Schulkind beobachtet Regenwurm
„Gemeinsam forschen“ war das Motto fĂŒr die teilnehmenden SchĂŒler:innen. Im Experimentierunterricht wurde u.a. das Verhalten eines Regenwurms untersucht. © UniversitĂ€t Graz

Mathe-Freak mit null Interesse an sozialer Interaktion? Kinder mit Autismus werden oft mit Klischees in Zusammenhang gebracht, die der KomplexitĂ€t und dem Variantenreichtum dieses neurologischen PhĂ€nomens keinesfalls gerecht werden. Jede neurologische Entwicklung eines Menschen ist ein Einzelfall – auch bei jenen, bei denen eine „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) diagnostiziert wird. Kinder am Spektrum haben vielleicht Besonderheiten bei Wahrnehmung, Kommunikation oder sozialem Verhalten. Sie können erstaunliche Talente und Interessen oder vergleichsweise geringe Begabungen haben. Gemein ist ihnen vor allem, dass sie Schwierigkeiten bei einer „Theory of Mind“ haben, also bei Vorstellungen ĂŒber BewusstseinsvorgĂ€nge in anderen Menschen.

Individuelle FÀhigkeiten fördern

Viele Kinder mit Autismus können schulisch integriert werden. Mithilfe einer entsprechenden Förderung, die auf ihre individuellen FĂ€higkeiten eingeht und eine BrĂŒcke zu MitschĂŒler:innen schlĂ€gt, kann ihre Entwicklung positiv beeinflusst werden. Didaktiker:innen und Bildungswissenschaftler:innen der UniversitĂ€t Graz ĂŒberprĂŒfen in diesem Zusammenhang eine neue Strategie. Sie untersuchen, ob und in welcher Weise Kinder mit Autismus von Experimentalunterricht in inklusiven Schulen profitieren können. Projektleiter Uwe Simon und Projektmitarbeiterin Nadine Otto, die sich mit Didaktik in der Biologie beschĂ€ftigen, sowie Barbara Gasteiger-Klicpera, die im Bereich Inklusive Bildung und HeilpĂ€dagogische Psychologie forscht, kooperieren dabei in einem Projekt, das vom Wissenschaftsfonds FWF unterstĂŒtzt wird.

Die Idee zum Forschungsthema resultiert aus der Arbeit Simons in der Lehrer:innenbildung im naturwissenschaftlichen Bereich. „Die Lehrpersonen machen immer wieder die Erfahrung, dass Kinder mit Autismus beim Experimentieren in Gruppen regelrecht aufblĂŒhen und in viel stĂ€rkerem Maß am Unterricht teilnehmen“, erklĂ€rt Simon. „Wissenschaftliche Literatur, die ein derartiges PhĂ€nomen in einem Klassensetting untersucht, ist aber kaum vorhanden. Deshalb wollten wir der Sache nachgehen.“

Naturwissenschaftliche Experimente in der Gruppe können SchĂŒler:innen mit Autismus dabei unterstĂŒtzen, sowohl ihre zielgerichteten als auch ihre sozialen FĂ€higkeiten besser auszuleben.

Das Projekt „ASDEX: SchĂŒlerInnen mit Autismus und Experimentierunterricht“ erforscht die Methode empirisch. Die Erkenntnisse sollen die Grundlagen fĂŒr mehr inklusiven Unterricht liefern. 

Struktur und Freiheit

Eine dem Projekt zugrunde liegende Überlegung ist, dass Gruppenarbeiten mit naturwissenschaftlichen Experimenten mehrere Vorteile fĂŒr die SchĂŒler:innen mit Autismus haben könnten. „Experimente durchzufĂŒhren erfordert ein strukturiertes, an einem klaren Ziel ausgerichtetes Arbeiten, was vielen FĂ€higkeiten der Kinder entgegenkommt. Gleichzeitig gibt dieses Setting auch genug Freiheit, um ihr BedĂŒrfnis nach sozialer Interaktion ausleben zu können – ein Bereich, in dem viele Menschen mit Autismus SchwĂ€chen haben“, skizziert Gasteiger-Klicpera. Therapeutische Formen, die sehr kleinteilig strukturiert sind, haben sich bisher nur schwer auf einen inklusiven Unterricht ĂŒbertragen lassen. Im Experimentierunterricht gĂ€be es hier zumindest Parallelen, aber auch viel Freiraum.

