Schulklasse mit Lehrer
Inspirierende Vorbilder: Was Österreich von äußerst effektiven Brennpunktschulen in London lernen kann, zeigt eine Studie in Zusammenarbeit mit Oxford auf. © Kenny Eliason unsplash

Vielen hilft ein Buch. Aber nicht, weil die Schüler:innen es lesen. Im Interview mit einem Direktor, der eine Schule „gedreht“ hat – vom Brennpunkt mit Gewalt, Drop-outs, Drogen und Radikalisierung zur effektiven Schule, die benachteiligte Schüler:innen effektiv voranbringt –, zog dieser ein Buch mit praktischen Anregungen für den Unterricht aus dem Regal und zeigte es Roland Bernhard: „Er empfahl es allen Lehrpersonen am Standort zur Weiterbildung. Wir haben daraufhin im Rahmen des Projektes in Kooperation mit dem Wiley Verlag das besagte Buch Teach Like a Champion von Doug Lemov gleich übersetzen lassen“, berichtet Bernhard und fährt fort: „Das Zweite, was ein anderer Schulleiter machte: Er besuchte die Klassenzimmer und identifizierte die Superlehrkräfte an der Schule, reduzierte deren Lehrverpflichtung und setzte sie als Mitverantwortliche für die Aus- und Fortbildung am Standort ein.“

Roland Bernhard, derzeit Professor an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems, hat unter anderem als Gastforscher an der University of Oxford untersucht, wie binnen weniger Jahre Londoner Schulen mir großen Herausforderungen zu Orten der Chancengleichheit für benachteiligte Kinder und Jugendliche werden konnten. Statt in den Chor über Österreichs schlechtes Bildungssystem einzustimmen, wurden, unterstützt vom Wissenschaftsfonds FWF, funktionierende Ansätze und inspirierende Vorbilder gefunden. In der Kurzform klingen die Ergebnisse wie ein Kochrezept, wobei Zutaten wie Zeitbudget und Motivation der Menschen mehr zählen als die Ausstattung der Küche.

Mehr Mittel oder mehr Mut?

„Dass mit weniger Bürokratie, einem aussagekräftigen Indikator und eigenen Ideen am Standort die Unterrichtsqualität binnen zwei bis drei Jahren rasch und nachweisbar verbessert werden kann, sollte uns Mut machen. So schwierig wie in den von uns gewählten Bezirken Londons ist es in Österreich nicht an vielen Orten“, fasst Bernhard die Ergebnisse zusammen. Im Projekt wurden 22 qualitative Interviews mit Schulleiter:innen und Lehrpersonen an Standorten geführt, die trotz widriger Umstände hohe Lernleistungen ihrer Schutzbefohlenen vorweisen konnten. Beschrieben werden sie ganz neutral im „Progress 8 Score“. Einen solchen Qualitätsindikator gibt es in Österreich nicht, wobei der Projektleiter in der bereits eingeführten individuellen Kompetenzmessung PLUS, kurz iKMPLUS, einen guten Ansatzpunkt sieht.

Die Schulen in England sind sehr autonom, werden aber auch sehr streng geprüft. Der Score ermöglicht einen fairen Vergleich, weil er die Fortschritte der Schüler:innen im Vergleich mit jenen, die ähnliche Vorleistungen aufweisen, misst. Ein hoher Score bedeutet, dass eine Schule die Lernleistungen der Kinder trotz schwieriger Voraussetzungen besser voranbringt als andere Schulen mit ähnlichen Voraussetzungen.

Kollegiale Lerngemeinschaft

„Wir wissen, dass Lehrpersonen der Dreh- und Angelpunkt für die Qualität des Unterrichts und die Schulentwicklung sind. Hier kann mit kontinuierlicher Verbesserung am jeweiligen Standort oder gemeinsam mit benachbarten Schulen angesetzt werden“, verweist Roland Bernhard auf ein zweites wichtiges Ergebnis der SQTE-Studie. Die Anregungen aus den qualitativen Interviews wurden mit einer quantitativen Erhebung, an der über 600 Schulleitungen und Lehrpersonen in England teilnahmen, überprüft. Es konnte statistisch nachgewiesen werden, dass „kollegiale Hospitationen“ einen Unterschied für die Qualität des Unterrichts machen: Je öfter sich die Lehrpersonen gegenseitig im Unterricht besuchen, desto besser sind die Fortschritte der Lernenden. Die vergleichsweise simple Maßnahme einer „professionellen Lerngemeinschaft“ wurde in den Interviews häufig als entscheidend genannt. Bei der kollegialen Hospitation besuchen sich Lehrende am Standort gegenseitig im Klassenzimmer, beobachten den Unterricht und geben danach individuelles Feedback für Verbesserungen.

