Wie sich Emotionen auf den Sprachwandel auswirken
Frau Antonyuk, Sie erforschen die linguistische Konversion und den kontaktinduzierten Sprachwandel. Welche Antworten hoffen Sie zu finden?
Svitlana Antonyuk: Unsere Forschung gilt den Mechanismen, durch die menschliche Emotionen den Prozess der sprachlichen Konversion und des kontaktinduzierten Sprachwandels beeinflussen. Wir bezeichnen es als linguistische Konversion, wenn Menschen ihre Muttersprache aufgeben und zu einer anderen Sprache wechseln.
Der größte Teil der ukrainischen Bevölkerung ist zweisprachig (Ukrainisch und Russisch). Aus soziolinguistischer Sicht ist es ungewöhnlich, dass Menschen von einer prestigereicheren Sprache zu einer Sprache wechseln, die als weniger prestigereich gilt. Am Tag der Invasion konvertierten jedoch Tausende von russischsprachigen Ukrainer:innen zum Ukrainischen. Das war eine emotionale Reaktion auf die Invasion und eine politische Entscheidung.
Ukrainisch und Russisch haben mehrere gemeinsame lexikalische Elemente und syntaktische Strukturen. Man vermutet, dass Sprecher:innen, die eine negative emotionale Einstellung zum Russischen haben, bewusst oder unbewusst Konstruktionen im Ukrainischen vermeiden, die sie mit der russischen Sprache assoziieren.
Zur Person
Svitlana Antonyuk ist Lise Meitner Senior Postdoctoral Researcher am Institut für Slawistik und am Institut für Germanistik an der Universität Graz. Sie studierte Englische und Französische Philologie an der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität Czernowitz, Ukraine, sowie Linguistik an der Stony Brook University of New York, USA, wo sie 2015 ihren Doktortitel erwarb.
„Bewusste oder unbewusste Entscheidungen Ukrainisch sprechender Menschen führen zu einer Veränderung des Sprachsystems und verursachen einen Sprachwandel.“
Eine unserer Hypothesen geht davon aus, dass sich die Menschen beim Wechsel vom Russischen zum Ukrainischen an den Dialekten der Westukraine orientieren, die sie am wenigsten mit dem Russischen assoziieren, da diese Dialekte aus historischer Sicht am wenigsten Kontakt mit dem Russischen hatten. Wir nehmen an, dass bewusste oder unbewusste Entscheidungen der Ukrainisch sprechenden Menschen zu einer Veränderung des Sprachsystems führen und damit einen vorhersagbaren Sprachwandel verursachen.
Welche ersten Schritte planen Sie?
Antonyuk: Zunächst wird ein Forschungsteam aus drei Doktorand:innen und einer Postdoktorand:in zusammengestellt.
Wie wollen Sie vorgehen?
Antonyuk: Bei der Bearbeitung unserer Forschungsfrage werden wir sowohl soziolinguistische als auch neurolinguistische Methoden einsetzen.
Wir werden auch mit internationalen Expert:innen der generativen Linguistik, der vergleichenden Linguistik sowie der ukrainischen und slawischen Linguistik zusammenarbeiten.
Mein Team wird mit der empirischen Untersuchung und generativen theoretischen Analyse der ukrainischen Syntax und Morphosyntax beginnen, um interessante linguistische Strukturen zu identifizieren, die dann in die soziolinguistische und neurolinguistische Analyse einfließen. Für den neurolinguistischen Teil des Projekts setzen wir Elektroenzephalografie (EEG) und ereigniskorrelierte Hirnpotenziale (ERPs) ein, um emotionale Signaturen syntaktischer Strukturen zu erhalten. Dies ist so noch nie gemacht worden.
Mein wichtigster Forschungspartner ist Guilherme Wood, Professor für Neuropsychologie an der Universität Graz. Seine umfassende Erfahrung in der Anwendung von bildgebenden Verfahren des Gehirns ist ausschlaggebend für den Erfolg des experimentellen Teils des Projekts.
Was bedeutet der FWF-START-Preis für Ihre Forschungstätigkeit?
Antonyuk: Diese Forschung wird durch den Preis überhaupt erst ermöglicht. Ich kann mein eigenes Team zusammenstellen und hervorragende Forschende gewinnen. Außerdem wird dieses Projekt eine Reihe von wissenschaftlich, didaktisch und gesellschaftlich wichtigen Initiativen an der Universität Graz anstoßen. So planen wir beispielsweise die Gründung einer alle zwei Jahre stattfindenden Sommerschule für Linguistik, die Sprachwissenschaftler:innen verschiedener theoretischer Richtungen zusammenbringen soll. Diese Plattform wird uns dann dabei helfen, neue Kooperationen zu identifizieren und einzurichten.
Zum Projekt
Das Projekt „The Emotions We Speak“ untersucht psychologische Mechanismen, die dem kontaktinduzierten Sprachwandel zugrunde liegen. Als konkrete Fallstudie widmet es sich dem Prozess der „sprachlichen Konversion“ von der russischen zur ukrainischen Sprache, der sich in der Ukraine aufgrund der russischen Invasion vollzogen hat. Auf dieser Grundlage soll eine allgemeine Theorie des kontaktinduzierten Sprachwandels entwickelt werden.
„Das oberste Ziel meiner Arbeit ist es, die Komplexität des menschlichen Geistes zu verstehen.“
Was motiviert Sie bei Ihrer täglichen Forschungsarbeit?
Antonyuk: Das oberste Ziel meiner Arbeit ist es, die Komplexität des menschlichen Geistes zu verstehen. Ich nähere mich diesem Ziel, indem ich die Sprache als ein komplexes Symbolsystem erforsche, das Teil unserer kognitiven Ausstattung ist.
Bei der täglichen Arbeit beflügelt mich der Wunsch, Probleme zu verstehen, die mein Interesse wecken. Dieses Gefühl, bei einem schwierigen Problem Fortschritte zu machen, es langsam zu verstehen, ist für mich das Tollste.
Haben Sie irgendwelche Vorbilder?
Antonyuk: Ich hatte immer das Glück, von Menschen umgeben zu sein, die ich für ihre Forschungstätigkeit, Integrität und Freundlichkeit respektiere und bewundere. Sie haben wohl alle zu meiner Idealvorstellung von Forscher:innen beigetragen. Dieser Vorstellung versuche ich gerecht zu werden.
Ich hege große Bewunderung für Wissenschaftlerinnen, die als Wegbereiterinnen für Frauen in der Wissenschaft gedient haben, wie beispielsweise die österreichische Physikerin Lise Meitner. Mein aktuelles FWF-Projekt wird ja durch das Lise-Meitner-Programm gefördert, und ich bin unglaublich stolz darauf, mit diesem Namen in Verbindung gebracht zu werden.
Auch der „Scully-Effekt“ spielte bei mir eine Rolle. Dr. Dana Scully war eine fiktive Figur in der Fernsehserie „Akte X“ und eine der ersten Wissenschaftlerinnen im Fernsehen. Generationen von Frauen haben eine wissenschaftliche Karriere gewählt, weil sie Scullys Beispiel nacheifern wollten, und auch ich gehöre zu dieser Gruppe.
Der FWF-START-Preis
Das Karriereprogramm des Wissenschaftsfonds FWF richtet sich an junge Spitzenforschende, denen die Möglichkeit gegeben wird, auf längere Sicht und finanziell weitgehend abgesichert ihre Forschungen zu planen. Der FWF-START-Preis ist mit bis zu 1,2 Millionen Euro dotiert und zählt neben dem FWF-Wittgenstein-Preis zur prestigeträchtigsten und höchstdotierten wissenschaftlichen Auszeichnung Österreichs.