Vereinbarkeit von Arbeit und Pflege: Win-win?
            Rund 800.000 Ăsterreicher:innen unterstĂŒtzen und betreuen ihre Ă€lteren Angehörigen im Alltag zu Hause. Sie unterstĂŒtzen bei technischen Fragen, kaufen ein, fahren zu Arztterminen oder helfen bei der Körperpflege. Die Mehrheit dieser Menschen ist nicht berufstĂ€tig â meist weil sie schon in Pension sind.
Dennoch ist die Zahl derer, die unterstĂŒtzen, betreuen, pflegen und dabei weiter arbeiten gehen, hoch, sagt Karl Krajic, Soziologe von der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA): âWir gehen davon aus, dass rund 300.000 Personen in Ăsterreich versuchen, ihre Angehörigen zu unterstĂŒtzen, zu betreuen oder direkt zu pflegen und gleichzeitig Erwerbsarbeit zu verrichten. Das ist eine betrĂ€chtliche Zahl.â Ein GroĂteil dieser Menschen ist Ă€lter als 50 Jahre, rund drei Viertel davon sind Frauen. Sie eint ihr belastender Alltag. Je nach BetreuungsintensitĂ€t wenden sie zwischen fĂŒnf und zwölf Wochenstunden zusĂ€tzlich zu Job, Haushalt und oft auch zur Betreuung der Enkel auf.
Im Rahmen des Forschungsprojektes âCombining employment with informal care for the aged (COMBECA)â ging Krajic mit Kolleg:innen der Frage nach: Wie gehen Betriebe und Betroffene in den Betrieben mit der Vereinbarung von Pflege und Erwerbsarbeit um?
Das Forschungsprojekt COMBECA untersucht bestehende MaĂnahmen und AktivitĂ€ten von Betrieben zur Vereinbarkeit von ErwerbstĂ€tigkeit und Angehörigenpflege.
Eine österreichisch-schweizerische Kooperation
Der Soziologe forscht mit der Politikwissenschaftlerin Ingrid Mairhuber und den Soziologinnen Viktoria Quehenberger und Charlotte Dötig (alle FORBA) sowie in Kooperation mit Forschenden der Fachhochschule Nordwestschweiz. Das Schweizer Team fokussierte auf ausgewÀhlte Kantone, das österreichische auf die BundeslÀnder Wien, Niederösterreich, Steiermark und Vorarlberg. Gemeinsam entwickelten die beiden Teams Instrumente und stimmten das Forschungsdesign ab.
Nach der Analyse der relevanten Literatur interviewten sie Expert:innen aus Politik und Verwaltung und auch Personen, die Betriebe und Betroffene beraten. âUns interessierte: Ist das Thema auch in ihren Organisationen angekommen? Und wie schĂ€tzen sie aus ihrer AuĂenperspektive die derzeitige Praxis in den Betrieben ein?â, erklĂ€rt Krajic.
Die unsichtbaren, belasteten Mitarbeitenden
Die Forschenden des COMBECA-Projekts wollten also herausfinden, welchen Stellenwert das Thema Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbsarbeit in der Sozialpolitik und der sozialen Verwaltung hat. Das Ergebnis? âEs ist dort nicht sehr prĂ€sent, dass informelle Pflege zu einem betrĂ€chtlichen Teil auch mit Erwerbsarbeit verbunden wirdâ, so Krajic.
 
 Im nĂ€chsten Schritt fanden die Forschenden fĂŒnf Betriebe, die zwischen 80 und 2.000 Mitarbeitende beschĂ€ftigten, welche bereit waren, an der Studie teilzunehmen. Einer war aus dem Bereich der Produktion, die anderen stammten aus dem sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungssektor. Sie interviewten rund 50 Menschen: solche aus dem mittleren und oberen Management sowie Teamleiter:innen. âAus den GesprĂ€chen wurde uns zunĂ€chst klar: Die Betriebe haben wenig Information darĂŒber, wie viele ihrer Mitarbeitenden betroffen sindâ, erklĂ€rt Charlotte Dötig.
 
 Mit berufstĂ€tigen, pflegenden Angehörigen und einigen Kolleg:innen fĂŒhrten die Forschenden FokusgruppengesprĂ€che und biografische Interviews. ZusĂ€tzlich nahmen 500 Menschen aus den nternehmen an einer Online-Befragung teil â davon waren rund ein Drittel "pflegende Angehörige". Ein Ergebnis: Rund ein Viertel ist direkt mit Pflege im Alltag beschĂ€ftigt, etwa der Körperpflege ihrer Angehörigen. Drei Viertel unterstĂŒtzen diese bei technischen und praktischen Fragen, beim Einkauf und vor allem auch im psychosozialen Bereich.
Die Diagnose Doppelbelastung trifft nicht immer zu
Ein Ergebnis, das vielleicht ĂŒberraschen könnte, war, dass viele Betroffene ihre beruflichen Aufgaben so weit wie möglich weiterfĂŒhren wollen. âDie Pflege ihrer Angehörigen ist ein schwieriges Thema, mit dem sie nicht offen hausieren gehen. Darum sind sie zufrieden, wenn sich Lösungen finden lassen, die in den Arbeitskontext passen. So verdienen sie, sind sozialversichert und zahlen PensionsbeitrĂ€geâ, erlĂ€utert Charlotte Dötig.
Das Finanzielle sei aber oft nur ein Teilaspekt. Denn ein Beruf bringt darĂŒber hinaus auch sozialen Status, eine oft interessante TĂ€tigkeit, Chancen fĂŒr Erfolgserlebnisse und die Beteiligung in beruflichen und sozialen Netzwerken mit sich. âEs gab die Perspektive einer Frau, die meinte: Die Arbeit gibt mir NormalitĂ€t. Sie tut mir gut. Deshalb will ich weiterarbeitenâ, erzĂ€hlt Dötig.
