Oberkörper einer älteren Frau, die strickt und vor dem Laptop sitzt
Die Coronapandemie hat gezeigt, dass digitale Lösungen für jede Altersgruppe funktionieren können. Die traditionellen Goldhauben-Vereine in Oberösterreich etwa organisierten kurzerhand Online-Strickrunden. © unsplash+

„Wenn man die Gesellschaft im 21. Jahrhundert verstehen will, muss man die Wechselwirkung zwischen Technik und Gesellschaft verstehen“, sagt Techniksoziologe Uli Meyer von der Johannes Kepler Universität Linz. Er forscht daran, was Technik mit unserer Gesellschaft und unserem Leben macht. Dieses Interesse für vernachlässigte Räume war Anstoß zum Projekt „Digitalisierung und Zusammenhalt im ländlichen Raum“, das vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wurde. Denn beim Thema Partizipation und Digitalisierung hatte Meyer festgestellt, dass es zwar viel Wissen über Städte und speziell politische Partizipation gibt, Forschungsprojekte im ganz anders strukturierten ländlichen Raum und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt hingegen fehlen. Genau diese Entwicklung neuer Forschungsbereiche, die oft risikoreicher sind, fördert das 1000-Ideen-Programm des FWF.

Große Resonanz aus der Bevölkerung

Welch großes Interesse diese neue Perspektive weckt, zeigte sich von Beginn an. Auf der Suche nach Interviewpartner:innen zum Thema digitale Initiativen und digitale Lösungen schrieb das Team zum Projektstart alle ländlichen Gemeinden in Oberösterreich an. Es meldeten sich u. a. Bürgermeister:innen, Caritas, Landjugend, Vereine wie die Goldhauben, Blasmusikkapellen, Chöre und Sportvereine. „Die Resonanz war groß, die Menschen haben gerne mit uns gesprochen. Wir haben eine beeindruckende Vielfalt an digitalen Lösungen gesehen, die eingesetzt wurden, um das Vereinsleben lebendig zu halten und den Kontakt zwischen den Mitgliedern zu ermöglichen“, berichtet Kommunikationswissenschaftlerin Michaela Griesbeck von der JKU.

Coronapandemie Ausgangspunkt für neue Lösungen

Denn als das Projekt 2022 startete, spielte die Coronapandemie eine wesentliche Rolle, da viele ländliche Initiativen lange Zeit keine persönlichen Treffen abhalten konnten. „Ein Weg, um Alltagsprozesse zu verstehen, ist, sich Störungen des Alltags anzusehen“, so Meyer. „Die Störung durch die Pandemie haben wir daher zum Ausgangspunkt genommen, um zu erforschen, welche Lösungen sich die Vereine ausgedacht hatten, um trotzdem im Austausch zu bleiben, als persönliche Treffen stark eingeschränkt waren. Und wir haben uns gefragt: Welche Aspekte dieser Lösungen haben funktioniert und welche haben über die Pandemie hinaus Bestand?“

„Es geht nicht nur um die technische Lösungen, sondern auch um den sozialen Kontext.“ Uli Meyer

Von digitalen Notenblättern bis zu Online-Strickrunden

Die Menge an kreativen digitalen Lösungen überraschte das wissenschaftliche Team: Sportvereine schauten via Zoom-Meetings gemeinsam Fußballspiele an oder organisierten Trainings-Challenges online, wo die Teammitglieder, nachdem sie alleine ihren Trainingslauf absolviert hatten, ihre Ergebnisse über eine App teilen konnten. Blasmusikkapellen digitalisierten ihre Notenblätter, eine Jugendgruppe hatte eine Schnitzeljagd-App für die Firmvorbereitung umfunktioniert.

Dass jede Altersgruppe mit digitalen Lösungen umgehen kann, bewiesen u. a. die Goldhauben, erklärt Griesbeck: „Das ist eine oberösterreichische Tradition, die als handwerkliches Netzwerk von Frauen begonnen hat. Viele Mitglieder sind auch noch mit 80 Jahren aktiv dabei.“ Gemeinsam reparieren sie Goldhauben, denn diese kunstvollen Kopfbedeckungen sind ein Teil der Trachtenkultur, außerdem engagieren sich die Gruppen in Sozialprojekten. „Während der Pandemie organisierten die Goldhauben zum Beispiel Online-Stickrunden und alle Frauen kamen mit den digitalen Lösungen klar“, ergänzt Griesbeck.

