Fahrradtour am Charles River Richtung Boston, Bewegung im Grünen ist hier allen sehr wichtig. © Elisabeth Reisinger

Eine Reihe von Top-Universitäten passiert der Charles River am Ende seines Weges in den Atlantik. Boston University. MIT. Und natürlich Harvard, die älteste Universität der Vereinigten Staaten.

Bücher, Bücher, Bücher

Die Freiheit und die Möglichkeiten, die man als Forschende an einer Institution wie Harvard genießt, manifestieren sich wohl in nichts so sehr wie in den schier unbegrenzten Ressourcen der Bibliotheken. Scheinbar kein Buch, egal aus welchem Fachbereich, egal in welcher Sprache, das hier nicht vorhanden ist. Dazu kommen Zugriffsmöglichkeiten auf alle wichtigen Online-Ressourcen. Und wenn doch einmal etwas nicht verfügbar sein sollte, gibt es eine Reihe hochkompetenter Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die helfen, das zu ändern. In den teils altehrwürdigen, teils hochmodernen Lesesälen lassen sich diese Materialien ungestört nahezu 24/7 studieren. Und braucht man eine Pause, kann man bei den rund um die Arbeitsplätze verteilten Puzzles entspannen oder die Arbeitsgruppendynamik bei Gesellschaftsspielen erproben. Auch abseits der Universität kommen Bibliophile nicht zu kurz. Bücherläden gibt es hier ebenso viele wie charmante Coffeeshops. Allgemein bietet der Raum um Boston mit dem beschaulichen Städtchen Cambridge, das de facto fast gänzlich aus Harvard Campus besteht, mit seinem europäischen Flair, dem umfangreichen kulturellen Angebot und den herrlichen Grünflächen eine enorme Lebensqualität – allerdings auch ebenso enorme Lebenskosten.

Forschungsreisen entlang der Ostküste

Doch ich bin nicht (nur) zum Kaffee trinken, Lesen und Radfahren hier, sondern in erster Linie aufgrund meiner Quellen, die sich auf verschiedene Archive im Nordosten der USA verteilen. Dies umfasst Material an meiner Gastuniversität Harvard, aber auch an der Boston University, wo meine Mitbewohnerin unterrichtet und mir daher eine private Führung geben kann, und in den Archiven des – von mir auch mehrmals im Konzert besuchten – Boston Symphony Orchestras, die neben Dokumenten zu Musikerinnen und Musikern und Konzerten auch einen Frack von Leonard Bernstein besitzen. Meine Recherchen führten mich außerdem an die Yale University, Harvards ewigem Lieblingsfeind im Football, und ganz aktuell nach New York City, wo ich Gelegenheit hatte, mit Musikern zu sprechen, die Goodman noch persönlich gekannt und mit ihm zusammen gespielt haben.

Und dann geht es plötzlich ganz schnell: COVID-19

Meinen Aufenthalt in New York breche ich am 13. März ab und kehre zurück nach Boston. Knapp zwei Wochen später ist die Zahl der COVID-19-Fälle allein in New York City auf ca. 20.000 gestiegen. Die Schwächen des „Landes der unbegrenzten Möglichkeiten“ werden rasch deutlich: Der Präsident ist vollkommen überfordert und hinterlässt bei seinen Pressekonferenzen maximale Konfusion. Die notwendigen Tests sind lange nicht für alle kostenfrei und auch nicht in gebotener Anzahl verfügbar. Die Maßnahmen, die letztlich auf Eigeninitiative einzelner Lokalpolitikerinnen und Lokalpolitiker, Institutionen und Unternehmen gesetzt werden, sind nicht abgestimmt und auch nicht so einfach zu realisieren, da hier viele keine finanzielle Absicherung haben oder weil die Schließung der Schulen bedeutet, dass Tausende Kinder die oft einzige warme Mahlzeit am Tag verlieren. Das Bedürfnis, sich mit Toilettenpapier einzudecken, scheint im Übrigen ein internationales Phänomen zu sein.

Zusammenhalt im Lokalen

Positiv stimmt mich hier aber der starke Zusammenhalt innerhalb der örtlichen Community: Es bilden sich Einkaufsgemeinschaften, über eine lokale Facebook-Gruppe werden Bedarfsgüter, Hilfsleistungen und motivierende Zusprüche getauscht. Die Menschlichkeit bleibt also auch in Zeiten des Social Distancing nicht auf der Strecke. Von Seiten der Universität kommt ebenso Unterstützung, die Professorinnen und Professoren haben jederzeit ein offenes Ohr. Ich fühle mich hier (noch) sicher, in einem gemütlichen Appartment, mit einer Mitbewohnerin und ihrem Mann, die ich mittlerweile als Familie betrachte, und natürlich mit unserer Katze Cookie – ein wichtiger emotional Support in diesen Tagen. Eine Forschungsreise nach Washington, DC an die Library of Congress, auf die ich mich sehr gefreut hatte, muss ich leider bis auf weiteres verschieben. Ich nutze die (noch?) freiwillige Quarantäne zum Abarbeiten des umfangreichen bisher gesammelten Materials und bin dabei in Gedanken bei meiner Familie und meinen Freunden weltweit.