"Verhaltensforschung ist eine Fundgrube für Erkenntnisse"
FWF: Sie sind als Wirtschaftspsychologe einer der Schirmherren des Nudging-Projekts „Motivierender Staat“ der Regierung. Was kann man sich darunter vorstellen?
Erich Kirchler: Der Begriff „Nudge“ hat vor einigen Jahren, 2008 ausgehend von den USA und Großbritannien, Furore gemacht. Damals haben zwei US-Wissenschafter, ein Ökonom und Jurist, ein gleichnamiges Buch veröffentlicht, das zum Bestseller wurde. Es geht um Wissen über menschliches Verhalten, das in der Sozialpsychologie nicht ganz neu ist. Der Titel „Motivierender Staat“ passt meiner Meinung nach sehr gut, für das was unter Experten als „Behavioural Insights“ erforscht wird. Das Projekt hat zum Ziel, Menschen durch Motivation zu einem bestimmten Verhalten anzuregen. Immer dann, wenn es nicht unbedingt notwendig ist, Gesetze zu erlassen, können vielleicht Anreize zu sinnvollem Verhalten gesetzt werden. Das gelingt beispielsweise gut in den Bereichen gesunde Ernährung, umweltschonendes Verhalten oder Steuerehrlichkeit, indem man mit einem Anstoß und geringen Kosten etwas erreicht, was als sinnvoll erachtet wird.
FWF: Die Politik setzt nun also auf motivieren statt regulieren. Woher kommt dieser Gesinnungswandel?
Kirchler: Nudging bedeutet Regulation durch Motivation. Auch in Österreich sind die Verantwortlichen in der Politik hellhörig geworden und überlegen, wo Regulation stattfinden kann, ohne den üblichen strengen Verboten und Geboten. Der Mensch ist kein rein rational handelndes Wesen. Wenn wir Gründe für Verhaltensweisen verstehen wollen, müssen wir untersuchen, wie und warum Menschen bestimmte Entscheidungen treffen, wie sie denken, fühlen und handeln. Das Wissen über Motive und Präferenzen kann genutzt werden, um Situationen so zu gestalten, dass wir aufgrund unserer Zeitknappheit, aufgrund von Motivationsmangel oder aufgrund unseres „kognitiven Geizes“ das Bessere spontan, automatisch tun. Wenn wir zum Beispiel wollen, dass sich Studierende gesund ernähren, ist es sinnvoll, in der Mensa Gemüse und Salate in der ersten Reihe des Buffets zu platzieren und weniger gesunde Produkte in der zweiten. Das funktioniert, denn viele greifen zu dem, was nahe liegt. Allerdings wird niemand zum gesunden Essen gezwungen; jeder kann die Pommes haben. Das heißt, es ist wichtig, Entscheidungssituationen libertär-paternalistisch zu gestalten, so dass jemand auch das Gegenteil von dem tun kann, was als sinnvolles oder erwünschtes Verhalten angesehen wird.
FWF: Wir funktionieren also ganz einfach?
Kirchler: Nein, eben nicht einfach. Der „Homo oeconomicus“ würde einfach funktionieren, wie eine korrekt rechnende Maschine, die ein Ziel vor Augen hat – den maximalen Nutzen. Wir sind hingegen komplex. Wir machen uns manchmal viel Kopfzerbrechen, manchmal entscheiden wir spontan, manchmal leitet uns ein Signal in eine bestimmte Richtung, und wir suchen gar nicht die verfügbare Gesamtinformation. Da ist es schwer vorherzusehen, wie sich Menschen in einer Situation verhalten werden. Aber es gibt, wenn man sich in den Verhaltenswissenschaften umschaut, viel Wissen über Motive und Verhalten von Menschen und über Anreize, die zu diesem Verhalten führen. Um sicher zu sein, ob Anreize auch wirksam sind, ist es aber nötig, die Wirkung empirisch zu prüfen.
„Es gibt viel Wissen über Motive und Verhalten von Menschen und über Anreize, die zu diesem Verhalten führen.“
FWF: Was erwarten Sie sich als Wissenschafter, der die Ministerien berät, von dem Projekt?