Beim Projektteam gemeldet hat sich auch das Linzer Start-up „Vereinsplaner“: Damit Vereine sich besser organisieren können, entwickelt man digitale Lösungen zur Mitgliederverwaltung oder im Finanzbereich. So entstand für das Team um Meyer die Möglichkeit, seine wissenschaftliche Expertise statt (wie ursprünglich geplant) in einem Laborbeispiel direkt in der Praxis einzubringen. In einem weiteren Praxisprojekt wurde die Entwicklung einer App begleitet, die es engagierten Personen in einer Gemeinde erleichtert, gemeinsame Projekte durchzuführen. Initiiert wurde diese App-Entwicklung mit dem Namen LENIE (Leben in Niederösterreich) vom Land Niederösterreich.

Digitalen Tools fehlt die latente Funktion

Trotz der Vielfalt an digitalen Lösungen blieben überraschenderweise wenige übrig, die nach der Pandemie weiter genutzt werden. Die häufig geäußerte Erklärung, dass es vielen Menschen und insbesondere Älteren an technischer Kompetenz fehlen könne, erwies sich als falsch. Mit seinem Team erforschte Uli Meyer die Ursachen: „Vereine haben eine offensichtliche Funktion, wie gemeinsames Musizieren, Singen oder bei den Goldhauben gemeinsames Sticken. Der Soziologe Robert Merton nennt das die manifeste Funktion. Es gibt jedoch auch eine latente Funktion, das ist die Gemeinschaft im Verein, die aber nicht so sichtbar ist.“

Wie sehr Gemeinschaft zählt, zeigte u. a. ein Besuch bei einer Tagung evangelischer Geistlicher, wo ein Tool zur Koordination von Ehrenamtlichen präsentiert wurde. Danach meinte ein Pfarrer kritisch, es ginge bei Ehrenämtern nicht um Effizienz, die Ehrenamtlichen würden vielmehr das persönliche Telefonat mit dem Pfarrer bevorzugen, denn so könnten sie im Austausch bleiben und Wertschätzung erfahren. Für Meyer eine Bestätigung: „Die latente Funktion des persönlichen Zusammenhalts wurde bei der Gestaltung digitaler Lösungen zumeist nicht berücksichtigt. Viele Tools gingen schlicht am Bedarf der Menschen vorbei. Was geblieben ist und weiterhin genutzt wird, sind Tools mit administrativen, also manifesten Aufgaben, wie das Bereitstellen von Noten oder die Mitgliederverwaltung.“

Screenshot von drei Smartphone-Displays die eine App zur Abwicklung von Projekten zeigen
Mit LENIE wurde eine App für Niederösterreich entwickelt, die engagierten Bürger:innen bei der Abwicklung von Projekten unterstützt. © Screenshot: land-noe.at/lenie

Erfolg heißt, den sozialen Kontext sehen

Ganz anders war das Ergebnis bei Schuldner- oder Gewaltberatungen, die von Organisationen wie der Caritas in der Pandemie auf Onlineberatung umgestellt worden waren. „Das ist gut angekommen und wird auch bleiben, weil in der Sozialberatung der Faktor Anonymität wichtig ist. Die Menschen müssen nicht mehr im Ort zur Beratungsstelle gehen, wo sie von allen gesehen werden können“, sagt Michaela Griesbeck. Jetzt können sie sich anonym von zu Hause aus Unterstützung holen.

Oft ist ein Onlinekontakt auch zeitlich einfacher, was etwa Eltern zugutekommt. Meyer ergänzt: „Mit dem Projekt ist deutlich geworden, dass man auch abseits der Städte hinschauen sollte und Digitalisierung breit gedacht werden muss. Es geht nicht nur um die technische Lösung, sondern auch um den sozialen Kontext: Welche technischen Lösungen können für wen funktionieren?“

Zu den Personen

Uli Meyer leitet seit 2019 die Abteilung für Soziologie mit den Schwerpunkten Innovation und Digitalisierung (SID) der Johannes Kepler Universität Linz (JKU). Er studierte Techniksoziologie an der TU Berlin und setzte schon damals mit Nebenfächern wie Informatik und Volkswirtschaft auf Interdisziplinarität.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Michaela Griesbeck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der JKU.