Die Hypothese der Wissenschaftler:innen ist also, dass diese Unterrichtsform Kindern mit Autismus das Lernen erleichtert und die soziale Interaktion fördert, was auch negativen Faktoren wie Mobbing und Ausgrenzung entgegenwirkt. In der Pilotstudie wird der Ansatz erkundet und in einer grundsĂ€tzlichen Weise erprobt, um erste – allerdings noch nicht im vollen Ausmaß generalisierbare – Erkenntnisse zu gewinnen. In der Umsetzung des Projekts hörte sich Nadine Otto, die mit der operativen Umsetzung betraut war, unter Biologielehrenden in der Steiermark um. In allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) und Mittelschulen fand sie zehn Klassen, die auch von Kindern mit Autismus besucht wurden – und die bereit fĂŒr eine Umsetzung des Projekts waren.

RegenwĂŒrmer und Rotkraut

Der von Otto eigens konzipierte Experimentierunterricht orientierte sich am jeweiligen Lehrplan und war gleichzeitig auf die BedĂŒrfnisse der Kinder mit Autismus abgestimmt. „Die SchĂŒler:innen, die allesamt zwischen 11 und 15 Jahre alt waren, erkundeten das Verhalten des Regenwurms als wichtiger Bodenbewohner, benutzten Rotkrautsaft als Indikator fĂŒr den pH-Wert einer FlĂŒssigkeit, untersuchten die Funktionsweise des menschlichen Auges oder testeten mittels spezieller UV-Perlen, wie man sich vor ultravioletter Strahlung schĂŒtzen kann“, veranschaulicht Otto, die begleitet von beobachtenden Studierenden den Unterricht durchfĂŒhrte.

Die Beobachtungen bestĂ€tigten, wie verschieden die individuellen AusprĂ€gungen der NeurodiversitĂ€t sein können. „Ein Kind mit Autismus war etwa so aufgeregt ĂŒber das Experiment mit dem Rotkrautsaft, dass es schnell ĂŒberfordert war. Andere saugten das Wissen geradezu auf und konnten nicht genug bekommen von den Experimenten“, steckt Otto die Bandbreite ab. „Bei vielen zeigte sich aber, dass die Interaktionen mit anderen SchĂŒler:innen, etwa Fragen oder VorschlĂ€ge, durchaus zunahmen.“

Ein Teil der Klassen diente als Kontrollgruppe – hier gab es ebenfalls Gruppenarbeiten, allerdings ohne naturwissenschaftliche Versuche. In allen Klassen wurden anhand von Interviews und Fragebögen vor und nach den projektbezogenen Unterrichtseinheiten EinschĂ€tzungen zum Klassenklima von Lehrer:innen und SchĂŒler:innen abgefragt. Gleichzeitig wurden bei den Kindern Wissen, Intelligenz und soziale FĂ€higkeiten erhoben. Die Ergebnisse zeigten ein ambivalentes, aber doch ermutigendes Bild.

