Untrennbar miteinander verbunden

Vor etwa 500 Millionen Jahren begann eine der bedeutendsten UmwĂ€lzungen in der Geschichte der Erde: Pflanzen wagten den Schritt an Land. Dieser drastische Lebensraumwechsel vom Leben im Wasser zum dauerhaften Leben an Land ist bestimmten GrĂŒnalgen aus der Gruppe der Schmuckalgen â der Schwestergruppe der heutigen Landpflanzen â zu verdanken. Nach und nach eroberten Pflanzen den Planeten und verwandelten ihn fĂŒr immer. Ohne sie wĂŒrde es auch uns Menschen nicht geben. Denn ohne den Kohlenstoff, den Pflanzen als CO2 aus der Luft aufnehmen und in unsere Nahrung umwandeln, sowie die MikronĂ€hrstoffe, die sie aus der Erde aufnehmen, könnten wir nicht leben â und auch nicht ohne den Sauerstoff, den Pflanzen als eine Art âAbfallproduktâ der Photosynthese in die Luft abgeben. âJedes einzelne Kohlenstoffatom in jeder Zelle unseres Körpers kommt durch die Photosynthese in unsere Ăkosysteme und ĂŒber die Nahrung in unseren Körper. Pflanzen sind also die Basis unserer Nahrungskette. Nur in aquatischen Ăkosystemen wie Meeren und Seen tragen auch noch bestimmte Mikroorganismen zur photosynthetischen Produktion bei, was zu den auf Fisch und MeeresfrĂŒchten basierten Lebensmitteln beitrĂ€gt. Abgesehen vom Trinkwasser verdanken wir also alles, was wir zum Leben brauchen, der Photosyntheseâ, sagt Ilse Kranner.
Die Leiterin des Instituts fĂŒr Botanik der UniversitĂ€t Innsbruck ist nach wie vor fasziniert von ihrem Forschungsgegenstand. Sie untersucht in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Forschungsprojekt die Stressmechanismen von Pflanzen. Ihre Forschung hat Relevanz fĂŒr Land- und Forstwirtschaft sowie Saatgutindustrie â gerade auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Denn Stressfaktoren wie DĂŒrre, erhöhte Temperaturen, aber auch Ăberschwemmungen setzen den Pflanzen zu und fĂŒhren zu empfindlichen ErnteausfĂ€llen.
Die Wissenschaftlerin Ilse Kranner leitet das Institut fĂŒr Botanik an der UniversitĂ€t Innsbruck. Ihr Interesse gilt dem Stoffwechsel von Pflanzen, die etwa durch DĂŒrre oder Ăberschwemmungen Stress ausgesetzt sind. Ihre Forschung trĂ€gt zu einem besseren VerstĂ€ndnis der Folgen des Klimawandels fĂŒr die Land- und Forstwirtschaft und liefert LösungsansĂ€tze fĂŒr nachhaltigen Anbau.
âAbgesehen vom Trinkwasser verdanken wir alles, was wir zum Leben brauchen, der Photosynthese.â

Untrennbar mit den Pflanzen verbunden
Wie sich ein Samenkorn verhĂ€lt, ob bzw. wann es austreibt, ist bestimmt durch Millionen Jahre der Evolution, aber auch Tausende Jahre der Nutzpflanzenkultivierung. âUnsere eigene Kulturgeschichte ist untrennbar mit der Domestikation von Pflanzen verbundenâ, sagt Ilse Kranner. Damit spielt die Wissenschaftlerin auf die wohl gröĂte UmwĂ€lzung im Lebensstil der Menschheit an: Vor etwa 10.000 Jahren begannen JĂ€ger und Sammler im Mittleren Osten damit, die ersten GrĂ€ser zu domestizieren. Das war der Beginn des Ackerbaus und die Menschen konnten sich schlieĂlich dauerhaft in Dörfern ansiedeln. Sesshaftwerdung und Urbanisierung â diese beiden Schritte prĂ€gen die Menschheit bis heute, auf ihnen basiert unsere Zivilisation.
