Kunst- und Museumsstiftungen russischer Oligarchen
Die Geschichte Russlands verlief in den vergangenen drei Jahrzehnten höchst wechselvoll: Sie umfasst die Aufbruchsstimmung nach dem Ende der Sowjetunion ebenso wie die Entwicklung einer stark von privatisierten, vormals staatlichen Großkonzernen geprägten Wirtschaft bis hin zu den wachsenden Repressionen unter Präsident Wladimir Putin, dessen Invasion in die Ukraine zur internationalen Ächtung seines Landes führte. Vor diesem Hintergrund verlief die Entwicklung der Philanthropie in der Russischen Föderation: Seit der Jahrtausendwende entstand eine vielfältige, von Stiftungen und Finanziers mitaufgebaute Kulturlandschaft. Die wirtschaftliche Elite des Landes investierte zunächst in den Aufbau privater und korporativer Kunstsammlungen, später verstärkt in den zeitgemäßen Um- und Ausbau staatlicher Kunstinstitutionen und schließlich in eigene Museumsbauten. Die russische Philanthropie hat seit der Perestroika viel erreicht, wenngleich sich ihr Ausmaß in globalen Rankings nach wie vor bescheiden ausnimmt.
Vom Corporate Collecting zum Stiftungsaufschwung
Die auf (post-)sowjetische und russische Museen und Kunstinstitutionen spezialisierte Historikerin Waltraud Maria Bayer hat in ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt „Private Kunstmuseen und Stiftungen russischer Oligarchen“ nun erstmals die Geschichte der russischen Philanthropie seit den 1990er-Jahren umfassend aufgearbeitet. Sie analysierte eine Vielzahl von gesetzlichen Bestimmungen, Verordnungen, Erlässen und kulturpolitischen Programmen, basierend auf russischen analogen und digitalen
(Archiv-)Quellen. In einer Reihe von Fallstudien untersuchte sie weiters die Arbeit ausgewählter Stiftungen im Detail – unter Verwendung von Material, das die Stiftungen publizierten. Die Ergebnisse von Bayers Grundlagenforschung liegen in der 2022 erschienenen Open-Access-Publikation „FILANTROPIJA.RU. Kunst- und Museumsstiftungen der Moskauer Wirtschaftselite“ vor.
Die Publikation beginnt mit einem Rückblick auf die Umbruchszeit während der Perestroika: Erste kulturelle Stiftungen wurden in den späten 1980er-Jahren „von oben“ unterstützt, beispielsweise von Raissa Gorbatschowa, der Ehefrau von Michail Gorbatschow, dem letzten Staatschef der Sowjetunion. Eine wichtige Rolle spielte Corporate Collecting: Banken und Konzerne betätigten sich als Kunstsammelnde. In einer zweiten Phase entstand unter Präsident Boris Jelzin ein wahrer Wildwuchs an Stiftungen und gesponserten Kulturinitiativen, vieles war nicht von Dauer. Eine weitere Zäsur war die Wirtschaftskrise von 1998, als die Inflation anstieg und der Rubel drastisch abgewertet wurde. Einige Vermögende nahmen gerade diese Krise zum Anlass, um kulturelle Stiftungen zu gründen.
2006 als Jahr der russischen Philanthropie
2006 proklamierte die russische Regierung das „Jahr der Philanthropie“. Mit einer Reihe von Maßnahmen wurde der gemeinnützige Bereich in Russland zunehmend reglementiert. Gesetzliche Rahmenbedingungen wurden geschaffen, Stiftungen, Vereine und NGOs wurden eingeschränkt. Die Änderungen zeitigten jedoch positive Auswirkungen auf die Bereiche Kultur und Museen. Konzepte aus dem Westen wurden adaptiert übernommen und für professionelle Kulturprojekte genutzt.
„Die Aktivitäten umfassten ein zunehmend breites Spektrum: vom imperialen Erbe der Zarenzeit und der Ikonenkunst über die Moderne und Avantgarde bis hin zum Sozialistischen Realismus und zur Gegenwartskunst. Auch internationale Kunst war vertreten“, zählt Bayer auf. Auffallend war: Museums- und Kulturprojekte gingen oft mit großen Immobilien- und Gentrifizierungsinitiativen in russischen Metropolen einher. Ein deklariertes Anliegen einiger Stiftungen war es, das Image Russlands im Ausland zu stärken. In den 2010er-Jahren entwickelte sich die Philanthropie weiter. Doch der vielfältige Austausch mit dem Westen, der über Jahre aufgebaut worden war, wurde bereits mit der Annexion der Krim stark gebremst.