Unterschiede nach Schultypen

„NatĂŒrlich war es durch die kurze Intervention nicht möglich, ein Klassenklima vollkommen zu verĂ€ndern“, erklĂ€rt Gasteiger-Klicpera. „Interessant war allerdings, dass die Ergebnisse nach Schultypus sehr unterschiedlich ausfielen: In AHS-Klassen sahen wir bei den Kindern mit Autismus sehr positive Ergebnisse, die in den Mittelschulen nicht erkennbar waren. Gleichzeitig spiegelte sich in den Interviews mit den SchĂŒler:innen in allen Schultypen ein viel positiveres Bild des Erlebten als in den Fragebögen.“

Zur ErklĂ€rung dieser Ergebnisse können die Wissenschaftler:innen nur Vermutungen anstellen. „Es könnte sein, dass die AHS-SchĂŒler:innen mit Experimentierunterricht bereits besser vertraut waren. Leider wird in vielen Mittelschulen nach wie vor nicht regulĂ€r damit gearbeitet“, sagt Simon. „Das bessere Feedback in den Interviews könnte daran liegen, dass manche Kinder mit Autismus mit den Fragebögen schlichtweg ĂŒberfordert waren.“

Der Experimentierunterricht habe gezeigt, dass man Kindern mit Autismus mehr zutrauen darf, als das aktuell oft der Fall ist, betont Simon. „Bei einem richtig konstruierten Setting können sehr positive Erfahrungen vermittelt werden.“ Der Ansatz soll jedenfalls in weiteren Projekten erprobt und ausgebaut, Ergebnisse allen Lehrenden zur VerfĂŒgung gestellt werden. „Letzten Endes wollen wir erreichen, dass Inklusion und Fachdidaktik nicht mehr separat betrachtet werden und Fachleute beider Bereiche Unterrichtseinheiten gemeinsam entwickeln“, sagt Simon. „Dann könnten auch Formen wie der inklusive Experimentierunterricht selbstverstĂ€ndlich werden.“

Zu den Personen

Uwe K. Simon ist Professor am Institut fĂŒr Biologie der UniversitĂ€t Graz und hier auch Teil des FakultĂ€ren Didaktikzentrums fĂŒr Naturwissenschaften und Mathematik fĂŒr die UnterrichtsfĂ€cher Biologie, Chemie, Mathematik und Physik (DINAMA) sowie des Fachdidaktikzentrums fĂŒr Biologie und Umweltkunde, wo auch Nadine Otto, die das Projekt hauptamtlich durchgefĂŒhrt hat, engagiert ist.

Barbara Gasteiger-Klicpera ist Professorin am Institut fĂŒr Bildungsforschung und PĂ€dagogInnenbildung der UniversitĂ€t Graz und stellvertretende Leiterin des Forschungszentrums fĂŒr Inklusive Bildung, das von der UniversitĂ€t Graz, der PĂ€dagogischen Hochschule Steiermark und der Privaten PĂ€dagogischen Hochschule Augustinum getragen wird. Das von 2022 bis 2025 laufende Projekt „ASDEX: SchĂŒlerInnen mit Autismus und Experimentierunterricht“ wurde vom Wissenschaftsfonds FWF im Rahmen des Forschungsprogramms „1000 Ideen“ mit 147.000 Euro unterstĂŒtzt.

VortrÀge/Publikationen

Otto N., Gasteiger-Klicpera B., Simon U.K., Prinz K.: Learners with Autism Experimenting with Peers in Biology Lessons: A Pilot Study on the Effects on Learning and Social Inclusion. Future Education Conference 2024 – Empowering Learners for Tomorrow, Graz

Otto N., Gasteiger-Klicpera B., Simon U.K., Prinz K.: Förderung der sozialen Inklusion von SchĂŒler*innen mit Autismus-Spektrum-Störung – Kann gemeinsames Experimentieren im inklusiven naturwissenschaftlichen Unterricht die Klassengemeinschaft stĂ€rken? 37. Jahresstagung der Inklusionsforscher*innen – IFO 2024, Graz

Prinz K., Otto N., Simon U.K., Gasteiger-Klicpera B.: Exploring Reading Comprehension and Decoding Abilities of Students with Autism Spectrum Disorder in Secondary Education. The European Conference on Educational Research – ECER 2024, Nicosia