Wo sich Theorie und Experiment die Hand reichen
Metalle begegnen uns im Alltag meist als extrem widerstandsfähige Materialien. Doch viele Metalle sind an der Luft nicht stabil – sie reagieren mit Sauerstoff und bilden Oxide. Deren Eigenschaften sind extrem vielfältig. Einige sind chemisch sehr reaktionsträge, andere die ideale Grundlage für bestimmte chemische Reaktionen, manche perfekte Isolatoren, andere Supraleiter. Die Anwendungen reichen von Magnetfeldsensoren und elektronischen Bauelementen bis hin zu Brennstoffzellen. Dennoch sind die genauen Vorgänge an den Grenzflächen von Oxiden trotz jahrzehntelanger, intensiver Forschungen und drängender technischer Fragestellungen vielfach immer noch rätselhaft. Die Materialphysikerin Ulrike Diebold von der Technischen Universität Wien, international eine der führenden Forschungspersönlichkeiten auf diesem Gebiet, hat nun einen vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Spezialforschungsbereich zu diesem Thema ins Leben gerufen.
Beschreibung Atom für Atom
Dass bei Oxiden noch so viele Fragen offen seien, liege nicht an der Qualität der experimentellen Methoden, erklärt Diebolds Stellvertreter Georg Kresse: „Es gibt durchaus Experimente, in denen man sehr gute Kontrolle hat und genau weiß, was Atom für Atom vorgeht.“ Er spricht von der Rastertunnelmikroskopie, bei der eine Materialoberfläche mit einer feinen Nadel gescannt wird, wobei einzelne Atome sichtbar werden. Diese Experimente seien wichtig, doch die Vorgänge, die sich dabei beobachten ließen, entsprächen oft nicht dem, was in einem Material unter realistischen Bedingungen passiere. Gerade bei möglichen Anwendungen der Materialien in Batterien oder Brennstoffzellen sind die Vorgänge extrem komplex. „Unsere Frage ist: Wie können wir das überbrücken und die Lücke zwischen der genauen Beschreibung atomarer Vorgänge und den Vorgängen in der Praxis schließen?“, umreißt Kresse das Ziel. In der Gruppe hat sich der Begriff Handshake-Techniken durchgesetzt. Um sich der realen Situation anzunähern, braucht es den Handschlag zwischen wohldefinierten Grundlagenexperimenten, Experimenten in anwendungsnahen Situationen und Computersimulationen.
Erzeugung glatter Oxidschichten
Ein erster wichtiger Erfolg konnte soeben in einer experimentellen Arbeit erzielt werden. „Es ging dabei um die Erzeugung extrem glatter Schichten“, erklärt Teamkollege Michael Schmid. „Für manche industrielle Anwendungen sind ebene Oberflächen wichtig, etwa in der Halbleiterindustrie oder für die Erzeugung von Spiegeln für Hochtechnologieanwendungen. Die Frage war: Wie schaffe ich es, Schichten auf atomarer Ebene wirklich glatt zu machen?“
Normalerweise sind die Atome an Oxidoberflächen sehr stabil. „Sitzen sie erst einmal an ihrem Bindungsplatz, lassen sie sich nur durch starkes Aufheizen wegbewegen, was das Bauelement zerstören würde“, sagt Schmid. Doch bei Experimenten, in denen die Oberflächen verschieden hohen Sauerstoffkonzentrationen ausgesetzt wurden, konnten die Forschenden plötzlich eine Veränderung beobachten. „Irgendwann fiel unserer Kollegin Giada Franceschi etwas auf, dem wir nachgingen“, erzählt Schmid. Das Forschungsteam fand Strukturveränderungen, die davon abhingen, wie viel Sauerstoff vorhanden war. „Gehen diese Oxide in eine sauerstoffreiche oder sauerstoffarme Phase über, dann müssen sich die Atome umordnen. Und wenn sie sich bewegen, dann tun sie das oft so, dass sie dabei eine glattere Schicht bilden“, beschreibt der Physiker den Zugang. Die Methode bestehe also darin, die angebotene Menge an Sauerstoff zu variieren.
