Neues Antriebssystem erleichtert das Leben im Rollstuhl
Für Menschen mit einer Gehbehinderung stellen Rollstühle die wichtigste Art der Fortbewegung dar. Unverändert wichtig ist dabei der händische Antrieb, für den üblicherweise an den Rädern befestigte Greifringe genutzt werden. Diese Variante hat allerdings verschiedene Nachteile. Sie ist einerseits nur wenig effizient, mit einem Wirkungsgrad von gerade einmal zehn Prozent, während andererseits in Armen und Händen Extremstellungen der Gelenke auftreten, was häufig zu Überlastungsbeschwerden und Verletzungen der Handgelenke oder Schultern führt. Weil auf den Rollstuhl im Alltag kaum verzichtet werden kann, werden diese Beschwerden häufig chronisch. Eine Gruppe um die Biomechanikerin und Maschinenbauerin Margit Gföhler von der Technischen Universität Wien hat nun in einem vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekt eine bessere Alternative zum Greifring gesucht und gefunden.
Die natürlichste Bewegung für den Körper
„Bei dem Antrieb eines Rollstuhls mittels Greifring muss sich der menschliche Körper an diese einfache Mechanik anpassen. Für diese Bewegungen sind die menschlichen Gelenke aber eigentlich nicht ausgelegt“, erklärt Gföhler. Vor allem Geübtere würden am Greifring oft weit nach hinten greifen und das Handgelenk dabei extrem verbiegen. „Gerade in Extremstellungen treten hohe Belastungen auf. Die Idee hinter dem Projekt war, das Problem von der anderen Seite zu betrachten. Wir versuchten herauszufinden, welche Antriebsbewegung für den menschlichen Oberkörper am günstigsten wäre“, so die Forscherin. Dabei verließ man sich nicht nur auf die eigene Kreativität, sondern nutzte Computersimulationen, um das Optimum zu finden. Die einzigen Rahmenbedingungen waren, Extremstellungen zu vermeiden und einen möglichst hohen Wirkungsgrad zu erzielen. „Erst danach sollte eine Mechanik entwickelt werden, die an den Menschen angepasst ist.“ Gföhlers Team hat zur Identifizierung der optimalen Bewegung eine Simulationsumgebung geschaffen. „Wir haben ein Muskel-Skelett-System der oberen Extremität verwendet und dann die Bewegung im Hinblick auf die höchste Leistung bei geringstem Muskelaufwand optimiert“, erklärt die Wissenschafterin.
Tests mit Prototypen auf Ergometer
Das Ergebnis der Computersimulation ist eine Oval-Form, ähnlich dem Treten in Pedale bei einem Fahrrad, etwas weiter vorne und etwas weiter oben als der Greifring. Der nächste Schritt war, das System zu testen. Ein Prototyp wurde gebaut und auf einem Rollstuhl-Ergometer installiert. „Wir haben Leistungstests durchgeführt, bei denen wir belegen konnten, dass bei dieser Antriebsart tatsächlich weniger Leistung benötigt wird als beim Antrieb mit Greifring“, so Gföhler. Dazu wurde unter anderem unter Belastung der Kohlendioxidgehalt des Atemgases gemessen. Projektpartner war hier das Rehabilitationszentrum Weißer Hof, wo die Tests durchgeführt wurden. Gföhler betont, dass es ähnliche Systeme bereits für den Sportbereich gibt, als sogenannte „Handbikes“: „Bei Handbikes gibt es ähnliche Pedale für die Hände. Allerdings sind diese Systeme für den Einsatz im Alltag zu groß.“ In Innenräumen etwa seien Handbikes nicht praktikabel, außerdem gebe es Unterschiede beim Bewegungsablauf.
Zum Patent angemeldet
Eine Vorgabe für den Prototypen war, dass der Rollstuhl nicht breiter oder länger werden darf. Das ist ebenfalls gelungen. Die Kraftübertragung auf die Achse erfolgt über Zahnriemen mit nur geringen Reibungsverlusten. Der Vorteil durch den besseren Bewegungsablauf überwiege bei Weitem, so Gföhler. Nun wurde das System zum Patent angemeldet. Aus wissenschaftlicher Sicht war das Projekt also äußerst erfolgreich, doch auch das persönliche Feedback der Testpersonen sei sehr gut gewesen, sagt die Forscherin. „Die Leute mussten sich kurz daran gewöhnen, dann ist es durchwegs gut angekommen.“ Nun ist man auf der Suche nach Firmenpartnern, um aus dem Prototypen ein marktreifes Produkt zu entwickeln.
Zur Person Margit Gföhler ist Leiterin des Forschungsbereiches für Biomechanik und Rehabilitationstechnik am Institut für Konstruktionswissenschaften und Produktentwicklung an der Technischen Universität Wien. Die studierte Maschinenbauerin habilitierte im Bereich Biomechanik und interessiert sich besonders für Modellierung des Muskel- und Skelettsystems, für Bewegungsanalyse sowie für Assistenzsysteme für Menschen mit Behinderung.
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