âUnsere Kulturgeschichte ist untrennbar mit der Domestikation von Pflanzen verbunden.â
Tausende Pflanzensorten durch Pflanzenzucht
Menschen begannen, Pflanzen durch einfache Auslese zu zĂŒchten, sie damit zu verĂ€ndern und an bestimmte Gegebenheiten anzupassen. Damit entstanden verschiedene sogenannte Landrassen, die an bestimmte Bedingungen angepasst sind. Diese Partnerschaft verĂ€nderte sowohl die Pflanzen als auch die Menschheit fundamental und nachhaltig. âKulturpflanzen, wie wir sie heute kennen, haben mit ihren Wildformen so viel gemein wie ein Zwergpinscher mit dem Wolfâ, zieht die Pflanzenphysiologin einen anschaulichen Vergleich. Die Deutsche Genbank in Gatersleben, die das Ziel verfolgt, die Kulturpflanzen in ihrer Gesamtheit zu sammeln, verfĂŒge allein von Gerste ĂŒber 24.000 Genotypen, vermutlich ĂŒber 30.000 von Weizen, nennt die Pflanzenphysiologin beeindruckende Zahlen.
Was macht Klimastress mit Pflanzen und Saatgut?
Die Vermehrung von Pflanzen sichert auch die ErnĂ€hrung der Welt. Dabei gibt die Mutterpflanze alle wichtigen Informationen an das Samenkorn weiter: wann es keimt, wie hoch die Triebkraft ist. VerĂ€ndern sich die Umweltbedingungen, wird das System gestört. Einer dieser Störfaktoren ist der Klimawandel, der dazu fĂŒhrt, dass es ErnteausfĂ€lle gibt und die QualitĂ€t des Saatguts verĂ€ndert wird. Ilse Kranner erforscht, wie verĂ€nderte Umweltbedingungen und der damit verbundene Stress sich auf Pflanzen auswirken und was das fĂŒr das Saatgut bedeutet.
ErnteausfÀlle und Artenschwund
Wie lange ein Samenkorn lagerfĂ€hig ist, wie schnell und wann es keimt, hĂ€ngt von den Informationen ab, die ihm die Mutterpflanze mitgibt. Auch die Bedingungen, unter denen Saatgut gelagert wird, haben einen Einfluss auf dessen QualitĂ€tsmerkmale wie Lebensdauer, KeimfĂ€higkeit und Triebkraft. ErnteausfĂ€lle, wie sie in den letzten Jahren verstĂ€rkt zu beobachten sind, erzeugen nicht nur enorme wirtschaftliche SchĂ€den, sondern bedrohen die ErnĂ€hrungssicherheit. Im Falle von Wildpflanzen ist die SaatgutqualitĂ€t auch ein wesentlicher Faktor fĂŒr die Erhaltung der BiodiversitĂ€t.
EcoSeed
âDie QualitĂ€t von Saatgut beruht auf hochkomplexen Mechanismen in der Mutterpflanze und im Samen, die wir versuchen zu entschlĂŒsselnâ, sagt Ilse Kranner. Die Botanikerin leitete das groĂe, internationale EU-Projekt EcoSeed, das anhand von vier reprĂ€sentativen Kultur- und Wildpflanzen â Gerste, Sonnenblume, Kohl und Schotenkresse â der Frage nachging, welche Auswirkungen es auf Samen hat, wenn die Mutterpflanze wĂ€hrend der Samenreife Trockenheit und Temperaturanstieg ausgesetzt ist. In einem weiteren Schritt wurde untersucht, wie sich bestimmte Lagerbedingungen wie Temperatur, Feuchtigkeit und Sauerstoffgehalt bei der Lagerung auf die SaatgutqualitĂ€t auswirken. Die Erkenntnisse sollen auch dem Erhalt von Wildpflanzen dienen. Elf renommierte europĂ€ische Arbeitsgruppen waren an EcoSeed beteiligt, darunter die weltweit gröĂte Genbank fĂŒr Wildpflanzen, die Millennium Seed Bank der Royal Botanic Gardens, Kew, und das Leibniz-Institut fĂŒr Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben, die gröĂte Genbank fĂŒr Kulturpflanzensamen in der EU.
Trockenstress verÀndert die Physiologie von Pflanzen
Die Ergebnisse zeigen klar: Trockenheit beeinflusst nicht nur die SamenqualitĂ€t, sondern hat noch weitere negative Auswirkungen. âWenn Pflanzen zu sehr unter Stress stehen, werfen sie ihre Samen ab oder produzieren weniger Samen, was zu Missernten und landwirtschaftlichen EinbrĂŒchen fĂŒhrtâ, erlĂ€utert Kranner. Pflanzen reagieren auf Stressfaktoren wie Wassermangel mit einer VerĂ€nderung ihrer Physiologie. âSie werden wie wir Menschen von Hormonen gesteuert. Bei DĂŒrre investieren sie in Wirkmechanismen gegen diesen Stressfaktor, schlieĂen etwa Spaltöffnungen, um Wasser zu sparen, und fahren gleichzeitig andere Mechanismen wie die SchĂ€dlingsabwehr herunterâ, erlĂ€utert Kranner. Deshalb haben BĂ€ume bei Trockenheit besonders mit BorkenkĂ€fern zu kĂ€mpfen oder haben Zimmerpflanzen mehrere Wochen, nachdem man sie zu viel oder zu wenig gegossen hat, plötzlich BlattlĂ€use.