Mit einer Schulinspektion hat das nichts zu tun. So kann voneinander gelernt und Schwarmwissen genutzt werden. Denn für gängige Probleme im Unterricht hat sicher schon einmal jemand eine Lösung gefunden. Das Buch von Doug Lemov beschreibt 63 praktische Maßnahmen für den Unterricht, destilliert aus zahllosen Hospitationen. Zum Beispiel als Lehrender nach einer Frage lange genug abzuwarten. Niemand fängt an nachzudenken, wenn nach eineinhalb Sekunden die Frage selbst beantwortet oder jemand anderer drangenommen wird. Oder alle Kinder in der Klasse immer wieder anzusprechen, statt nur die drei in der ersten Reihe. Nicht als Strafe, sondern damit sie dranbleiben können.

Realitätscheck in Österreich

Eines der größten Probleme hierzulande ist laut dem Erziehungswissenschaftler das niedrige Prestige von Lehrpersonen und wie schlecht über sie gesprochen wird. „Das wirkt abschreckend auf Talente, und Direktor:in möchte heute kaum mehr jemand werden.“ In Fokusgruppen setzten sich in Österreich 40 Schulleitungen mit SQTE-Ergebnissen aus den Interviews auseinander, was letztlich in einen offenen Brief an den Bildungsminister mündete. Hierzulande sind die Schulleitungen eingedeckt mit Bürokratie und Administration, sie haben zu wenig Personal eigens für diese Tätigkeit und kommen daher oft nicht zu den zentralen Aufgaben, die von Schulentwicklung und Unterrichtsqualität bis zu Fortbildung und Feedback reichen. Kollegiale Hospitationen an sich sieht Bernhard in Österreich allerdings immer stärker kommen. Er will einen Beitrag dazu leisten, dass die Klassentür offensteht und Peers sich gegenseitig beim Unterricht unterstützen.

Schulautonomie at work

„London Effect“ heißt die Entwicklung in der Großstadt ab den frühen 2000er-Jahren, als dank konsequenter Unterrichtsentwicklung in Schulen in schwierigen Lagen – mit einem hohen Prozentsatz sozial benachteiligter Kinder, sehr viele mit anderen Muttersprachen – bis zu 50 Prozent oder mehr der Schüler:innen anschließend Universität oder Fachhochschule besuchen konnten. Die begleitenden Initiativen der Behörden wurden umfassend erforscht.

Die SQTE-Studie stellte das erste Mal die Frage danach, wie es Schulen in schwierigen Lagen gelungen ist, sich in nur zwei bis drei Jahren radikal zu verbessern, und was das für die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften in Österreich bedeutet. Wenn in einer Schule alle selbst unterrichten und daher wissen, wovon sie sprechen, aber von 100 Lehrenden 15 etwas weniger im Klassenzimmer stehen, dafür im Leadership-Team an der Fortbildung mitarbeiten und sich alle von Ergebnissen aus der Forschung und von den Kolleg:innen inspirieren lassen, dann klingt das eigentlich ziemlich einfach.

Zur Person

Roland Bernhard ist Professor für „Schulentwicklung, Leadership & Führungskultur“ an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems und Privatdozent an der Universität Salzburg, wo er sich im Jahr 2019 habilitierte. Seit vielen Jahren erforscht er, unter anderem als Postdoc Research Fellow an der Universität Oxford, was hocheffektive Schulen und Bildungssysteme auszeichnet, und leitet das vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierte Projekt School Quality and Teacher Education. Er hat an zwei unterschiedlichen Schulen unterrichtet sowie an acht Universitäten und Hochschulen in Österreich und England gelehrt und geforscht. Seine Hauptaufgabe sieht Bernhard darin, empirisch gesichertes Wissen über Schulqualitätsentwicklung, effektives Schulleadership und wirksamen Unterricht in der Praxis ankommen zu lassen.

Publikationen

Bernhard, Roland: Die Bedeutung von Unterrichtsentwicklung für die Steigerung von Schulqualität. Das Beispiel London, in: Schulentwicklung/Unterrichtsentwicklung. Themenheft der Zeitschrift SchulVerwaltung – Fachzeitschrift für Schulentwicklung und Schulmanagement 2023 (in Druck)

Bernhard, Roland: Developing schools into research-engaged learning organisations through initial teacher education in Wales. A review of the Criteria for the accreditation of initial teacher education programmes in Wales, Commissioned by the Welsh Government. Government of Wales 2022

Bernhard R., Benischek I., Berger Ch., Hochmeister K. et al.: „Ich kopiere tonnenweise – schade um meine gute Ausbildung.“ Welche Schwierigkeiten österreichische Direktor/innen im Zusammenhang mit Schulqualitätsmanagement sehen und was sie von der Politik erwarten. Mit einem offenen Brief an Bildungsminister Martin Polaschek. SQTE Research Papers 01/2022

Bernhard, Roland: Schulentwicklung in Schulen mit großen Herausforderungen in England. Kontinuierliche Verbesserung durch evidenzbasierte Unterrichtsentwicklung und (kollegiale) Hospitationen, in: R&E-Source 2022

Bernhard R., Harnisch D., Burn K., Greiner U., Sammons P.: “We want your child to go to university.” Raising aspirations in difficult circumstances in London. SQTE-Research Papers 01/20 21