Kirchler: Ziel ist es, in enger Kooperation mit den politischen Verantwortlichen zu überlegen, in welchen Bereichen ein anderes als das eingefahrene, aber suboptimale Verhalten gewünscht wird, und wie durch entsprechend gestaltete Entscheidungsarchitektur eine Veränderung so geschaffen kann werden, das Leute die bessere Wahl treffen. Ich sehe es als meine Aufgabe als angewandt tätiger Psychologe, auch in die Praxis zu gehen und Wissen so aufzubereiten, dass es angewandt werden kann. Wenn seitens der Finanzministerien in verschiedenen Ländern der Wunsch besteht, steuerpsychologisches Wissen vermittelt zu bekommen, dann sehe ich das als Erfolg der Forschung. Einfache Ratschläge liegen oft erst dann auf der Hand, wenn sie geäußert wurden: beispielsweise würde sich viel erreichen lassen, wenn allein Formulare so gestaltet wären, dass sie einfach genug sind, damit sie Menschen leicht verstehen können. Wer bestimmte Verhaltensweisen fördern will, muss zuallererst danach trachten, die Hürden, die in den Weg gelegt sind, wegzuräumen.
FWF: Es geht also auch um Vorbildwirkung seitens der Politik?
Kirchler: Richtig. Es darf nicht die Haltung geben, dass es egal ist, wie komplex ein Gesetz oder Prozedere ist und die Leute es zu verstehen haben. Verständnis kann nicht verordnet werden! Vielmehr müssen wir uns darüber klar werden, was Menschen verstehen und darauf können wir dann eingehen. In der Politik können wir nicht weiterhin das Wissen der Verhaltenswissenschaften ignorieren.
FWF: Anreize statt Gesetze setzen Vertrauen in die Bevölkerung voraus. Möchte der „motivierende Staat“ im Gegenzug das Vertrauen der Menschen in die Politik zurückgewinnen?
Kirchler: Nur wer Vertrauen genießt, kann auch seine legitimierte Macht sinnvoll einsetzen. Dabei muss klar sein und vermittelt werden, dass die mächtige Instanz sich der Belange der Menschen annimmt. Und nicht, dass das Gesetz per se eine Berechtigung hat. „Nudging“ hat viel Potenzial, aber auch viele Kritiker und kann sicherlich auch missbraucht werden. Aber ich glaube, dass es eine sinnvolle Ausrichtung ist zu schauen, wo man ohne Gesetze auskommt und trotzdem Verhalten steuern möchte, so, dass nicht manipuliert wird, sondern die Ziele des „Entscheidungsarchitekten“ klar und konkret sind.
FWF: Wissenschaft und Forschung haben hierzulande in der Gesellschaft keinen hohen Stellenwert, dies wird auch in den Europavergleichen des Eurobarometers immer wieder sichtbar. Was müsste hier getan werden?
„Es muss Leuten plausibel erscheinen, dass das, was in Wissen und Forschung investiert wird, Mehrwert generiert.“
Kirchler: Erstens gilt es, wo seitens der Steuerzahler Geld hinfließt, das auch zurückzumelden und klarzumachen, wozu das gut ist. Es muss Austauschgerechtigkeit bestehen. Und es muss Leuten plausibel erscheinen, dass das, was in Wissen und Forschung investiert wird, Mehrwert generiert. Was die Forschung an Wissen schafft, muss auch angewandt werden und zu einer Verbesserung von Lebensbedingungen beitragen. Das heißt, es geht vor allem um Kommunikation und sinnvolle Anwendung. Aber Wissenschaft hat zweitens auch mit den Erfahrungen zu tun, die man in der Schule und an den Unis macht. In vielen Disziplinen stimmen an unseren Universitäten die Relationen zwischen Lehrenden und Studierenden überhaupt nicht mit denjenigen überein, die man beispielsweise in der Schweiz oder in Deutschland findet.