Positiver und negativer Stress
Genauso wie der Mensch reagiert auch die Pflanze auf Stressfaktoren aus der Umwelt. Nach dem vom kanadischen Mediziner Hans Selye in den 1930er-Jahren entwickelten biomedizinischen Stressmodell unterscheidet man Eustress â positiven Stress, der den Organismus stĂ€rkt â und Distress â negativen Stress. Der Organismus durchlĂ€uft eine Alarmphase, in der er Stressfaktoren erkennt, eine Widerstandsphase, wo er versucht, dem Stress etwas entgegenzusetzen, und eine Erschöpfungsphase, die eintritt, wenn alles zu viel wird. Wie der Mensch durchlĂ€uft auch die Pflanze solche Stressphasen. Zudem unterscheidet man zwischen abiotischen und biotischen Stressfaktoren: Faktoren aus der unbelebten Natur wie DĂŒrre, Ăberflutung, Hitze, KĂ€lte oder Wassermangel stehen Stressfaktoren aus der belebten Natur, wie zum Beispiel Parasiten, gegenĂŒber.
Samenruhe als Anpassung
Je nachdem, wo Pflanzen wachsen, brauchen sie andere Bedingungen. In unseren Breitengraden werden Samen von vielen Pflanzen im Herbst abgeworfen. WĂŒrden sie dann gleich keimen, könnten sie als SĂ€mlinge den Winter nicht ĂŒberstehen. Die Samenkörner fallen in einen âSchlafâ, die sogenannte Dormanz, auch Samenruhe genannt, um den Winter zu ĂŒberdauern, und keimen erst im FrĂŒhjahr.
Stressfaktoren stören das biochemische Gleichgewicht
Diese Samenruhe beruht auf einem biochemischen Gleichgewicht, das durch Umweltstress gestört werden kann â mit dramatischen Folgen: Die Genexpression verĂ€ndert sich, wie auch die Zusammensetzung von FettsĂ€uren, Proteinen und Kohlenhydraten â also alle Inhaltsstoffe der Samen. âWir erforschen, wie sich Signal- und Botenstoffe verĂ€ndern, die ausschlaggebend sind, ob ein Samen dormant wird, keimt oder vielleicht stirbtâ, so Kranner. Könnte man bei steigenden Temperaturen also einfach auf Landrassen zurĂŒckgreifen, die aus trockenen Gebieten stammen? âIm Prinzip ja, aber das ist nicht so einfach, wie es klingtâ, entgegnet Kranner. âMan muss erst ausprobieren, ob es funktioniert, andere Landrassen bei uns anzusetzen. Das braucht Zeit, die wir angesichts der schnellen KlimaverĂ€nderung nicht wirklich haben.â
Liebe zur Natur
Die Liebe zur Natur wurde der KĂ€rntnerin bereits in die Wiege gelegt: Der Vater, ein Naturfreund, nimmt seine Tochter mit in den Wald, erklĂ€rt ihr alles und weckt damit ihre Liebe zur Flora und Fauna. Die Mutter versorgt die Familie mit selbst angebautem GemĂŒse aus dem eigenen Garten. UrsprĂŒnglich möchte die heute 58-JĂ€hrige âTierforscherinâ werden, entdeckt dann aber in ihrem Biologiestudium beim Mikroskopieren die Schönheit der Pflanzen.