Über den Umgang mit Fälschungen
Neun umfangreiche Fallstudien bilden den empirischen Hauptteil der Studie. Eine zentrale Analyse widmet sich dem komplexen Problem der Fälschungen russischer Kunst, das auch internationale Sammlungen und Museen betrifft. Ab 2006 ging die staatliche Kulturbürokratie im Zuge einer Professionalisierungsmaßnahme verstärkt gegen Fälschungen im heimischen Kunstbetrieb vor. Die Thematik sorgte auch global immer wieder für Schlagzeilen, etwa wenn sich Leihgaben und Ankäufe aus Russland als fragwürdig erwiesen. Die Genter Museumsaffäre rund um die Kunstwerke der russischen Moderne aus der Stiftung Dieleghem, die 2017 ihren Ausgang nahm, war besonders aufsehenerregend. Fehlende Dokumentationen und Provenienzen führten dazu, dass eine Ausstellung eingestellt, Privatmuseumspläne in Belgien gestoppt und die russisch-belgischen Eigentümer der Kunstwerke in Untersuchungshaft genommen wurden.
Stiftungsporträts
Eine aussagekräftige, materialreiche Fallstudie ist ferner der nach dem gleichnamigen Milliardär und Ex-Politiker benannten Potanin Foundation gewidmet, der wohl einflussreichsten Stiftung im russischen Museumsbetrieb. Die seit 1999 bestehende Stiftung finanzierte bis 2019 nicht weniger als 35.000 Projekte. Sie ist unter anderem Hauptsponsor der Eremitage in St. Petersburg. „Die Stiftung Potanin investierte in Russland nicht nur in die organisatorische und bauliche Modernisierung der Museen, sondern machte sich auch sehr um die Professionalisierung der russischen Museumswissenschaften verdient“, resümiert Bayer. Gleichzeitig kennzeichnet sie ein hohes Ausmaß internationaler Aktivitäten. Potanin war in Europa und in den USA bestens vernetzt; er finanzierte unter anderem Großprojekte im Washingtoner Kennedy Center, im Guggenheim Museum in New York, zuletzt im Centre Pompidou.
Kollektives Engagement jüdischer Investoren
Ein Projekt, das nicht nur durch die Initiative eines einzelnen Stifters realisiert wurde, ist das Jüdische Museum und Zentrum für Toleranz in Moskau. Hier fanden sich eine ganze Reihe jüdischer Investoren zusammen, um in diesem Vorzeigeprojekt jüdische Geschichte und Kunst zu präsentieren sowie Dialog und Bildungsinitiativen zu fördern. Der bekannteste Geldgeber, Roman Abramowitsch, ist ein Unterstützer jüdischer Organisationen weltweit. Sein Konzern ist an großen Immobilienprojekten beteiligt. Die Kulturprojekte seiner Stiftungen – wie das Museum Garage – entstanden parallel zu Konzernarbeiten.
Waren die Kooperationen der russischen Kultur mit dem Westen nach der Krim-Annexion 2014 schon stark eingeschränkt, endeten die meisten mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und den einhergehenden Sanktionen abrupt. Ausländische Institutionen stellten ihre Arbeit in Russland (vorübergehend) ein, auch viele einheimische Finanziers, Wissenschaftler:innen und Expert:innen im Kunstbereich verließen das Land. Bayer: „Die konkreten Auswirkungen des Krieges und der Sanktionen auf den Museums- und Kulturbereich sind noch kaum Gegenstand der Forschung. Angesichts der internationalen Vernetzung der russischen Philanthropie bräuchte es dafür eine weltweite Anstrengung – fachübergreifend wie innerhalb der Museumswissenschaften.“
Zur Person
Waltraud M. Bayer ist habilitierte Historikerin und arbeitet zu den Themenbereichen Museen, Sammeln, Kunstmarkt und Philanthropie in Osteuropa. Sie studierte Geschichte sowie Englisch und Russisch in Wien, St. Paul in Minneapolis, Washington D.C. und Moskau. Von 1991 bis 2016 war sie am Institut für Geschichte der Universität Graz tätig. Von 2018 bis 2022 war sie Senior Research Fellow in Wien und arbeitete am Projekt „Private Kunstmuseen und Stiftungen russischer Oligarchen“, das vom Wissenschaftsfonds FWF mit 270.000 Euro gefördert wurde.
Publikationen
Waltraud M. Bayer: FILANTROPIJA.RU. Kunst- und Museumsstiftungen der Moskauer Wirtschaftselite, 2022
Waltraud M. Bayer: Best Practice: Fälschungsforschung im Kölner Museum Ludwig, arthistoricum.net 2021
Waltraud M. Bayer: A Past That Won’t Pass: Stalin’s Museum Sales in a Transformed Global Context, in: Journal for Art Market Studies (JAMS), Vol. 2 (2), 2018