Das bedeutet, dass Studierende in Österreich nicht so leicht Zugang zur Wissenschaft und zu Lehrenden finden. Damit fehlt aber oft das Verständnis der Notwendigkeit in die Forschung zu investieren, um in Zukunft sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich gut dazustehen. Drittens brauchen wir mehr Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, wie das auch in anderen Ländern üblich ist. Da ist ein Professor mal in der Wirtschaft tätig und kehrt dann wieder zurück in die Wissenschaft. Oder man ist zu einem Teil an der Uni, zu einem in einer Firma angestellt oder in der Politik tätig. In Österreich stehen diese Bereiche nach häufig relativ isoliert nebeneinander.
FWF: Haben Sie den Eindruck, dass sich auch die WissenschafterInnen abgrenzen?
Kirchler: Wenn es die Überzeugung gibt, dass Austausch und Vernetzung das Verständnis füreinander fördern, dann könnte man zum Beispiel „nudgen“, dass Wissenschaftler mehr in die Praxis gehen und wieder zurück oder intensiver mit der Praxis kooperieren. Mit dem Ergebnis, dass das Verständnis füreinander besser wird. Denn vielfach ist es so, dass man eine negative Meinung hat, weil man nicht weiß, was der andere tut. Und Unwissenheit schürt Skepsis. Schließlich ist es notwendig, dass die angewandten (Verhaltens-)Wissenschaften genauso hohen Status genießen wie die Grundlagenforschung.
FWF: Wissenschaft und Forschung spielen auch in der Politik nur eine untergeordnete Rolle. Trotzdem lautet das Ziel, wir müssen Innovation Leader werden. Wie passt das zusammen?
„Darauf zu vertrauen, dass mit Gesetzen alles reguliert werden kann und dass die klassischen Modellannahmen der Ökonomie generell gültig sind, ist nicht ratsam.“
Kirchler: Wir brauchen Innovation und Kreativität. Neues entsteht jedoch nur, wenn wir Fehler zulassen und etwas riskieren. Risiko bedeutet, dass etwas schiefgehen kann. Und Kreativität braucht Zeit – Gedanken lassen sich nicht beschleunigen wie Fließbandarbeit. Doch die Zeit fehlt uns in der voll ökonomisierten Wissenschaft. Gerade junge Kollegen, die ihre Karriere vor sich haben, können es sich „nicht leisten“, risikoreiche Forschung zu betreiben, die möglicherweise nicht die gewünschten Ergebnisse bringt, sondern müssen publizieren. Im Politikbereich beobachte ich, dass die Fachexperten vor allem Juristen und Ökonomen sind. Und zwar häufig die alleinigen. Die Politik muss aber auch anerkennen, dass die Sozial- und Verhaltenswissenschaften einen großen, mittlerweile gesicherten Wissensstock zusammengetragen haben über das Verhalten von Individuen im sozialen Kontext, über Gruppen und Massen im Staat.
FWF: ForscherInnen haben beim Europäischen Forum Alpbach 2015 gezeigt, wie an komplexe politische Fragen und Entscheidungsprozesse mit Spielmethoden herangegangen werden kann. – Kann Wissenschaft hier ein Vorbild sein für die Politik, um kreativ an Problemlösungen heranzugehen?
Kirchler: In der Spieltheorie werden Entscheidungen untersucht, und die Ergebnisse lassen Schlüsse über Anreize in der Entscheidungsarchitektur zu. Darauf zu vertrauen, dass mit Gesetzen alles reguliert werden kann und dass die klassischen Modellannahmen der Ökonomie generell gültig sind, ist nicht ratsam. Gerade die Verhaltenswissenschaften sind eine Fundgrube für Erkenntnisse darüber, warum sich Menschen in der Wirtschaft und im Alltag generell verhalten, wie sie sich verhalten.
FWF: Der FWF ist die zentrale Förderungsorganisation für Grundlagenforschung in Österreich. Zahlreiche Studien und Experten fordern seit Jahren eine deutliche Steigerung des FWF-Budgets, um unter anderem auch einen „Brain-Drain“ zu verhindern. Wie sehen Sie die Situation?
„Oft reicht das Forschungsgeld nicht, um Ergebnisse zusammenzufassen, zu publizieren und für die Anwendung aufzubereiten.“
Kirchler: In der Zeit als Mitglied des Kuratoriums des FWF habe ich erlebt, dass die Gelder nicht mit den immer mehr werdenden und besser formulierten Anträgen gewachsen sind. Der Druck an den Forschungsstätten und Universitäten über Drittmittel Forschung, und damit auch Personal, zu finanzieren, ist vehement gestiegen. Daher steigen auch die Anträge um Forschungsmittel. Das ist ein Problem, weil es immer schwieriger wird zu entscheiden, welche Projekte finanziert werden sollen und welche nicht. Es gibt viele sehr gute Forschungsanträge die aus Gründen der Geldknappheit abgelehnt werden müssen. Ich glaube, dass sich auch die Wirtschaft an der Forschungsfinanzierung beteiligen muss, denn viele Forschungsergebnisse sind gerade für die Wirtschaft nützlich und profitabel. Ein weiteres Problem sehe ich darin, dass enorm viel Zeit in die Formulierung von Anträgen und in die Verwaltung des Geldes investiert wird, insbesondere bei EU-Projekten. Diese Zeit fehlt in der Forschung und oft reicht das Forschungsgeld nicht, um Forschungsergebnisse zusammenzufassen, zu publizieren und für die Anwendung aufzubereiten.
FWF: Bereits im vergangenen Jahr musste der FWF bei einer Bewilligungssumme von 211,4 Millionen Euro förderungswürdige Projekte im Umfang von rund 70 Millionen Euro ablehnen. Und gerade junge WissenschafterInnen profitieren von den Förderungen. Zerstört man damit nicht einen Großteil des österreichischen Forschungspotenzials?
Kirchler: Ich bin in einem Doktoratskolleg und sehe wie groß der Ertrag dieser Programme ist. Es passiert hier unglaublich viel Bereicherndes, das man in einer Einzelbetreuung nie bieten kann. Hier sind verschiedene Disziplinen an einem Thema beteiligt, mit den besten Leuten aus der ganzen Welt. So fördert man sowohl das Fach als auch die jungen Leute und ihre wissenschaftlichen Karrieren. Wenn das nicht mehr möglich ist, geht meines Erachtens Österreich enorm viel (Innovations)-Potenzial verloren und die besten jungen Wissenschaftler werden sich in Programme in anderen Ländern einschreiben.
Erich Kirchler ist Vizedekan der Fakultät für Psychologie an der Universität Wien. Als Wirtschaftspsychologe beschäftigt er sich insbesondere mit dem Verhalten von Menschen in den Bereichen Steuerehrlichkeit, Geldmanagement und Kaufentscheidungen im privaten Haushalt. Von 2011 bis 2014 war Kirchler Fachreferent im Kuratorium des FWF.
Das Projekt „Motivierender Staat“ Neben den Verhaltensökonomen Matthias Sutter, Martin Kocher und Ernst Fehr ist Erich Kirchler einer der Schirmherren des Nudging-Projekts „Motivierender Staat“ der österreichischen Bundesregierung, das im Rahmen des „Reformdialogs Verwaltungsvereinfachung“ 2015 gestartet wurde. Nach britischem Vorbild des „Behavioural Insights Team“ unter der Leitung von David Halpern, das erfolgreich Projekte gemeinsam mit der Regierung umgesetzt hat, soll in Österreich zunächst mit einigen Pilotprojekten in einzelnen Ministerien gestartet werden. Vom „Nudging“ (Motivieren, Anreize setzen), erhofft sich die Regierung Spareffekte in Millionenhöhe.
Buchtipp Der Ökonom Richard Thaler von der Universität Chicago und der Jurist Cass Sunstein von der Harvard Law School sind die Autoren des Buches „Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt“. Anhand von zahlreichen Beispielen stellen sie das junge Gebiet der Verhaltensökonomie vor und zeigen, wie Entscheidungen der Menschen zum Positiven beeinflusst werden können. Econ, Berlin 2009.