Ernst Toller (3. v. r.) in einer Gruppendiskussion mit Max Weber (Bildmitte) bei der Lauensteiner Tagung im Mai 1917. © Wikimedia Commons

Direkt und unumwunden. – So ist der deutsche Schriftsteller und Dramatiker Ernst Toller (1893-1939) und so schreibt er. Etwa am 13. Mai 1939 in New York an Hubertus Prinz zu Löwenstein: „ZuverlĂ€ssige Freunde berichten, dass der Schriftsteller Walter Mehring sich in grĂ¶ĂŸtem Elend befindet und nahe dem Verhungern ist. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wer Walter Mehring ist. Wie ich höre wird die Frage eines Stipendiums fĂŒr ihn erörtert. Ich empfehle ihn aufs wĂ€rmste und dringendste.“ Dies ist bei weitem nicht das einzige Schreiben des umtriebigen Autors und Politikers im Hauptnebenfach, in dem er sich fĂŒr andere einsetzt. 1.665 Korrespondenzen vom Brief ĂŒber die Feldpostkarte bis hin zum Telegramm haben Irene Zanol, Gerhard Scholz, Veronika Schuchter und Martin GerstenbrĂ€un von der Innsbrucker Toller-ForschungsstĂ€tte unter Leitung von Stefan Neuhaus in Hunderten Archiven gesucht, gefunden, gesichtet, editiert und kommentiert. Jetzt steht das vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Projekt „Kommentierte Ausgabe der Briefe Ernst Tollers“ kurz vor dem Druck.

Einheit aus Person und Autor

„Prinzipiell gilt“, sagt Neuhaus, Literaturwissenschafter an der UniversitĂ€t Koblenz, „dass Autor und Werk voneinander verschieden sind.“ Da ist die Privatperson eines Schriftstellers. Dort ist das Werk, eine Inszenierung. Nicht nur das Werk, auch die ZwischenrĂ€ume werden von der Literaturwissenschaft erforscht. Von Shakespeare, meint Neuhaus, wisse man verbrieft, dass es ihn als Person, als Menschen gab. Ob das Werk tatsĂ€chlich von ihm stamme, werde hingegen immer wieder infrage gestellt. Und ließe sich auch nicht endgĂŒltig beantworten.

Zeugnisse aus einer bewegten Zeit: Tollers Briefe erscheinen in einer kommentierten Ausgabe. © Wallenstein Verlag

„Bei Toller ist das anders“, erklĂ€rt Neuhaus im GesprĂ€ch mit scilog. Bei ihm fallen privates und öffentliches Leben, Autor und Politiker, zusammen. Sie sind eins und damit eine Fundquelle fĂŒr Soziologinnen und Soziologen, Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker, fĂŒr Literaturwissenschafterinnen und -wissenschafter und Literaturinteressierte gleichermaßen. „TagebĂŒcher und Briefe“, sagt Neuhaus, „sind zum Verstehen der Zeit unentbehrlich.“ Tollers Dokumente stechen heraus, sie liefern einen einzigartigen Einblick in die Sozialgeschichte der Weimarer Republik und in die Situation des Exils.

Jahre unter Strom

Toller hat es toll getrieben. 1918/19 spielt er eine zentrale Rolle in der kurzlebigen bayerischen RĂ€terepublik, als die „Dichter an die Macht“ gelangten (das gleichnamige Buch Volker Weidermanns ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen). Vor dem Standgericht droht ihm, dem Kommunisten und Juden, dem Roten, wie anderen die Todesstrafe. Doch davor bewahrt ihn sein Ruf als Schriftsteller, der Einsatz seines Lehrers Max Weber, der ihn einen Gesinnungsethiker nennt. Es kommt zu fĂŒnf Jahren Festungshaft anstelle des Todes. Eine vorzeitige Enthaftung (wiederum seines literarischen Schaffens wegen) lehnt er ab, wenn nicht alle Mitgefangenen in den Genuss der Amnestie kĂ€men – er bleibt in Haft. 1932 verlĂ€sst er Deutschland, gerade noch rechtzeitig. Im Jahr darauf werden seine Werke im NS-Reich verboten und verbrannt. WĂ€hrenddessen schreibt Toller ununterbrochen. Und er korrespondiert: Mit W.H. Auden, mit Albert Einstein, Hermann Hesse, Egon Erwin Kisch, Karl Kraus, Klaus und Thomas Mann, mit Erich MĂŒhsam und Franklin D. Roosevelt, Jawaharlal Nehru und Leo Trotzki. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Eine Ahnung allenfalls.

Frei von Ballast

„Es ergibt sich ein neuer Blick auf Toller“, sagt Neuhaus, der bereits die „Kritische Ausgabe der Werke Ernst Tollers“ betreut hat. „Ich habe Toller in seiner Unbedingtheit kennen gelernt.“ Als literarischen, nicht nur politischen Autor. Als jemanden, der sich ungebrochen fĂŒr andere einsetzt: fĂŒr Carl von Ossietzky, Walter Mehring, fĂŒr all jene, die seiner UnterstĂŒtzung bedĂŒrfen oder bedĂŒrfen könnten. Es sind schnörkellose Schreiben, prĂ€zise und frei von Ballast. Immer souverĂ€ner und klarer seien seine Briefe geworden, stellt der Literaturwissenschafter fest. Am 22. Mai 1939 wĂ€hlt Toller den Freitod. „Eine Kurzschlusshandlung“, ist Neuhaus ĂŒberzeugt. Eine, die sich aus seinen Briefen nicht erklĂ€ren lĂ€sst.


Zur Person Stefan Neuhaus ist nach Stationen als Wissenschaftlicher Assistent, Gastprofessor und Professor an der Otto-Friedrich-UniversitĂ€t Bamberg, der University of the South (USA), der UniversitĂ€t Innsbruck und der UniversitĂ€t Oldenburg seit 2012 Professor fĂŒr Neuere deutsche Literatur  an der UniversitĂ€t Koblenz-Landau.


Publikationen

Ernst Toller: Briefe 1915 - 1939. Kritische Ausgabe. Hrsg: Stefan Neuhaus, Martin GerstenbrÀun, Kirsten Reimers, Gerhard Scholz, Veronika Schuchter u. Irene Zanol, unter Mitarbeit von Peter Langemeyer, 2 BÀnde, Göttingen: Wallstein (ab Feb. 2018)
Ernst Toller: SÀmtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg: Stefan Neuhaus, Dieter Distl, Martin GerstenbrÀun, James Jordan, Stephen Lamb, Peter Langemeyer, Karl Leydecker, Michael Pilz, Kirsten Reimers, Christiane Schönfeld, Gerhard Scholz, Rolf Selbmann, Thorsten Unger u. Irene Zanol, 5 BÀnde, Göttingen: Wallstein 2015