Aktuell sehe die Sozialpolitik pflegende Angehörige vorwiegend als ehrenamtliche Mitarbeitende, ohne die es nicht gehe, sagt Krajic. Zur Einordnung: Rund 70 Prozent der rund 500.000 Ăsterreicher:innen, die Pflegegeld beziehen, werden vor allem von ihren Angehörigen zu Hause betreut. âMan fokussiert darauf, diese Menschen so weit zu unterstĂŒtzen, dass sie möglichst weiter pflegen können, etwa mit Sozialversicherungsmöglichkeitenâ, so der Soziologe. âDiese Instrumente befördern aber eher, aus dem Erwerbsleben auszusteigen â zur Vereinbarkeit tragen sie nur wenig bei.â
Das sei sicher im Sinne mancher pflegender Angehörigen. Viele Menschen, mit denen die Forschenden sprachen, wollen aber weiterarbeiten. âWird die Vereinbarkeit gut unterstĂŒtzt, kann ErwerbstĂ€tigkeit eine wichtige Ressource seinâ, sagt Krajic. Dabei gibt es die Erwartung, dass Menschen mit Pflege und Beruf doppelt belastet sind. Das stimme dann, wenn Menschen nicht oder schlecht unterstĂŒtzt werden. Wenn der Beruf mit der Pflege gut vereinbar ist, kann er auch enorm wichtige Momente der Entlastung von der fordernden PflegetĂ€tigkeit schaffen, so das Fazit aus den Interviews.
FlexibilitÀt als höchstes Gut
Damit das funktioniert, braucht es allerdings Kommunikation auf Augenhöhe und vor allem eines: FlexibilitĂ€t. Denn wie viel und welche UnterstĂŒtzung ein pflegebedĂŒrftiger Mensch braucht, ist von Situation zu Situation unterschiedlich. Der Pflegebedarf kann sich zudem schnell Ă€ndern, etwa durch einen Sturz oder eine akute Erkrankung. Wie gehen nun die erforschten Betriebe damit um?
âWir haben gesehen, dass es sehr wenige formale Vorgaben gibtâ, erlĂ€utert Krajic. Man nutzt die gesamte Palette an zeitlichen Vereinbarungen und passt diese individualisiert an die Situation an. Dabei kommen etablierte und erprobte Instrumente zum Einsatz: Gleit- oder Teilzeit etwa, Sonderurlaub oder Ăberstundenabbau. Auch Homeoffice, zumindest temporĂ€r, wurde mancherorts genutzt. Wenn möglich, passen Betriebe und Teams auch Aufgaben, Arbeitsprozesse und eingesetzte Personen an die Situation an.
Betriebe, so betonen die Forschenden, mĂŒssen es schaffen, UnterstĂŒtzung fĂŒr pflegende Mitarbeitende auch fĂŒr deren Kolleg:innen fair zu gestalten. Wichtig sei die UnterstĂŒtzung durch die GeschĂ€ftsfĂŒhrung und die Personalabteilung. âDie direkten Vorgesetzten in den Teams sind ganz zentral â denn diese mĂŒssen ja die Arbeitsprozesse organisierenâ, erklĂ€rt Krajic.
ErwerbstĂ€tigkeit von Angehörigen zu unterstĂŒtzen, kann viele Vorteile bringen: fĂŒr die Betroffenen, die Betriebe, den Arbeitsmarkt und damit die Volkswirtschaft. Es existieren sozialpolitische UnterstĂŒtzungselemente. Aber kaum eine:r der befragten Betroffenen entschied sich fĂŒr Pflegekarenz oder Pflegeteilzeit, fĂŒr die es seit 2020 einen Rechtsanspruch gibt. Denn diese lĂ€sst sich laut den Befragten schwer mit den sich stetig Ă€ndernden pflegerischen Anforderungen vereinbaren. Karl Krajic sieht hier, im Sinne vieler Betroffenen, sozialpolitischen Handlungsbedarf hin zu alltagstauglichen, flexiblen Modellen. Zudem, so die Forschenden, ist es notwendig, die professionelle pflegerische und betreuerische UnterstĂŒtzung auszubauen. Und es braucht viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit: fĂŒr berufstĂ€tige, pflegende Angehörige und die Betriebe, die ihnen die Vereinbarkeit ermöglichen.
Zu den Personen
Karl Krajic promovierte im Fach Soziologie und lehrt als Privatdozent an der UniversitĂ€t Wien und an anderen Hochschulen. Er forschte an den Ludwig Boltzmann Instituten fĂŒr Medizin- und Gesundheitssoziologie und Health Promotion Research. In der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) forscht Krajic unter anderem zur Gesundheitsförderung und QualitĂ€tsentwicklung in der Altenbetreuung.
Charlotte Dötig ist Doktoratsstudentin an der Vienna Doctoral School of Social Science im Fach Soziologie. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei FORBA und vereinbart Erwerbsarbeit mit Kindererziehung. Der Wissenschaftsfonds FWF hat das österreichisch-schweizerische Partnerprojekt COMBECA, das im JÀnner 2025 auslÀuft, mit 350.997 Euro gefördert.
Publikationen
Geisen T., Krajic K., Nideröst S. et al.: The relevance of the workplace for combining employment and informal care for older adults: results of a systematic literature review, in: International Journal of Care and Caring 2023
Krajic K., Dötig C., Mairhuber I., Quehenberger V.: Forschungsprojekt COMBECA â Combining Employment and Care for the Aged: VorlĂ€ufige Zusammenfassung der österreichischen Ergebnisse, FORBA-Forschungsbericht, Wien 2024