Das Fayum-Becken, ein Oasengebiet südwestlich von Kairo, wurde schon im Alten Ägypten für Landwirtschaft genutzt. Die griechisch-römische Zeit Ägyptens begann mit der Machtübernahme durch Alexander den Großen ab 332 v. Chr. und endete 642 n. Chr. © Zorbey Tunçer/Wikimedia

Ptolemaios, Sohn des Diodoros, wusste sich zu helfen. Als Gutsbesitzer im Dorf Theadelphia in Fayum, etwa 100 km südwestlich von Kairo, in den 140er-Jahren nach Christus ließ er sich von den Behörden nichts gefallen. Ägypten war damals eine Provinz des Römischen Reiches, und Ptolemaios hatte von der Prokuratur für die kaiserlichen Besitzungen Schwemmland gepachtet, das sich für Viehzucht, Jagd und Fischerei eignete. Doch über das ausgeklügelte Bewässerungssystem der Gegend wurde ihm nicht genug Wasser zugeteilt. Es könnte sein, dass Korruption im Spiel war. Eine Urkunde lässt vermuten, dass der Gutsbesitzer sich geweigert hat, Schutzgeld an die Behörden zu bezahlten. Ptolemaios war aber offenbar in Recht und Rhetorik geschult. Er zerrte die zuständigen Amtsträger vor Gericht – und hatte damit Erfolg.

Die Geschichte rund um den Rechtsstreit des Ptolemaios ist auf Papyrus, dem üblichen Urkundenmedium des antiken Mittelalters, festgehalten. Anders als im übrigen Römischen Reich konnten die Papyri im trockenen Wüstensand die Jahrtausende überdauern. Bernhard Palme, Professor am Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde, Papyrologie und Epigraphik der Universität Wien, nimmt gemeinsam mit Anna Dolganov vom Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) diese – im wahrsten Sinne des Wortes – wertvollen Geschichtsquellen unter die Lupe. Im Projekt „Römische Prozessprotokolle auf Papyrus. Neue Dokumente, neue Perspektiven“, das vom Wissenschaftsfonds FWF finanziert wird, entziffern die Wissenschaftstreibenden nicht nur bislang unbearbeitete Fragmente. Sie bearbeiten auch bestehende Editionen von Papyri, die zum Teil schon vor langer Zeit von Papyrolog:innen entschlüsselt wurden, um sie zu revidieren, zu ergänzen und mit dem aktuellen Forschungsstand abzugleichen. Bei ihren Arbeiten können die Forschenden auf den reichen Fundus der – ebenfalls von Palme geleiteten – Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) zurückgreifen.

Sammlung von Rechtsfällen
Anwälte sammelten Aufzeichnungen von Gerichtsentscheidungen, um sie als Präzedenzfälle heranzuziehen. Hier liegt eine Sammlung von Fällen vor, in denen ein städtischer Magistrat im Amt verstorben war und seine Verpflichtung gegenüber der Stadt auf die Erben überging. Beide zitierten Fälle waren vom römischen Statthalter entschieden worden. Erhalten ist die Rede eines Advokaten für eine der Parteien. © ÖNB/Papyrussammlung

Globale Bedeutung für das antike Rom

Die Analyse der juristischen Dokumente ergänzt und vervollständigt das Bild vom Leben in Ägypten unter der Herrschaft der Römer. Doch nicht nur das. „Die Papyri, die aus dem dritten Jahrhundert vor bis zum siebenten Jahrhundert nach Christus stammen, sind auch in einem viel größeren Kontext interessant“, erklärt Palme. „Sie zeigen beispielsweise, wie römisches Recht in den Provinzen angewendet wurde. Ägypten wird hier zum Modellfall, der veranschaulicht, wie die Verwaltung und das Leben im Imperium Romanum ausgesehen haben. Immerhin waren die öffentlichen Institutionen im ganzen Reich in gleicher Weise organisiert.“ Damit wenden sich Palme und Dolganov gegen eine konservative Lehrmeinung, die von einem „ägyptischen Sonderfall“ ohne hohe Relevanz für den Blick auf das gesamte Römische Reich ausgeht. „Die Papyri als Quelle für das gesamte römische Justizwesen zu betrachten, ist ein innovativer Ansatz. Niemand hat diesen Überlieferungen bisher eine derart globale Bedeutung zugestanden“, betont Dolganov. „Wir möchten anstoßen, dass diese Sichtweise auch in verwandten Bereichen übernommen wird, um etwa auch mehr über römische Archivinstitutionen und das private Wirtschaftsleben der Bewohner:innen des Reiches herauszufinden.“

Vor knapp 1900 Jahren konnte Ptolemaios mit seinem Anliegen die Aufmerksamkeit der römischen Fiskalverwaltung erregen. Dolganov zeigt in der Aufarbeitung des Falls, dass es dem Gutsbesitzer gelang, seinen aus dem Wassermangel entstandenen Verlust ersetzt zu bekommen. Ein lokaler Gouverneur, der die Bewässerung verantwortete, musste dafür tief in die Tasche greifen. „Ptolemaios hat die Petitionen in seinem Fall alle selbst geschrieben. Das kommt in den überlieferten Fällen sehr selten vor und legt nahe, dass er selbst Anwalt war“, schildert die Historikerin. „Zudem besaß seine Familie mehrere Häuser, darunter auch eines in Alexandria. Er konnte dort viel Zeit verbringen, um den Rechtsstreit vor Ort auszufechten, ohne dass ihm hohe Kosten entstanden sind.“