Allgemein anwendbar
Eine Besonderheit des Effekts ist, dass er mit völlig unterschiedlichen Oxiden funktioniert. Die Forschungsgruppe führte das Experiment mit einem Eisenoxid durch, außerdem mit einem Oxid der Metalle Lanthan, Strontium und Mangan und einem des Metalls Indium, die sehr unterschiedliche Eigenschaften haben – jedes Mal mit Erfolg. Es scheint sich also um einen sehr allgemeinen Effekt zu handeln, der noch dazu umkehrbar ist. Während man Rost, das vielleicht bekannteste Metalloxid, als stetig fortschreitendes Phänomen kennt, ist die Struktur von Eisenoxid auf mikroskopischer Ebene sehr komplex und ändert sich stetig, wenn mehr oder weniger Sauerstoff angeboten wird. Im konkreten Experiment wurde der Vorgang mehrmals wiederholt, wie Michael Schmid erklärt: „Da müssen alle Atome in Bewegung kommen. Wenn sie dann ohnehin schon in Bewegung sind, bilden sie die energetisch günstigste Oberfläche, und die günstigste ist die glatte.“
Die beiden Forscher betonen, dass das nicht nur für die Erzeugung glatter Flächen interessant ist, sondern auch für deren Vermeidung. Katalysatoren etwa sind am effizientesten, wenn sie eine möglichst große Oberfläche haben. „Man wünscht sich verästelte Strukturen mit Löchern und will verhindern, dass das passiert, was wir beobachtet haben“, sagt Michael Schmid. Das ist dank der neuen Erkenntnisse nun besser möglich.
Maschinenlernen als Gamechanger
Erklärtes Ziel des auf mehrere Jahre angelegten Spezialforschungsbereiches von internationalem Rang ist es, experimentelle Arbeit wie diese durch Computersimulationen zu ergänzen, um die Vorgänge noch genauer zu verstehen. Doch exakte Simulationen sind enorm aufwendig, weshalb man bei den Computermethoden ganz gezielt auf maschinelles Lernen setzt. Letzteres bedeutet für die Arbeit im Spezialforschungsbereich einen Durchbruch. „Wir sehen eine Beschleunigung mancher Rechnungen um das Tausendfache bis hin zum Hunderttausendfachen, bei gleichbleibender Qualität der Vorhersage“, so Kresse. Maschinelles Lernen ist gerade international ein riesiger Hype, aber: „Dass es als Brücke zwischen Experiment und Theorie eingesetzt wird, ist neu“, betont der Forscher.
Viele Anwendungen
Die möglichen Anwendungen der Ergebnisse seien vielfältig, sagt Schmid. Metalloxide haben als Katalysatoren, etwa für Brennstoffzellen, aber auch für piezoelektrische Bauelemente eine große Bedeutung. Auch die Kombination beider Methoden sei vielversprechend. Neben Oxiden von Eisen und exotischen Metallen wie Lanthan untersucht man auch Oxide aus Titan, Mangan, Kobalt, Strontium. Trotz der Relevanz für Hochtechnologieanwendungen wird aber der Grundlagencharakter der Arbeiten dieses Forschungsschwerpunktes betont. „Der Spezialforschungsbereich zielt darauf ab, Methodologien zu entwickeln und diese international zu etablieren“, sagt Kresse, der die Arbeiten nicht als industrienahe Forschung missverstanden wissen will. In der Grundlagenarbeit gibt es für die Teams von Kresse und Schmid mehr als genug zu tun.
Schwerpunktforschung auf internationalem Niveau
Der Spezialforschungsbereich TACO – Taming Complexity in Materials Modeling („Komplexität in Materialmodellierung zähmen“), ist in neun wissenschaftliche Teilprojekte unterteilt und wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit einer Million Euro pro Jahr gefördert. Geplant sind acht Jahre, wobei nach vier Jahren der Fortschritt begutachtet und dann über eine Fortführung entschieden wird. Der Start erfolgte 2021.
Publikationen
Franceschi G., Schmid M., Diebold U., Riva M.: Reconstruction changes drive surface diffusion and determine the flatness of oxide surfaces, in: Journal of Vacuum Science & Technology A 40, 2022
Shi J., Li H., Genest A., Zhao W., Qi P., Wang T., Rupprechter G.: High-performance water gas shift induced by asymmetric oxygen vacancies: Gold clusters supported by ceria-praseodymia mixed oxides, in: Applied Catalysis B: Environmental, Vol. 301, 2022
Montes-Campos H., Carrete J., Bichelmaier S., Varela L. M., Madsen G. K. H.: A Differentiable Neural-Network Force Field for Ionic Liquids, in: Journal of Chemical Information and Modeling, 2022
Reticcioli M., Diebold U., Franchini C.: Modeling polarons in density functional theory: lessons learned from TiO2, in: Journal of Physics: Condensed Matter, 2022
Zu den Personen
Georg Kresse ist Leiter des Teilprojekts P3 des Spezialforschungsbereiches (SFB), der sich mit Maschinenlernen und Quantensimulationen beschäftigt, und Co-Sprecher des SFB. Er interessiert sich für die Simulation von Quantenprozessen in der Festkörperphysik. Er zählt zu den meistzitierten Wissenschaftler:innen Österreichs.
Michael Schmid ist stellvertretender Leiter des Bereichs P2, dem die Leiterin des SFB Ulrike Diebold vorsteht und der sich mit Oberflächenphänomenen auf der Ebene von Atomen beschäftigt. Sein Interesse gilt Mikroskopie-Methoden zur Untersuchung von Oberflächen, in Kombination mit Methoden wie Spektroskopie.