Junger Mann liest in einem Notizbuch, um zu lernen, auf einem Basketballplatz an einer UniversitÀt.
Eine klinische Studie an Gesunden konnte zeigen, dass Antidepressiva die Lern- und AufnahmefĂ€higkeit verbessern. Dieses Wissen eröffnet neue Möglichkeiten in der Therapie von Depression. © Manu Prats / Westend61 / picturedesk.com

Babys saugen UmwelteinflĂŒsse in sich auf und nutzen sie, um zu lernen. Nie mehr im Leben ist unser Gehirn so aufnahmebereit und verdrahtungswillig. NeuroplastizitĂ€t heißt diese FĂ€higkeit des Gehirns, sich anzupassen, Neues zu verarbeiten und Aufgaben umzuverteilen, etwa wenn es zu einer körperlichen EinschrĂ€nkung oder Sinnesbehinderung kommt. Am anderen Ende dieser Aufnahmefreudigkeit stehen Menschen mit einer klinischen Depression, wie sie bei rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens einmal im Leben auftritt. „Sie sind niedergeschlagen, antriebslos, wie psychisch gelĂ€hmt, und manche werden deswegen lebensmĂŒde“, beschreibt Rupert Lanzenberger, Leiter des Neuroimaging Lab der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien, das Krankheitsbild.

Sogenannte SSRIs, kurz fĂŒr selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, gehören zu den hĂ€ufig verschriebenen Antidepressiva. Sie wirken in der Regel nach einigen Wochen und zeigen wenige Nebenwirkungen. Wie genau die Medikamente im Gehirn das Neurotransmitter-Regime und neuronale Netzwerke verĂ€ndern, war bisher nur teilweise im menschlichen Gehirn erforscht. Gefördert vom Wissenschaftsfonds FWF wurde nun an der Medizinischen UniversitĂ€t Wien eine Doppelblind-Studie an Gesunden durchgefĂŒhrt. Mit bildgebenden Verfahren ist es einem Team um Projektleiter Lanzenberger gelungen zu zeigen, dass SSRIs die NeuroplastizitĂ€t ankurbeln und so bestimmte Lernprozesse im Gehirn erleichtern. Das eröffnet neue Möglichkeiten, alternative oder schneller wirksame Medikamente an den Start zu bringen.

Die Umlernschwelle senken

Der Neurotransmitter Serotonin bestimmt mit, was im Gehirn im Laufe des Lebens gespeichert oder verĂ€ndert werden soll. Verschiedene Tierversuche unterstĂŒtzen die Theorie, dass SSRIs die Schwelle dafĂŒr absenken und so die NeuroplastizitĂ€t erhöhen: „Im Prinzip kann jedes GesprĂ€ch die Mikrostruktur unseres Gehirns verĂ€ndern, und Serotonin moduliert im Gehirn, wie stark dieses auf Umgebungsreize neuroplastisch reagiert. Bei Erwachsenen wird nicht mehr jede Erfahrung so leicht abgespeichert, folglich Ă€ndern sich die neuronalen Mikrostrukturen des Gehirns nicht mehr so wie bei Kindern und Jugendlichen. Aber wenn sich beispielsweise unser Arbeitsweg durch eine Baustelle verĂ€ndert, mĂŒssen wir darauf reagieren. Wir lernen um, indem wir uns einen neuen Weg einprĂ€gen“, erklĂ€rt der Projektleiter.

Um nun zu untersuchen, ob Antidepressiva im Vergleich zu einem Placebo den Umlernprozess befördern, fĂŒhrte das Team um Rupert Lanzenberger eine sechswöchige Doppelblind-Studie mit 80 gesunden Probandinnen und Probanden durch. Mittels Magnetresonanztomografie wurden die Mikrostruktur, die funktionelle und strukturelle KonnektivitĂ€t sowie die Interaktion und AktivitĂ€t von Gehirnarealen gemessen, die bei GedĂ€chtnisprozessen von besonderer Bedeutung sind, wie etwa der Hippocampus und die Insula. DarĂŒber hinaus wurde mit Magnetresonanzspektroskopie die Konzentration des wichtigsten erregenden Neurotransmitters, Glutamat, und des wichtigsten hemmenden Neurotransmitters, Gamma-AminobuttersĂ€ure, in verschiedenen Gehirnregionen quantifiziert.