Mühsames Entziffern der Fragmente

Viele der Papyri, in denen Fälle wie jener des Ptolemaios geschildert sind, stammen nicht aus gut erhaltenen Archiven. Oft sind es nur kleine Schnipsel informeller Privatkopien von Gerichtsprotokollen, die irgendwann auf antiken Mülldeponien gelandet sind. Sie müssen mühsam restauriert, entziffert, ergänzt und mit weiteren Quellen kontextualisiert werden. „Jeder Schreiber hatte seine eigene Handschrift. Aber auch damals veränderte sich die Schreibschrift über die Jahrzehnte. Wir haben es in der Paläografie, also in der Lehre der alten Schriften, immer wieder mit neuen Phänomenen zu tun, die erkannt und eingeordnet werden müssen“, beschreibt Palme. „Dazu kommt, dass die Niederschriften in einem eigenen amtlichen Stil gehalten sind – ähnlich dem Beamtendeutsch von heute. Die juristische Bedeutung der Sprachkonstruktionen erschließt sich nur nach und nach“, ergänzt Dolganov, die oft viele Tage an der Entzifferung einzelner Fragmente arbeitet.

Sammlung von Rechtsfällen auf Papyrus
In den hier zitierten Fällen geht es um Brüder, die gleichzeitig für Liturgien nominiert worden waren. Nach den römischen Richtlinien musste jeweils nur einer der Brüder Dienst leisten. Die gesammelten Fälle stammen aus mehr als zwei Jahrzehnten (ca. 89–114 n. Chr.) und waren durch Recherche in den Archiven zusammengetragen worden. Ein Fragment desselben Papyrus befindet sich in der Sammlung Amherst, New York. © ÖNB/Papyrussammlung

Die Papyri zeichnen eine Welt, in der die Rechtskonflikte der Bevölkerung in einer elitären, gut vernetzten Gruppe ausgetragen wurden. Der römische Statthalter, als Vertreter Roms für die Wahrung des Rechts zuständig, war der oberste Richter einer Provinz. Die Anwälte waren Teil seiner Entourage und untereinander meist gut bekannt. Sie traten in den einzelnen Fällen gegeneinander an. „Das Anliegen der Statthalter, für Recht und Ordnung zu sorgen, machte aus vielen Konflikten oft Schauprozesse. Sie wurden zu Propagandastücken, die die Segnungen der römischen Herrschaft vor Augen führen sollten“, skizziert Palme. Aus den Konflikten, die hier verhandelt wurden, lassen sich über Generationen hinweg ganze Familiengeschichten rekonstruieren. „Wir haben endlose Streitigkeiten um Erbschaften oder zu der Frage, wie ein Vermögen nach der Scheidung aufgeteilt werden soll. Auch Steuerhinterziehung ist oft ein Thema. Wie heute auch, geht es sehr oft ums Geld“, veranschaulicht Dolganov.

Hoch entwickelte Bürokratie

Die Geschichtsquellen werfen nicht nur ein neues Licht auf das Alltagsleben im Römischen Reich, sondern auch auf eine in der Antike einzigartige bürokratische Kultur. Die zahlreichen Protokolle, Beurkundungen und Transkriptionen, die angefertigt und systematisch archiviert wurden, sorgen für eine außergewöhnliche Quellenlage, die eine Vielzahl von sozial- und kulturgeschichtlichen Informationen birgt. „Teil unserer Forschungen ist auch, die verschiedenen Textsorten – von staatlichen Prozessurkunden bis zur privaten, gekürzten Darstellung eines Rechtsfalls – besser zu verstehen, um sie nach ihrem formellen Aufbau unterscheiden zu können“, erklärt Dolganov.

Auch im Kontext der heutigen Politik, an die immer wieder die Forderung nach mehr Transparenz herangetragen wird, ist die Bürokratie der römischen Antike interessant. „Es ist erstaunlich, wie gut organisiert die staatlichen Archive waren. Alles wurde dokumentiert und jede:r freie Einwohner:in des Reiches konnte Exzerpte als Abschriften bekommen. Das betraf sogar die Dienstkorrespondenz der Amtsträger“, resümiert Palme. Angesichts der heutigen Debatten um Amtsgeheimnis, Politikerchats & Co wirkt die vormoderne Verwaltung des Römischen Reichs plötzlich sehr modern.


Zu den Personen

Bernhard Palme ist Professor für Alte Geschichte und Papyrologie an der Universität Wien. Seit 2009 leitet er die Papyrussammlung und das Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB). Seine Forschungen konzentrieren sich auf Geschichte und Kultur des griechisch-römischen Ägyptens sowie die historische Analyse von Papyri.

Anna Dolganov ist römische Historikerin und Papyrologin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), wo ihr 2022 ein Exzellenzstipendium verliehen wurde. Der aktuelle Schwerpunkt der Wissenschaftlerin, die ihre Studien an den Universitäten Harvard, Cambridge und Princeton absolviert hat, ist die Rechts- und Institutionsgeschichte des Römischen Reiches. Das Projekt „Römische Prozessprotokolle auf Papyrus. Neue Dokumente, neue Perspektiven“ wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 285.000 Euro unterstützt.


Publikationen

Dolganov, Anna: Rich vs. poor in Roman courts: a new text and interpretation of three judicial records from Roman Egypt, Tyche 37 2023 (in Druck)

Dolganov, Anna: Forgery and fiscal fraud in Iudaea and Arabia on the eve of the Bar Kokhba revolt: a memorandum for a trial before a Roman official (P. Cotton), Tyche 37 2023 (in Druck) (mit Fritz Mitthoff, Hannah M. Cotton und Avner Ecker)

Dolganov, Anna: Law as competitive performance: performative aspects of the legal process in Roman courts, in: C. Bubb, und M. Peachin, M. (Hg.), Medicine and the Law Under the Roman Empire, 66–123 Oxford 2023

Dolganov, Anna: The Administration of Justice in the Roman Empire: Sociology and Institutions. Cambridge University Press 2023 (in Vorbereitung)