Als erster und einziger britischer Premierminister mit jüdischen Wurzeln, der auch als Romanautor Bekanntheit erreichte, war Benjamin Disraeli eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit. Fotografiert von Cornelius Jabez Hughes im Jahr 1878. © Wikimedia Commons

Warum sind Klatschhefte, Paparazzi-Foren und Royale Postillen so erfolgreich? Es gibt wohl ein weit zurückreichendes Bedürfnis, Celebrities nahezukommen und festzustellen, dass auch adelige, reiche, berühmte, gefeierte und talentierte Menschen mitunter Probleme haben – oder solche angedichtet bekommen. Tatsächlich unterscheiden sich die Mechanismen der Celebrity-Kultur vor 150 Jahren kaum von den heutigen. Das hat Sandra Mayer in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt am Beispiel von Benjamin Disraeli (1804 bis 1881) herausgearbeitet. Disraeli kennt man heute – wenn überhaupt – als konservativen Premierminister im Viktorianischen England. Als junger Mann – noch vor seinem politischen Wirken,  aber auch parallel dazu – war er ein populärer Romanautor und mit seinem Werdegang eine echte Ausnahme im Polit-Establishment: Kein Aristokrat, keine Elite-Ausbildung, getaufter Jude, mit einer vergleichsweise anrüchigen Karriere als Schriftsteller, Salonlöwe und Dandy, verheiratet mit einer 12 Jahre älteren Witwe.

Fanpost, Karikaturen, & Homestory

Disraeli bekam zu seiner Zeit gleichzeitig Fanpost und Präsenz auf Politikseiten. „In zeitgenössischen Karikaturen wird er als geheimnisumwitterte

Titelseite der „Illustrated London News“, 1878: Disraeli, Earl of Beaconsfield, wird durch Queen Victoria in den “Hosenbandorden” aufgenommen.

Sphinx dargestellt, um das Mysterium seines ungewöhnlichen Aufstiegs in die Elite zu verdeutlichen“, erklärt die Literaturhistorikerin und Anglistin Sandra Mayer im Gespräch mit scilog. Für sie ist Benjamin Disraeli Repräsentant eines neuen Typus, der mit dem frühen 19. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt. Er inszenierte sein Image und versuchte Einfluss auf sein öffentliches Bild zu nehmen. Gleichzeitig wirken Medien und Gesellschaft auf ihn zurück. Sandra Mayer forschte mit einem Erwin-Schrödinger-Stipendium des FWF 14 Monate an der Universität Oxford: „Das Phänomen Celebrity ist zentraler Bestandteil westlicher Mediengesellschaften. Mein Fokus ist Literary Celebrity, also das Zusammenspiel von Politik, Medien, Literatur und Person, dessen Wurzeln schon im späten 18. Jahrhundert erkennbar sind“, erklärt die Wissenschafterin.

Wie entsteht eine Celebrity?

Technologischer Fortschritt ermöglichte ab 1850 erstmals Massenmedien und Konsumkultur. Es wurde günstig und einfach Material zu drucken und zu verbreiten, und mit höheren Bildungsstandards entwickelte sich eine wachsende, gut informierte und interessierte Leserschaft. Fotografien machten es zudem möglich, Menschen auf der Straße zu erkennen. Untrügliche Zeichen der aufkommenden Fankultur waren Autogrammkarten, Homestorys, Reiseführer zu den Spuren von Celebrities und Museen zur Würdigung von Autorinnen und Autoren. Das viktorianische Zeitalter unterscheidet sich so betrachtet nur in der Anzahl und Art der Medienkanäle und der Verbreitungsgeschwindigkeit von heute. Schon um 1850 war es der Leserschaft wichtig, private Facetten des Autors kennenzulernen und hinter die Maske des Politikers zu blicken: „Disraeli schrieb populäre Romane, angelehnt an seine eigene Biografie und bekannte Menschen seiner Zeit. Der literarische Ausdruck war für ihn identitätsstiftend, und gleichzeitig verhandelte er seine politischen Ansichten. Die Auswertung der Fanpost zeigt, dass seine Bücher als autobiografisch rezipiert wurden“, analysiert Sandra Mayer. Aber auch ihm war es nur bedingt möglich sein Bild in der Öffentlichkeit zu steuern. So war er Zeit seines Lebens antisemitischen Angriffen und Klischees ausgesetzt. Was ihm aber gelang, war die „field migration“, wie es die Wissenschaft nennt: Das bedeutet, seine Prominenz in den Sphären Kultur und Politik befeuerten sich gegenseitig. „Er war in einem Feld etabliert und konnte sein Celebrity-Kapital nutzen, um in einem anderen Feld zu reüssieren. Etwa vergleichbar mit den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und Donald Trump oder Stars wie George Clooney und Angelina Jolie“, so die Literaturhistorikerin.

Üppige, aber geschönte Quellen

In England analysierte Sandra Mayer Persönliches und Publiziertes sowie Objekte im gut aufgearbeiteten Nachlass der Bodleian Library und im Hausmuseum von Disraeli. Dabei wurde beim Vermächtnis, das bleiben sollte, durchaus nachgeholfen. Von Nachlassverwaltern wurde privates und politisch sensibles Material entfernt, und auch der Autor selbst riss Seiten aus frühen Tagebüchern. Es zeigt sich, dass das Bedürfnis nach persönlicher Kommunikation mit Celebrities definitiv nicht neu ist. In der Fanpost fand die Schrödinger-Stipendiatin Briefe einer Wiener Übersetzerin. Disraeli war als Premier und Autor kein Lokalmatador, sondern über die Grenzen der Insel hinaus bekannt. Seine Romane als Premier wurden rasch übersetzt und international rezipiert.


Zur Person Sandra Mayer studierte Anglistik und Geschichte in Graz, Sussex und Wien. 2014/15 forschte sie an der Universität Oxford. Aktuell arbeitet die  Literatur- und Kulturhistorikerin am Institut für Anglistik der Universität Wien und ist Visiting Scholar am Oxford Centre for Life-Writing (Wolfson College). Ihre Schwerpunkte sind: Celebrity im Literaturbetrieb; Autorenschaft im Spannungsfeld von Politik und Literatur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart und Kulturtransfer.


Publikationen und Beiträge

Sandra Mayer: Portraits of the Artist as Politician, the Politician as Artist: Commemorating the Disraeli Phenomenon: Journal of Victorian Culture 21.3 (2016): 281-300
Sandra Mayer: Rubbing Shoulders with Disraeli the Celebrity at Hughenden: Blog post AngloFiles, Royal Oak Foundation, 2016
Sandra Mayer: "Disraeli's 'Spectre of Unsatisfied Desire': Literary Celebrity in/and Political Office." Oxford University Podcast, 2016
Sandra Mayer: “Pegasus and Carthorse: The Many Shades of Disraeli’s Celebrity.” Oxford University Podcast, 2015