Kreuzenstein – fiktives Mittelalter ganz real
Sie ist weit sichtbar, ein imposantes, riesiges Bauwerk mit malerischem Blick auf die Donau. Eine Burg wie aus dem Bilderbuch. – So ähnlich könnte man auch ihre Entstehungsgeschichte beschreiben. Denn Kreuzenstein bei Korneuburg in Niederösterreich ist keine echte mittelalterliche Burg, sondern wurde von 1874 bis 1906 im Auftrag von Graf Johann Nepomuk Wilczek als Familienmausoleum und Privatmuseum errichtet. Das „Fundament“ für das gewaltige Bauvorhaben bildeten Mauerreste und wenige Ruinenteile, die von der ursprünglichen Anlage aus dem 12. Jahrhundert übrig geblieben waren. Als Mittelalterrekonstruktion interessierte sich die Wissenschaft lange nicht für den Bau, der jedoch in der Öffentlichkeit und als Filmkulisse bis heute eine hohe Anziehungskraft besitzt.
Bedeutendste Burg des Historismus
Nun liegt das als eines der „schönsten Bücher Österreichs“ ausgezeichnete Werk „Kreuzenstein – Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne“ von Andreas Nierhaus vor. Es ist das Ergebnis intensiver Grundlagenforschung auf einer Quellenbasis, die sich als äußerst spärlich herausstellte. Dennoch ist es dem Kunsthistoriker Nierhaus gelungen, unter anderem auf Basis von historischen Fotografien Wilhelm Burgers, die Burg, ihre Geschichte, Architektur und Ausstattung umfassend aufzuarbeiten. Andreas Nierhaus hat damit erstmals die moderne Burg Kreuzenstein in einen größeren kunst- und kulturgeschichtlichen Kontext eingebettet und darüber hinaus ihre Bedeutung für die heutige populäre Mittelaltervorstellung aufgezeigt. „Die Burg ist eine der bedeutendsten ihrer Zeit“, sagt Nierhaus. Vor allem deshalb, weil ihr Erbauer, Graf Wilczek, ein eifriger Sammler von Bauteilen, so genannten Spolien, von Kunstwerken und anderen Objekten aus dem Mittelalter war. „Es gibt im 19. Jahrhundert weltweit kein anderes Bauwerk, das aus so vielen Teilen anderer Bauten zusammengesetzt ist“, erklärt Nierhaus die Faszination des Baus. Um die vermeintliche mittelalterliche Authentizität zu rekonstruieren, wurden keine Mühen und Kosten gescheut: Eine Orgelempore aus der Slowakei wurde etwa als Arkadengang eingesetzt, das Holz stammt von Tiroler Bauernhöfen, die Dachziegel vom berühmten Basler Münster.
Geburtsstunde des modernen Themenparks
Andreas Nierhaus sieht Kreuzenstein als eine Zeitmaschine, „mit der bis heute eine virtuelle Reise in die Vergangenheit möglich ist“. Wer Kreuzenstein besucht, „beamt“ sich einmal ins Mittelalter und retour. Diese Faszination für Ritter, Rüstungen und Zinnen hat ebenda, im 19. Jahrhundert, ihren Ursprung und fußt auf den Umbrüchen der Zeit. Man wünschte sich klare Strukturen und Ordnung zurück. Von Beginn an war Kreuzenstein dementsprechend ein beliebtes Ausflugsziel für die Öffentlichkeit, aber auch Sehenswürdigkeit ersten Ranges für bedeutende Staatsgäste wie Kaiser Wilhelm II oder US-Präsident Theodore Roosevelt. Das Mittelalter wurde wie in einem dreidimensionalen Historienbild nach den damaligen Vorstellungen wieder lebendig gemacht. Nierhaus bringt diese Inszenierungen auch in Beziehung zum Aufkommen der Massenvergnügungen in Form moderner Themenparks wie etwa „Venedig in Wien“. Der Vergnügungspark wurde 1895 im Prater eröffnet.
Anknüpfungspunkte zur Gegenwart
„Kreuzenstein ist das Produkt einer Epoche, die in vielerlei Hinsicht Grundlagen für unsere heutige Kultur geliefert hat“, sagt Nierhaus, und nennt die bürgerliche Gesellschaft, das Museum, Theater, das Kino, die Fotografie als Beispiele. Anknüpfungspunkte bis in die Gegenwart gibt es also viele. Zum Beispiel in Bezug auf den Film. In Kreuzenstein wurde und wird Filmgeschichte geschrieben, zuletzt durch die US-Fernsehserie „The Quest“. Sich mit dem Mittelalterbild des 19. Jahrhunderts auseinanderzusetzen, bedeute, so Nierhaus, die bis heute fortwirkenden politischen und gesellschaftlichen Instrumentalisierungen des modernen Mittelalters zu verstehen. „Dieses Bild kann immer wieder aufgeladen werden“, sagt der Autor. Noch heute werden, wie im 19. Jahrhundert, mittelalterliche Burgen gebaut und so mitunter nationale Identitäten konstruiert. Die Bedeutung materieller Spuren des Vergangenen ist bis heute groß. „Mich hat überrascht, wie mächtig ein solches Objekt sein kann, nur weil man weiß, dass es alte Wurzeln hat“, beschreibt Nierhaus eine Erkenntnis des Forschungsprozesses. „Dieses Aufladen mit einer Aura war in der Dichte fast erschreckend. Dem könnte man noch weiter nachspüren“, so der Autor. So wie man viele Themen des Buches aufgreifen könnte. Denn mit dem Projekt Kreuzenstein hat der Kunsthistoriker wichtige Grundlagen gelegt. Das große Kapitel über die Spolien könnte der Anfang für weitere Analysen zu diesem Thema sein. Auch beherbergt die Burg eine wertvolle Kunstsammlung, die bis dato nicht erforscht ist.
Andreas Nierhaus ist Kunsthistoriker und seit 2008 Kurator der Architektursammlung des Wien Museums. Seine Forschungsschwerpunkte sind Architektur und bildende Kunst im 19. und 20. Jahrhundert, Historismus und Moderne sowie Medien der Architektur und Architekturzeichnungen.
Das Buch von Andreas Nierhaus Kreuzenstein – Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne ist 2014 im Verlag Böhlau erschienen und auch in der E-Book-Library des FWF erhältlich: http://e-book.fwf.ac.at/o:562
Die Burg Kreuzenstein bei Korneuburg in Niederösterreich wurde von 1874 bis 1906 im Auftrag von Hans Graf Wilczek errichtet. Das Buch von Andreas Nierhaus beschrebt den Bau, seine Geschichte, die Architektur und Ausstattung erstmals ausführlich und zeigt, wie Kreuzenstein bis heute die Vorstellungen einer mittelalterlichen Burg prägt. Sie ist auch beliebter Schauplatz der Filmindustrie.