Transatlantische Musikbeziehungen

Um 1800 waren in Europa Herrscherhöfe, Klöster, Konservatorien, Theater und auch bereits KonzertsĂ€le Orte einer reichhaltigen Musikkultur. Im damaligen Nordamerika waren KulturtrĂ€ger dieser Art im Bereich der Musik kaum zu finden. Opern- und KonzerthĂ€user sowie andere Institutionen entstanden groĂteils nach dem 1865 zu Ende gegangenen Sezessionskrieg. So wurde etwa die berĂŒhmte Carnegie Hall in New York erst 1891 eröffnet. Dennoch hatte sich aber auch schon davor eine rege musikalische Praxis in der Neuen Welt etabliert. Musiker:innen, Noten, Musikwissen und Instrumente ĂŒberquerten den Atlantik und wurden Teil einer Musikkultur, die Ăhnlichkeiten, aber auch deutliche Unterschiede zu den Traditionen Europas aufwies.
Im Projekt âMusical Crossroads. Transatlantic Cultural Exchange 1800â1950â, das vom Wissenschaftsfonds FWF finanziert wurde, arbeiteten Musikwissenschaftler:innen diese âvorinstitutionelle Phaseâ der amerikanischen Musikkultur auf. âHinter dem Projekt steht auch die Frage, wie Musik vor dem Aufkommen moderner Aufnahme- und Speichertechniken mobil und transportierbar war und wie sie sich durch das Zusammentreffen verschiedener Kulturen verĂ€ndertâ, erklĂ€rt Projektleiterin Melanie Unseld von der UniversitĂ€t fĂŒr Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Mit ihren Mitarbeiter:innen Clemens Kreutzfeldt und Carola Bebermeier wĂ€hlte sie mit dem Musikalienhandel und den Musiksalons in den USA zwei exemplarische RĂ€ume, anhand derer sich der damalige transatlantische Musiktransfer gut beobachten lĂ€sst â und die gleichzeitig in der bisherigen Forschung noch weitgehend unterbelichtet blieben.
Knotenpunkte im musikalischen Netzwerk
âDie Musikalienhandlungen waren multifunktionale Orte, an denen alles verhandelt wurde, was in einer amerikanischen Stadt mit Musik zu tun hatte. Musiker:innen trafen sich hier, knĂŒpften Kontakte und gaben Konzerteâ, charakterisiert Unseld. In den bĂŒrgerlichen Salons ging es dagegen immer auch um korrektes Benehmen. âSie waren Orte, an denen als zivilisiert geltende Formen der Kommunikation und Interaktion eingelernt wurden. Auch die Musik spielte in diesem Kontext eine bedeutende Rolleâ, sagt die Wissenschaftlerin. In ihrem Ansatz betrachten die Forschenden diese RĂ€ume allerdings nicht nur als tatsĂ€chlichen Ort eines musikalischen Geschehens, sondern im Sinne einer âRaumsoziologieâ auch als Knotenpunkte in einem gesellschaftlichen Netzwerk, das durch Kommunikation und Interaktion konstituiert ist.
Die Quellen, die die Wissenschaftler:innen heranzogen, waren vielfĂ€ltig. âSie umfassen etwa NachlĂ€sse, ReisetagebĂŒcher, historische Zeitungsberichte und Abbildungen, Werbemittel sowie Notensammlungen, vieles davon aus US-Archivenâ, zĂ€hlt Unseld auf. âBeispielsweise geben Tagebuchaufzeichnungen eines MusikalienhĂ€ndlers aus den USA, der eine Einkaufstour durch Europas HauptstĂ€dte macht, detailliert Auskunft darĂŒber, welche Instrumente und Noten er in seiner Heimat fĂŒr gut absetzbar hĂ€lt.â Als theoretischer Ansatz liegt dem Projekt unter anderem das Konzept des Kulturtransfers zugrunde. Unseld: âDabei geht man davon aus, dass eine die kulturellen Grenzen ĂŒberschreitende MobilitĂ€t von Menschen oder GegenstĂ€nden auch die Ausgangskultur verĂ€ndert â insofern war auch der Einfluss der Neuen Welt auf die Musikkultur Europas fĂŒr uns interessant.â
Der Handel als Instanz der Musikvermittlung
Clemens Kreutzfeldt konnte in seiner Arbeit zeigen, wie stark die Rolle der MusikalienhĂ€ndler:innen als âcultural brokersâ, also als Vermittler:innen von Musikkultur, im 19. Jahrhundert war. Sie holten nicht nur Noten und Instrumente ĂŒber den Atlantik, sondern auch dazugehörige Expertise und Kontextwissen. âDie HĂ€ndler:innen ĂŒbersetzten die Ideen aus Europa fĂŒr die amerikanische Gesellschaftâ, sagt Unseld. âSie brachten nicht nur die Noten, sondern auch eine Vorstellung davon mit, wie das StĂŒck klingen sollte.â
Bei der Adaptierung der Musik fĂŒr die neuen Zuhörerschaften entstanden aber auch viele nicht korrekte Zuschreibungen. âDie falschen Angaben betreffen nicht nur Komponist:innen, sondern auch ganze Stilrichtungen und wurden etwa zur besseren Vermarktung erfundenâ, erklĂ€rt die Musikwissenschaftlerin. âEin steirischer Landler war in den USA mit hoher Wahrscheinlichkeit weder ein Landler noch steirisch, sondern eine in der Neuen Welt entstandene Imagination steirischer Musik.â Gleichzeitig absolvierten europĂ€ische Musiker:innen schon frĂŒh Konzertreisen in die USA, womit gleichzeitig die Karriere daheim in Europa vorangebracht werden sollte â auch fĂŒr sie waren die HĂ€ndler:innen eine wichtige Anlaufstelle.
Der Salon als Benimmschule
Carola Bebermeier kam in ihren Untersuchungen zu den Musiksalons zum ĂŒberraschenden Ergebnis, dass sich die US-amerikanische Salonkultur vermutlich zunĂ€chst in den SĂŒdstaaten verbreitete und dann erst an die NordostkĂŒste gelangte. Die Forschungen zeigen, dass es bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts in den SĂŒdstaaten ein reges Salonleben gab, in dem Musikdarbietungen ein wesentliches Element waren. âNotensammlungen von damals zeigen etwa, dass in den SĂŒdstaaten, entsprechend den frĂŒheren Kolonien, neben den in den gesamten USA weitverbreiteten Parlor Songs französische, aber auch italienische Musik â und hier vor allem Opern â einen hohen Stellenwert hattenâ, erklĂ€rt Unseld.
Gleichzeitig wurde in der BeschĂ€ftigung mit den âParlorsâ, wie die bĂŒrgerlichen Salons in den USA genannt wurden, klar, dass man sich trotz der in politischer Hinsicht antiaristokratischen Haltung der amerikanischen Gesellschaft durchaus an den â vom Adel stark geprĂ€gten â europĂ€ischen BenimmbĂŒchern orientierte. âGrenzen zwischen sozialen Schichten in der amerikanischen Gesellschaft wurden anhand von Verhaltensweisen und IdentitĂ€tskonstruktionen markiert, die man in den Parlors einstudierteâ, resĂŒmiert Unseld. Im 20. Jahrhundert wurden die Salons in den amerikanischen BĂŒrgerhĂ€usern unter anderem auch zu einem Ort fĂŒr Exil-EuropĂ€er:innen, an dem die Erinnerung an die verlorene Heimat gemeinsam aufrechterhalten wurde. Carola Bebermeier kann ihre Arbeit zur US-amerikanischen Salonkultur dank eines Anschlussprojekts im Rahmen des Elise-Richter- Programms des FWF fortfĂŒhren.
Publikationen
Bebermeier C., Kreutzfeldt C., Unseld M. (Hg.): Music Across the Ocean: Processes of Cultural Exchange in a Transatlantic Space, 1800â1950 (= bewegen â vernetzen â verorten. Kulturhistorische Perspektiven), Bielefeld: transcript, in Druck
Carola Bebermeier: âSundays at Salkaâsâ â Salka Viertelâs Los Angeles Salon as a Space of (Music-)Cultural Translation, in: Musicologia Austriaca: Journal for Austrian Music Studies, Juni 2021
Carola Bebermeier: The Arensberg Salon in Visual Representation. Chez Arensberg by André Raffray and the Historiography of Dada, in: Music in Art XLV/1-2 2020
Carola Bebermeier und Clemens Kreutzfeldt: Musical Crossroads. EuropĂ€isch-amerikanischer Kulturaustausch in vorinstitutionellen RĂ€umen Bostons des 19. Jahrhunderts, in: Klingende InnenrĂ€ume. Gender Perspektiven auf eine Ă€sthetische und soziale Praxis im Privaten, Sabine Meine und Henrike Rost (Hg.), WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann 2020
Zur Person
Melanie Unseld ist Professorin fĂŒr Historische Musikwissenschaft und Leiterin des Instituts fĂŒr Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der UniversitĂ€t fĂŒr Musik und darstellende Kunst Wien (mdw).
FrĂŒhere Stationen ihrer Karriere waren die UniversitĂ€t Oldenburg und die Hochschule fĂŒr Musik und Theater Hannover. Das von 2019 bis 2022 durchgefĂŒhrte Projekt âMusical Crossroads. Transatlantic Cultural Exchange 1800â1950â wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 359.000 Euro finanziert.
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