Ăber den Tellerrand schauen
Nach ihrem Studium der Biologie an der UniversitĂ€t Graz forscht sie mit einem APART-Stipendium der ĂAW gemeinsam mit Kolleg:innen in SĂŒdafrika, Slowenien, Japan, Indien und den USA an Mechanismen der Austrocknungstoleranz und geht dann schlieĂlich zehn Jahre lang nach GroĂbritannien. Dort arbeitet sie mit am Millennium Seed Bank Project, dessen Ziel es ist, in den ersten zehn Jahren des Millenniums, also von 2000 bis 2010, zehn Prozent der Samenpflanzen der Erde in Form von Samen zu sammeln. Diese Zeit sieht Kranner heute als eine der prĂ€gendsten fĂŒr ihre wissenschaftliche Karriere. âIch habe mit Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt zusammengearbeitet. Gerade in den Wissenschaften ist es wichtig, ĂŒber den eigenen Tellerrand zu schauen.â
âGerade in den Wissenschaften ist es wichtig, ĂŒber den eigenen Tellerrand zu schauen.â
ĂberlebenskĂŒnstler Flechten und Hochgebirgspflanzen
Seit 2012 ist Ilse Kranner Professorin am Institut fĂŒr Botanik der UniversitĂ€t Innsbruck. Seitdem fokussiert sie ihre Forschung auch wieder Richtung Hochgebirgspflanzen. Diese kommen mit extremen Situationen zurecht: Ihre Wurzeln können bei 50 bis 60 Grad in der Erde stehen, wĂ€hrend ihre Sprosse und BlĂ€tter Minusgraden ausgesetzt sind. Wie schaffen sie das? Auch Flechten â komplexe Symbiosen aus Pilzen und Algen â, denen Kranner bereits ihre Doktorarbeit gewidmet hat, sind wahre ĂberlebenskĂŒnstler, die in den extremsten Landstrichen der Erde leben können, in WĂŒsten, im Hochgebirge und in polaren Zonen. Das ist ein Wunderâ, staunt sie. Dieses Wunder erforscht sie in einem aktuell vom FWF geförderten Forschungsprojekt.
Bewusstsein schaffen fĂŒr Pflanzenschutz
GeprĂ€gt von ihrer Arbeit im Kuratorium des Wissenschaftsfonds FWF von 2014 bis 2023, ist es ihr ein besonderes Anliegen, als Mentorin junge Wissenschaftler:innen zu fördern. Ihren Studierenden möchte sie dabei auch immer wieder ins Bewusstsein rufen, welche Bedeutung Pflanzen fĂŒr das Leben auf diesem Planeten haben und wie wichtig der sorgsame Umgang mit unseren Ressourcen ist. âMir ist wichtig, dass wir sorgsam mit Pflanzen umgehen, aber auch schĂ€tzen, was die Landwirtschaft fĂŒr uns tut. Denn die Landwirtschaft produziert, was die Gesellschaft nachfragt und braucht â insbesondere unsere Nahrung! Wollen wir als Gesellschaft unser Verhalten nachhaltiger gestaltenâ, ist sich Kranner sicher, âmuss jeder Einzelne sein Verhalten Ă€ndern!â
âWollen wir als Gesellschaft nachhaltiger leben, muss jeder Einzelne sein Verhalten Ă€ndern.â
Sorgsamer Umgang mit Ressourcen
Als Beispiel nennt sie den drastischen Wertverlust des Nahrungsmittels Brot in den letzten 20 Jahren. War Brot einst Quelle des Lebens und Grundnahrungsmittel, so ist es heute ein Wegwerfprodukt der Ăberproduktion, das oft in der MĂŒlltonne hinter dem Supermarkt landet. Diese Entwicklung ist uns oft wenig bewusst. Genauso wie der enorme Verlust von anderen Lebensmitteln, die im MĂŒll landen. Sich dieser Entwicklungen bewusst zu werden und unser Verhalten zu Ă€ndern, ist Aufgabe jedes und jeder Einzelnen.
Ilse Kranner ist Leiterin des Instituts fĂŒr Botanik der UniversitĂ€t Innsbruck. Sie studierte Biologie an der UniversitĂ€t Graz, wo sie sich 2002 habilitierte. Nach einem APART-Stipendium der ĂAW ging sie nach GroĂbritannien, wo sie schlieĂlich zehn Jahre am Millennium Seed Bank Project mitarbeitete. Ihr Hauptinteresse gilt der Stressphysiologie von Pflanzen, mit Schwerpunkt auf dem Redox-Stoffwechsel. Mit ihrer Forschung möchte Kranner zur EntschlĂŒsselung der molekularen Mechanismen beitragen, die der pflanzlichen Stresstoleranz sowie der Langlebigkeit und der Alterung von Samen zugrunde liegen. Ihre Forschung hat Relevanz fĂŒr Land- und Forstwirtschaft und Saatgutindustrie, auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel.