Die Historikerin Stephanie Weismann späht in einen Türspalt hinein in einem Innenhof in Lublin.
Die Historikerin Stephanie Weismann auf Riechexpedition in den Lubliner Innenhöfen. © Stephanie Weismann

Die polnische Parfummarke „Pani Walewska“ besitzt Kultstatus: In den 1970ern erlebte der Kosmetiksektor der Volksrepublik Polen eine Blüte. Eigene Parfumlinien repräsentierten neben französischen Düften und sowjetischen Produkten einen neuen Wohlstand. Wenn in den Interviews über Parfums gesprochen wurde, schwangen auch Bewertungen mit. „So standen etwa sowjetische Damenparfums in Polen generell in einem 'schlechten Ruf'. Oft bezeichnete man sie als 'bessere' Insektenvernichtungsmittel' und drückte damit auch implizit die gemischten Gefühle gegenüber der Sowjetunion aus“, berichtet die Kulturwissenschaftlerin Stephanie Weismann vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Wie unter anderem Gerüche von Kosmetika und Haushaltschemikalien im polnischen Lublin während des Kalten Krieges und der Transformationsjahre, also rund um das Jahr 1989, wahrgenommen wurden, erforscht die Firnberg-Stelleninhaberin des Wissenschaftsfonds FWF vorrangig über erzählende Interviews, nützt aber auch Internet-Foren und viele weitere Quellen. Insgesamt führte Weismann rund 60 Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Jahrgänge 1950 bis 1975 durch. Mit dem Fokus auf eine osteuropäische Stadt betrat die Geisteswissenschaftlerin Neuland. Bisher hatten stadtgeschichtliche Forschungen zur „sensorischen Geschichte“ (Sensory History) nämlich vorwiegend westeuropäische und transatlantische Städte im Blick. Für den interdisziplinären Forschungsansatz der „Sensory Studies“ spielen Sinneswahrnehmungen, in diesem Fall die geruchliche Wahrnehmung von Orten, Objekten, kulturellen Praktiken und Menschen, eine wichtige Rolle. Auch weil Gerüche soziale und kulturelle Klassifizierungen prägen, etwa Vorstellungen von „städtisch“ versus „provinziell“ oder „wir“ versus „die anderen“. Gerüche und ihr Erinnern erzählen zudem viel über das Selbstbild, über Gefühle von Zugehörigkeit ebenso wie Ablehnung.

Lebensnahe Orte als Erkenntnisquelle

Das Badezimmer und sein Duftkosmos dienen hier als Geruchsbarometer für soziopolitische Veränderungen. Zu den lokal produzierten Waren mischten sich immer öfter die Gerüche von importierten Konsumprodukten aus dem sogenannten Westen. „Speziell Waschmittel und Seifen von beiden Seiten des geteilten Deutschlands waren beliebt und prägten die Wahrnehmung vom ‚Westen‘. Die Waschmittelmarke Omo und Fa Seife waren vielversprechende, verheißungsvolle Aromen und boten Raum für vielerlei Projektionen“, erläutert Weismann. Der sich anbahnende gesamtgesellschaftliche und politische Wandel lag quasi schon „in der Luft.“

Duftnoten der polnischen Volksrepublik. © Stephanie Weismann

In dem Forschungsprojekt zur Geruchsgeschichte Lublins, das repräsentativ auch für andere ostmitteleuropäische Städte stehen kann, untersucht Weismann neben dem Badezimmer der Transformationsjahre unter anderem auch den städtischen Innenhof der Zwischenkriegszeit. Diese Zeitfenster oder „olfaktorischen Tiefenbohrungen“, wie es die Forscherin ausdrückt, liefern neue Erkenntnisse zur Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Weismann will dabei zweierlei herausfinden: Erstens, wie sich politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Strukturen und Prozesse in Ostmitteleuropa auch zu sinnlich wahrnehmbaren geruchlichen Erfahrungen verdichtet haben. Und Zweitens, wie man anhand von sich verändernden Geruchslandschaften, speziell deren Wahrnehmung, auf sozio-kulturelle Befindlichkeiten und Stimmungen schließen kann.

Gestern noch ok, heute nicht mehr tragbar

„Gerüche gehen jedem sehr nahe und sind sehr stark mit Emotionen verknüpft. Über Geruchserfahrungen kommen wir als Forschende näher an die soziale Wirklichkeit heran“, erläutert Weismann. Besonders aufschlussreich ist etwa der städtische Innenhof in Lublin samt den Beschwerden der Bewohnerinnen und Bewohner. Die Forscherin erörtert, wie sich dort die Wahrnehmung von Gerüchen in der Zwischenkriegszeit veränderte. Zentrale Quellen sind für dieses Fallbeispiel Dokumente der Sanitärkommission (Rapporte, Beschwerden) sowie die Chronik-Ressorts und Feuilletons der lokalen Tageszeitungen. Wonach es damals roch: Eine Mischung aus Küchenabfällen, tierischen und menschlichen Fäkalien, sowie organischen Abfällen von Werkstätten wie privaten Schlachtereien oder der Ledererzeugung. Im Innenhof wurden außerdem gerne Nutztiere wie Schweine oder Hühner gehalten. An diesen Praktiken und Geruchslandschaften änderte sich während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht wenig. Wohl aber, wie diese Geruchslandschaft von den Bewohnerinnen und Bewohnern wahrgenommen wurde. „Plötzlich haben diese Zustände vielen Menschen buchstäblich gestunken und es kam zu einer regelrechten Explosion an Beschwerden, Bitten und Anfragen, und auch die Denunziationen nahmen zu“, berichtet die Forscherin. Eine Entwicklung, die in engem Zusammenhang mit dem politischen und gesellschaftlichen Wandel jener Zeit steht.

Machen nationale Bestrebungen und sozialer Aufstieg geruchsempfindlich?  

Mit der Ausrufung der Zweiten Polnischen Republik nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebten Nationalitäts- und Staatsbürgerschaftsbewusstsein in Polen einen Aufschwung. Lublin wurde im selben Jahr zur Wojewodschaft-Hauptstadt. Viele fühlten sich jetzt als Großstädter und die gewohnte Geruchskulisse etwa eines städtischen Innenhofs wurde nun als provinziell und rückständig wahrgenommen, und auch über anderes wurde die Nase gerümpft: So waren auch jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger verstärkt olfaktorischen Ressentiments ausgesetzt. „Die neuen Beschwerden über geruchliche Missstände geben Auskunft über Wohn- und nachbarschaftliche Verhältnisse und spiegeln politische Befindlichkeiten und Unzufriedenheiten wider“, so die Forscherin. „Wobei der plötzliche Ruf nach frischer Luft und die Hochnäsigkeit gegenüber bisherigen Zuständen auch von den demokratischen Entwicklungen herrührt.“ Mit dem Ende der Zensur erlebte die Lokalpresse unterschiedlichster ideologischer Couleur – und damit lebhafte Meinungsäußerung – einen Aufschwung, und auch vom neuen Recht auf Beschwerde wurde intensiv Gebrauch gemacht. Das noch bis 2022 laufende Grundlagenprojekt zeigt die Relevanz von Geruchswahrnehmung für die stadtgeschichtliche Forschung. Damit wird sichtbar, inwiefern sich sozio-kulturelle Veränderungen auch in der Lebenswelt des Einzelnen niederschlugen. Andererseits reflektiert die Duftkulisse einer Stadt, ob geprägt von Gestank oder Wohlgeruch, nicht nur das tägliche Leben, sondern auch deren Kulturgeschichte.


Zur Person Stephanie Weismann ist Hertha-Firnberg-Projektleiterin am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Ihr Forschungsinteressen liegen u.a. bei Sensory History, Sozial- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas und Russlands im 19. und 20. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt auf Alltagsgeschichte sowie Populärkultur im Sozialismus und danach. Mit ihrer Erforschung der Geruchslandschaften (smellscapes) von Lublin ist sie auch am interdisziplinären Research Center for the History of Transformations RECET beteiligt.


Publikationen

Weismann, Stephanie: Es liegt was in der Luft. Geruchslandschaften der Volksrepublik Polen im Wandel, in: L'homme 31, 2 : Verstörte Sinne (Krampl, Ulrike, Schulte, Regina (Hrsg.), erscheint im Herbst 2020
Weismann, Stephanie: Scents and Sensibilities. The Case of Interwar Lublin's Courtyards, in: Contemporary European History, erscheint im Herbst 2020