Wesentlicher Wirkmechanismus bestÀtigt

ZunĂ€chst wurden bei allen Probandinnen und Probanden die unbeeinflusste Vernetzung und die AktivitĂ€t der betreffenden Gehirnareale als auch die Konzentration von Neurotransmittern in einer Ausgangsuntersuchung gemessen. Anschließend lernte eine Gruppe tĂ€glich in einer konzentrierten Aufgabe, unbekannte Gesichter paarweise zusammenzufĂŒhren, und die andere Gruppe, chinesische Schriftzeichen mit Worten zu verknĂŒpfen. Nach einer Vergleichsmessung begann die Einnahme von SSRIs oder Placebos ĂŒber drei Wochen samt begleitendem Umlernprogramm mit neuen Gesichtspaaren und Zeichen-Wort-Paaren. Abschließend erfolgte eine dritte Messung.

Die Hypothese der Forschenden hat sich bestĂ€tigt: SSRIs bewirken, dass neue ZusammenhĂ€nge leichter gespeichert werden, wie die sichtbaren VerĂ€nderungen im Gehirn belegen. „Die Erhöhung der NeuroplastizitĂ€t ist ein wesentlicher Wirkungsmechanismus von SSRIs“, betont Rupert Lanzenberger. Sie drehen das Gehirn sozusagen wieder auf Empfang fĂŒr neue VerknĂŒpfungen und erleichtern das Lösen von alten. „Letztlich scheint es bei der Therapie der Depressionen auch darum zu gehen, gelernte ZusammenhĂ€nge zu lösen und quasi eine neue Sicht auf die Welt zu gewinnen“, beschreibt der Gehirnforscher und ergĂ€nzt: „Wir sehen, dass die Medikation bei Depressionen oft nur der erste Schritt ist. Ebenfalls wichtig sind die begleitende Psychotherapie und verĂ€nderte Umwelterfahrungen, und diesen Vorgang können wir ebenfalls als eine Art Umlernprozess unter erhöhter PlastizitĂ€t sehen.“

In der Studie zeigte sich die erhöhte NeuroplastizitĂ€t bei Gabe von SSRIs im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich: „In den Bildgebungsdaten konnten wir eine verĂ€nderte Balance nachweisen. Manche Gebiete werden stĂ€rker gehemmt als andere, die Balance zwischen verschiedenen Hirngebieten Ă€ndert sich und auch die StĂ€rke der Kommunikation zwischen den Hirnarealen.“ SSRIs wirken also nicht direkt akut auf die Stimmung, sondern verĂ€ndern die EmpfĂ€nglichkeit fĂŒr Umlernprozesse und helfen so unter gĂŒnstigen Bedingungen aus der Depression heraus. Dieses Wissen kann genutzt werden fĂŒr andere Substanzen, welche die NeuroplastizitĂ€t erhöhen und schneller antidepressiv wirken könnten.


Rupert Lanzenberger ist assoziierter Professor fĂŒr Neurowissenschaften und Mediziner an der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen UniversitĂ€t Wien, wo er seit 2005 das Neuroimaging Lab leitet. Er arbeitet mit bildgebenden Verfahren, um molekulare und funktionelle Prozesse im Gehirn sichtbar zu machen, insbesondere bei psychiatrischen Erkrankungen und im Bereich der Psychopharmakologie. Die klinische Studie "Antidpressiva in Kombination mit Lernen fördern NeuroplastizitĂ€t" wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 300.000 Euro gefördert. Lanzenberger ist TrĂ€ger zahlreicher internationaler Forschungspreise und Mitglied der EuropĂ€ischen Akademie der Wissenschaften und KĂŒnste (EASA).


Publikationen

Reed MB, Vanicek T, Seiger R, et al.: Neuroplastic effects of a selective serotonin reuptake inhibitor in relearning and retrieval, in: NeuroImage 2021

Spurny B, Vanicek T, Seiger R, et al.: Effects of SSRI treatment on GABA and glutamate levels in an associative relearning paradigm, in: NeuroImage 2021

Spurny B, Seiger R, Moser P, et al.: Hippocampal GABA levels correlate with retrieval performance in an associative learning paradigm, in: NeuroImage 2020