Muslimische Frauen nach dem Treffen ihrer Gebetsgruppe in einer Moschee. © Martin Slama

WhatsApp & Co sind aus dem Alltagsleben der meisten Menschen nicht mehr wegzudenken, und die Auswirkungen auf das Kommunikations- und Beziehungsverhalten sind längst sichtbar. Doch wie steht es um den Einfluss sozialer Medien auf das religiöse Zusammenleben? Ein Beispiel aus Indonesien illustriert, wie moderne Informationstechnologien und Religiosität einander ergänzen können: Viele Muslimas der Mittelklasse veranstalten dort wöchentlich stattfindende Gebetsgruppen (Majelis Taklim). Diese sind sehr populär und die Initiatorinnen laden oft Prediger zum Gebet ein. „Es ist durchaus üblich, danach mit dem Prediger die Telefonnummer auszutauschen. Wenn eine der Frauen persönlichen Rat oder emotionalen Beistand braucht, tritt sie mit dem Prediger via WhatsApp in einen Online-Dialog“, berichtet Martin Slama vom Institut für Sozialanthropologie (ISA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Der Gebrauch sozialer Medien verändert die Kommunikation zwischen Gläubigen und Predigern – ein Phänomen, das der Kultur- und Sozialanthropologe als „dialogische Konstruktion islamischer Autorität“ definiert.

Off- und Online-Welt erforscht 

Dieser direkte, persönliche Online-Dialog stellt eine neue Form des religiösen und auch sozialen Zusammenseins dar. Speziell für Muslimas ist dies eine attraktive Alternative zum Vier-Augen-Gespräch, weil es vielen via Online-Kommunikation leichter fällt, über persönliche Probleme zu reden: Dies bringt nicht nur Entlastung, sondern die Prediger zeigen dabei sehr konkret und zeitnah auf, wie sich religiöse Werte und religiöses Wissen praktisch anwenden lässt. Martin Slama hat in einem vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Forschungsprojekt gemeinsam mit Eva Nisa (Australian National University) und Fatimah Husein (Universitas Islam Negeri Sunan Kalijaga Yogyakarta), Dayana Lengauer und Johann Heiss (beide ISA/ÖAW), den Einfluss von sozialen Medien auf die Entstehung neuer Formen des sozialen, religiösen Zusammenseins von Muslimen und Muslimas in Indonesien erforscht. Das Team setzte dabei auf einen Mix aus teilnehmender Beobachtung von Offline- und Online-Räumen des Zusammenseins und führte über hundert Interviews durch. Die Forschergruppe war dazu in Ballungsräumen wie Yogyakarta, Jakarta und Bandung sowie in peripheren Regionen wie auf Sulawesi und den Molukken unterwegs. Für die Online-Forschung befassten sie sich mit den populären Plattformen Facebook, Instagram und YouTube ebenso wie mit den Messenger-Diensten WhatsApp oder LINE.

Ansprüche an islamische Autoritäten im Wandel

Trotz ihrer Unterschiedlichkeit haben Online-Angebote in dem untersuchten Kontext eines gemeinsam: Die zentralen Protagonisten sind Prediger. Allerdings hat sich das Spektrum dessen gewandelt, wer als islamische Autorität gelten kann und was sie im Wesentlichen ausmacht. Soziale Medien spielen dabei eine zentrale Rolle. Früher war es vorrangig, als Prediger über ein profundes religiöses Wissen, etwa als Islamgelehrter, zu verfügen, um als islamische Autorität anerkannt zu sein. „Diesen Status kann heute aber auch jemand erwerben, der in einer großen islamischen Organisation, der religiösen Verwaltung oder einer staatlichen islamischen Universität eine führende Rolle einnimmt“, erklärt der Forscher. Soziale Medien machen auch alternative Karrierewege möglich: Ist ein lokaler Prediger rhetorisch gut, kann er seine Reichweite über Online-Plattformen steigern und in andere Landesteile eingeladen werden. Manche erreichen mittels digitaler Kommunikation sogar Starruhm.

