Was Biofictions ĂŒber Gender erzĂ€hlen
FĂŒr Forschende stellen zeitgenössische biografische Fiktionen eine interessante Hybridform dar, die Elemente der literarischen Fiktion wie auch der Biografie vereint. âDieses Genre hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen erstaunlichen PopularitĂ€tsschub erlebtâ, sagt Julia Lajta-Novak. Was es fĂŒr die Literaturwissenschaft besonders aufschlussreich macht, sind die Spannungsfelder, in denen diese Biofictions stehen: zwischen Faktentreue und Erfindung, Identifikation und Verfremdung, RelationalitĂ€t und Handlungsmacht sowie Genretreue und -brechung.
âIch will wissen, wie biografische Fiktionen ĂŒber den Weg einer Figur verfĂŒgbare Gendernarrative aufgreifen, widerspiegeln oder brechenâ, erklĂ€rt Lajta-Novak von der UniversitĂ€t Wien. Ihre Hauptfragen in dem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt âDie KĂŒnstlerin im biografischen Roman: Gender und Genreâ sind: Wie werden historische KĂŒnstlerinnen im kulturellen GedĂ€chtnis erinnert â und wofĂŒr? Den theoretischen Unterbau liefert vor allem die gendertheoretische Biografieforschung.
Modelle weiblicher IdentitÀt
Lajta-Novak interessieren Figuren, die mehrfach behandelt wurden: etwa die Komponistin und Pianistin Clara Schumann. Anhand von Filmen ĂŒber ihr Leben lassen sich historische Gendervorstellungen exemplarisch nachzeichnen und gegenĂŒberstellen. âDer 1944 erschienene Film âTrĂ€umereiâ hat das Thema der Pflicht im Fokus. So sagt Clara Schumanns PflichtgefĂŒhl ihr, dass sie die Musik ihres Ehemanns propagieren mussâ, erklĂ€rt die anglistische Literaturwissenschaftlerin. In âSong of Loveâaus dem Jahr 1947 wird Clara Schumann als öffentlichkeitsscheue, ewig liebende Frau und Mutter gezeichnet. In âFrĂŒhlingssinfonieâ, 1983 erstausgestrahlt, fungiert sie hingegen als Sexidol. âGeliebte Claraâerschien im Jahr 2008. âDer Film erzĂ€hlt die Geschichte einer unabhĂ€ngigen, starken Frau, die sich durch alle Turbulenzen kĂ€mpft. Sie entscheidet sich gegen Johannes Brahms â der historischen Clara wird oft eine AffĂ€re mit ihm unterstellt â und fĂŒr ihre EigenstĂ€ndigkeitâ, erklĂ€rt Lajta-Novak.
Kulturhistorische Zeugnisse
Doch nicht nur solche Deutungsmuster geben viel ĂŒber ihre Entstehungszeit preis. Auch Auslassungen tun dies. Dies zeigen Werke ĂŒber die Dichterin Elizabeth Barret-Browning. Autor:innen der 1950er-Jahre sparten den Fakt aus, dass ihr zukĂŒnftiger Ehemann, mit dem sie heimlich nach Italien zog, sechs Jahre jĂŒnger war als sie â wohl, weil eine solche Verbindung nicht in das Frauenbild der Zeit passte. Auch in Werken ĂŒber das Leben von Nell Gwyn, Schauspielerin und MĂ€tresse des englischen Königs Karl II., kommen solche Auslassungen vor. So thematisieren manche Autor:innen nicht, dass Eleanor Gwyn wahrscheinlich schon jung als Prostituierte arbeiten musste.
Damit Biografien in Genrekonventionen passen, nahmen Autor:innen zudem oft Ănderungen vor. So enden historische Liebesromane hĂ€ufig mit einer Hochzeit â oder zumindest der Aussicht darauf. âEleanor Gwyn aber war nur eine von mehreren MĂ€tressen des Königs. Manche Romane machen es sich leicht. Sie enden genau zu dem Zeitpunkt, an dem König Karl II. und Nell Gwyn zusammenkommen und sie schwanger wird â und kurz bevor die zweite MĂ€tresse auf den Plan trittâ, erklĂ€rt Lajta-Novak. Dies passiert, um die Geschichte in das romantische ErzĂ€hlmuster einzupassen.
Genderpolitische Ideologien
Die Auswahl einer Figur, deren Leben in einer biografischen Fiktion behandelt wird, kann zudem auch eine genderpolitische Entscheidung sein. Exemplarisch zeigt dies James Miranda Barry. Geboren Ende des 17. Jahrhunderts als Margaret Ann Bulkley arbeitete Barry als MilitĂ€rchirurg. Erst nach dem Tod wurde bekannt, dass Barry als biologisch weiblich geboren wurde â also wahrscheinlich als Transgender lebte. Der 1977 erschienene Roman âThe Perfect Gentlemanâ erzĂ€hlt Barrys Geschichte unter einem feministischen Blickwinkel. Jenem einer Frau, die sich als Mann verkleidete, um in einer maskulin dominierten Welt Karriere zu machen. Im Jahr 1999 erschien der Roman âJames Miranda Barryâder queeren Autorin Patricia Duncker. In ihm lĂ€sst sie Barrys Geschlecht offen und spielt mit Pronomina. âDie Figur James Miranda Barry zeigt auch, welche Exemplar-Funktion historische Figuren erfĂŒllen können. So können historische, biografische Texte marginalisierten Gruppen einen Möglichkeitsraum eröffnen, um sich zu identifizierenâ, sagt Lajta-Novak.
Solche Beispiele zeigen, wie sich LebenserzĂ€hlungen historischer Figuren mit der Zeit Ă€ndern. Ein weiteres ist der 2021 erschienene Roman âHamnetâ. In ihm behandelt die Schriftstellerin Maggie OâFarrell â ganz im Sinne von âherstoryâ â, wie Agnes Shakespeare mit dem Tod ihres Sohnes Hamnet hadert. Dessen prominenter Vater bleibt in dem Werk namenlos. âDass vermeintliche historische Randfiguren in den literarischen Fokus rĂŒcken, zeigt, wie lebendig und zeitgenössisch das Genre der biografischen Fiktionen istâ, so Lajta-Novak.
Forschungsoutput
Vergangenes Jahr publizierte die Wissenschaftlerin ihre Erkenntnisse im European Journal of Life Writing gemeinsam mit ihrer Kollegin Eugenie Theuer. Im Herbst 2022 wird sie im Journal Biography das Paper âScreening Clara Schumann: Biomythography, Gender and the Relational Biopicâ veröffentlichen und gemeinsam mit der Kollegin CaitrĂona NĂ DhĂșill den Sammelband âImagining Gender in Biographical Fictionâ herausgeben.
Zur Person
Julia Lajta-Novak ist eine anglistische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Autorin und bekleidet zurzeit eine Laufbahn-Professur fĂŒr englische Literatur an der UniversitĂ€t Wien. Sie studierte Anglistik, Musik sowie Kulturmanagement in Wien, Edinburgh und London und forschte bereits am Kingsâ College London, den UniversitĂ€ten London und Oxford sowie der UniversitĂ€t Salzburg. FĂŒr ihre Forschung erhielt sie unter anderem den Theodor Körner Preis, den Dr. Maria Schaumayer Preis und den DOC Award der Stadt Wien. FĂŒr ihr Forschungsprojekt âPoesie des Sprechens: Britische Lyrik-Performance, 1965â2015â erhielt sie im Jahr 2020 den START-Preis des Wissenschaftsfonds FWF sowie den Consolidator Grant des EuropĂ€ischen Forschungsrats.