probleme der Kinder
Im Herbst nahmen die Sorgen der Eltern noch einmal stark zu: einerseits was das Schulische und die Bildungschancen anbelangt, andererseits aber auch, was die psychische Verfassung der Kinder betrifft. „Manche Eltern waren verzweifelt, weil die Kinder Anzeichen psychischer Belastung zeigten wie Depressionen, Aggressionsausbrüche, Essstörungen, Bettnässen oder Schlafwandeln“, schildert die Kindheitssoziologin.
Jeder zweite Schüler leidet an depressiven Symptomen
Eine aktuelle Studie der Donau-Universität Krems von Anfang Februar 2021 bestätigt diesen Befund mit alarmierenden Zahlen: Jeder zweite Schüler leidet unter depressiven Symptomen wie Depressionen, Ängsten und Schlafstörungen. Immerhin sprechen wir hier von etwa 1,2 Millionen Kindern und Jugendlichen. Besonders besorgniserregend: 16 Prozent der insgesamt 3.052 befragten Schülerinnen und Schüler haben suizidale Gedanken. Das ist ein deutlicher Anstieg gegenüber den letzten verfügbaren Daten. Ebenfalls bedenklich: Im Vergleich zu 2018 benutzten Schülerinnen und Schüler im Jahr 2020 ihr Handy doppelt so häufig, nämlich mindestens fünf Stunden täglich. Und das zusätzlich zu der Bildschirmzeit, die sie im Distance-Learning verbringen. Vorstudien haben gezeigt, dass mit steigender täglicher Nutzung des Handys auch psychische Beschwerden zunehmen. Die Autorinnen und Autoren der Studie sehen „dringenden Handlungsbedarf“ und fordern psychische Betreuung sowie mehr körperliche Bewegung für die Kinder und Jugendlichen.
Besonders betroffen: Alleinerziehende
Es sind die Eltern, die diese psychischen Probleme ihrer Kinder auffangen müssen – und das in einer Situation, in der sie selbst belastet sind: von Existenzängsten, Einkommenseinbußen, der Sorge um die eigenen alten Eltern, um die sich viele kümmern, und der andauernden Unsicherheit, wie es weitergeht. Wie stark die Überlastung war und ist, hänge dabei stark von den Rahmenbedingungen ab, erklärt die Wissenschaftlerin. Besonders betroffen seien jene Gruppen, die schon vor der Krise über geringe Ressourcen verfügten: vor allem Alleinerziehende und sozial schwache Familien mit wenig Wohnraum. Aber auch Familien, in denen Konfliktpotenzial und Gewaltbereitschaft hoch sind.
Pandemie als Brennglas der Gesellschaft
„Die Pandemie hat die sozialen Ungleichheiten verstärkt. Sie hat offengelegt, welche Gruppen besonders vulnerabel sind und welche Bereiche der Gesellschaft schlecht funktionieren, wie etwa ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse und ein Schulsystem, in dem Schülerinnen und Schüler zurückgelassen werden“, stellt die Expertin fest und bestätigt damit den Befund des Sozialwissenschaftlers Bernhard Kittel der Universität Wien. Er untersucht in seiner Langzeitstudie „Austrian Corona Panel“ seit Beginn der Krise, wie es den Menschen in Österreich mit der Pandemie geht und kommt dabei zu dem zentralen Schluss: „Die Pandemie hat die Spaltungen in der Gesellschaft verstärkt.“
Streit zwischen Partnern um die Hausarbeit
Diese Krise hat Familien ganz klar an ihre Grenzen gebracht: Zu Rollenüberlastung und Existenzängsten kam eine deutliche Zunahme an Konflikten – sowohl zwischen Eltern und Kindern als auch den Eltern untereinander. Häufigster Streitpunkt zwischen den Partnern: wer wie viel der Mehrbelastung übernimmt. Entgegen allen anfänglichen fast euphorischen Hoffnungen im Frühling 2020, die Krise könne Rollenverteilungen verrücken, zeigen alle diesbezüglichen Studien, dass bestehende Verhältnisse eher noch zementiert wurden: Wo die Mütter zuvor die Hauptlast der Familienarbeit schulterten, trugen sie auch in der Krise die Mehrbelastung.
Konfliktpotenzial: aufgeschobene Scheidungen
Ein weiterer wichtiger Effekt, der sich laut Zartler in jeder Krise zeige: Menschen müssen Lebensentscheidungen wie Eheschließungen, Scheidungen oder die Familienplanung infrage stellen. Die Unsicherheit oder der Einbruch des Familieneinkommens wegen Kurzarbeit oder Jobverlust führen beispielsweise dazu, dass Scheidungen aufgeschoben werden und man weiter miteinander unter einem Dach lebt. „Da besteht ein hohes Konfliktpotenzial, psychische und physische Gewalt können in solchen Familien zu einem massiven Problem werden“, sagt die Familienexpertin. Die beengte Raumsituation in vielen Familien führe dazu, dass Kinder auch viel eher elterlichen Streit miterleben müssen.
„Neue Normalität“ – was Familien brauchen
Auch ein Jahr nach dem ersten Lockdown leben Österreichs Familien noch immer in einem Ausnahmezustand – oftmals als „neue Normalität“ bezeichnet. Die Unsicherheiten bleiben. Was die Familien brauchen? Mehr Klarheit, funktionierende Betreuungseinrichtungen und das politische Bemühen, diese zur Verfügung zu stellen, finanzielle, organisatorische und rechtliche Unterstützung wie Homeoffice-Regelungen. Aber auch etwas, was politisch schnell umsetzbar wäre: eine wertschätzende Kommunikation seitens der Politik. „Eltern können ihre Berufe nur ausüben, wenn sie ihre Kinder gut versorgt wissen und diese nicht nur in einer Betreuung geduldet sind. Sie möchten ohne schlechtes Gewissen das Betreuungsangebot für ihre Kinder in Anspruch nehmen können“, stellt Zartler fest.
Stigmatisierte Eltern und Kinder
Eine Anspielung auf Bundeskanzler Kurz, der bei der Pressekonferenz am 21. April 2020 meinte, es sei „keine Schande“, seine Kinder in Betreuung zu geben, „wenn man es nicht mehr aushält“. Das offenbart nicht nur eine Geringschätzung von Bildungseinrichtungen und Bildungsberufen, sondern lässt auch jegliche Anerkennung den Eltern gegenüber vermissen, die in der Krise wichtige Aufgaben der Gesellschaft übernommen haben. „Damit wurde kommuniziert, dass nur völlig überforderte Eltern ihre Kinder in die Betreuung schicken. Das stigmatisiert sowohl Eltern als auch ihre Kinder“.