Prediger bei einer von Frauen organisierten Gebetsgruppe. © Martin Slama

Was heute folglich neben rhetorischer Begabung zunehmend wichtig wird, ist die Fähigkeit, mit Gläubigen über soziale Medien in einen Online-Dialog zu gehen und diesen entsprechend zu gestalten. „Frauen des Mittelstands beurteilen islamische Autoritäten auch nach deren Online-Verhalten. Antwortet er? Wenn ja, auf welche Weise und wie schnell? Weil sie es sind, die Gebetsgruppen organisieren und Einladungen aussprechen, bestimmen sie die Karriere von Predigern heute stark mit“, erklärt Slama. Der wachsende Einfluss von mittelständischen Muslimas in Indonesien betrifft auch die Inhalte von Predigten. So haben viele laut dem Kultur- und Sozialanthropologen eine sehr kritische Einstellung zur Vielehe: „Indonesische Prediger wissen, dass sie darüber nicht predigen sollten. Als ein beliebter Prediger dennoch eine zweite Ehe einging, wurde er über Nacht vom Star zum Buhmann und seine Karriere ging fast zu Ende.“

Sinnsuche über soziale Medien

Muslimas der stetig wachsenden indonesischen Mittelschicht sind in urbanen Gebieten und der Hauptinsel Java gut situiert und können es sich im Gegensatz zur ärmeren Bevölkerung zeitlich wie finanziell leisten, diese neuen Formen der Kommunikation und des Austausch zu nutzen. Viele sind Spätberufene auf Sinnsuche und würden, so Slama, „die Religiosität für ihr Leben neu entdecken“. Dieser Umstand ist eine Erklärung für den Erfolg der größten islamischen Online-Community „One Day One Juz“, die für Muslimas und Muslime aller Strömungen offen ist. Die Idee dahinter: Die religiöse Praxis der Koranrezitation erfordert vom Einzelnen ein hohes Maß an Selbstdisziplin und viel Zeit, um regelmäßig die Kapitel des Koran zu lesen. Diesen Aufwand teilen sich die mehr als 100.000 Mitglieder in kleinen WhatsApp-Gruppen von je 30 Personen. Wie Projektmitarbeiterin Eva Nisa berichtet, dominieren auch hier die Frauen, die in WhatsApp-Gruppen in der Regel aktiver sind als Männer. Gemeinschaftliche Erfolge und das Gefühl, ein gläubiges Leben führen zu können, tragen zur positiven Selbstwahrnehmung des Einzelnen und zur Beliebtheit dieser Online-Community bei. Wer von diesen neuen Formen von Religiosität nicht profitiert, sind die ärmeren Schichten in peripheren Regionen, wo die technologische Infrastruktur defizitär und die Lebensrealität vom Kampf ums Überleben geprägt ist. Weil deren eingeschränkter technologischer Zugang auch das religiöse, soziale Zusammenleben betrifft, spricht Slama vom „Islamic digital divide“. Den Sinnsuchenden des Mittelstands erschließen soziale Medien jedoch neue, individuelle und dialogische Formen von Religiosität. Vor allem Frauen eröffnen sie zudem deutlich mehr Einfluss und Mitgestaltungsmöglichkeiten als bisher.


Zur Person Martin Slama forscht am Institut für Sozialanthropologie (ISA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zur Region Südostasien. Er war Gastforscher an indonesischen Universitäten und führte für seine Dissertation Feldforschungen zu jungen Internet-Userinnen und -Usern in Indonesien durch. In früheren FWF-Projekten hat er zur arabischen Diaspora in Indonesien geforscht.


Publikationen

Slama, Martin, Barendregt, Bart: Online Publics in Muslim Southeast Asia. In Between Religious Politics and Popular Pious Practices, in: Asiascape: Digital Asia 5(1): 3-31, 2018
Slama, Martin: A Subtle Economy of Time: Social Media and the Transformation of Indonesia’s Islamic Preacher Economy, in: Economic Anthropology, 4(1): 94–106, 2017
Slama, Martin: Heart to Heart on Social Media: Affective Aspects of Islamic Practice, in: Slama, Martin and Carla Jones, eds.: Piety, Celebrity, Sociality: A Forum on Islam and Social Media in Southeast Asia, American Ethnologist website, November 8, 2017