KI-Schutz für unsere Flüsse
Das Ufer der Oder bot vor zwei Jahren einen grausamen Anblick: Hunderte Fische trieben tot im Wasser des deutsch-polnischen Stroms, gemeinsam mit unzähligen Schnecken und Muscheln, dahingerafft von einer giftigen Algenblüte. Ausgelöst wurde das Fischsterben durch einen erhöhten Salzgehalt des Flusses und die klimabedingt hohen Wassertemperaturen.
Solche Umweltkatastrophen beherrschen kurze Zeit alle Medien. Danach sinkt die Aufmerksamkeit schnell wieder ab, vor allem wenn es um alltägliche Ökosysteme wie Flüsse geht. Dabei sind diese Lebensadern besonders stark von menschlicher Aktivität betroffen – zumal sich viele Städte an den Ufern großer Ströme entwickelt haben.
Besonders tückisch sind Mikroschadstoffe, die andauernd, aber nur in niedriger Konzentration ins Wasser gelangen und dennoch eine Gefahr für Mensch und Tier sind. Um diesen Schadstoffen auf die Spur zu kommen, setzt ein Forschungsteam um den Informatiker Atakan Aral von der Universität Wien künstliche Intelligenz ein. Wie das vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Projekt zum nachhaltigen Gewässerschutz beitragen kann, erklärt der Informatiker im Interview.
Der Weltwassertag wird jährlich am 22. März gefeiert und von den Vereinten Nationen organisiert. 2024 steht er unter dem Motto Leveraging Water for Peace (Wasser für Frieden).
Herr Aral, vielen Menschen ist die Verunreinigung der Flüsse etwa mit Dünger oder Plastik bewusst. Mikroschadstoffe sind dagegen eher unbekannt. Worum handelt es sich dabei?
Aral: Als Mikroschadstoffe bezeichnen Fachleute verschiedene Chemikalien, die im Wasser nur sehr schwer zu erkennen sind, weil sie nur in geringen Konzentrationen vorkommen und darüber hinaus farb- und geruchlos sind. Das ist besorgniserregend, denn wenn diese Verbindungen in Gewässer eindringen, kann das lange Zeit unbemerkt bleiben. Die Gefahr liegt also einerseits in ihrer Unauffälligkeit, andererseits in den mitunter schwerwiegenden Auswirkungen dieser Stoffe, die eine hohe Giftigkeit besitzen können, krebserregend oder hormonell wirksam sind oder zu Antibiotikaresistenzen beitragen. Wir sprechen dabei unter anderem von Flammschutzmitteln, pharmazeutischen Verbindungen, Verbrennungsnebenprodukten, Konservierungsmitteln und vielen anderen von Menschenhand hergestellten Chemikalien.
Nichts davon hat in Flüssen etwas verloren. Wie gelangen diese Stoffe dennoch ins Wasser?
Aral: Zum Beispiel durch Fabriken, die Flusswasser verwenden, entweder indirekt, um ihre Anlagen zu kühlen, oder direkt für die Industrieprozesse. Das Wasser wird zwar durch eine Wasseraufbereitungsanlage zurück in den Fluss geleitet, doch kommt es dort zu einem Ausfall, treten bestimmte Schadstoffe über einen längeren Zeitraum ununterbrochen – und unbemerkt – aus. Mikroschadstoffe werden aber auch von der Oberfläche in Wasserläufe gewaschen, etwa wenn Starkregen niedergeht, oder sickern aus Deponien ins Grundwasser, wodurch sie schließlich auch in Flüssen landen. Das bedeutet, dass beinahe jeder Fluss, in dessen Nähe sich Menschen aufhalten, mit Mikroschadstoffen belastet ist. Freilich sind manche Flüsse so stark makroskopisch verschmutzt, dass die Mikroschadstoffe nicht im Fokus stehen.
Im Rahmen Ihres Forschungsprojektes haben Sie neue Wege gefunden, Mikroschadstoffe zu überwachen, und zwar mit künstlicher Intelligenz. Woher kamen die Daten, um das KI-Modell zu trainieren?
Aral: Unser Team hat Messungen an zwei Flüssen durchgeführt, am Ergene und am Kokemäenjoki in Finnland. Gerade Ersterer, an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei gelegen, ist stark von der Textilindustrie belastet und damit ein interessanter Anwendungsfall. Konkret bekommen wir direkte Daten zu Mikroschadstoffen aus entnommenen Wasserproben, die im Labor analysiert werden. Das ist aber leider kostspielig und kann nicht in Echtzeit passieren. Daher war es Teil unseres Forschungsprojektes, Detektoren zu entwickelte, die den Fluss live überwachen können. Auch hier haben wir künstliche Intelligenz eingesetzt, um aus Faktoren wie der Wassertrübung oder -farbe, die wir in Echtzeit beobachten können, auf die Belastung mit Mikroschadstoffen schließen zu können. Darüber hinaus erlaubt uns die KI, aus den punktuell erhobenen Labordaten auf die Gesamtsituation zu generalisieren.
Detektoren, Wasserproben, Laboranalysen – das klingt nach aufwendiger Infrastruktur, um die für KI notwendigen Datenmengen zu generieren. Ist das praktikabel?
Aral: Natürlich soll die notwendige Infrastruktur so nachhaltig wie möglich sein. Wir wollen etwa nicht, dass der Fluss mit Sensoren überflutet wird, zumal diese Geräte batteriebetrieben sind und nach ihrer Lebensdauer meist in der Umwelt bleiben. Es ist also kein guter Weg, überall Sensoren zu platzieren, um die qualitativ hochwertigen Daten zu erhalten, die wir für unsere KI-Modelle benötigen. Unser Ziel war es daher, mithilfe von künstlicher Intelligenz von Messwerten, die an wenigen Standorten gesammelt wurden, auf das gesamte Flussnetz zu verallgemeinern. Wir konnten kürzlich zeigten, dass wir mit fünfzehn Sensoren ein sehr großes Gebiet im Nordwesten der Türkei abdecken können, wofür vorher siebzig Sensoren notwendig waren. Dabei haben wir KI verwendet, um die von den Sensoren gesammelten Daten zu analysieren und eine intelligente Auswahl der kritischen Sensor-Standorte zu treffen.
„Wir haben Mikroschadstoffe identifiziert, die wir bis zu ihrem Herkunftsort zurückverfolgen können.“
Wie ist Ihnen das gelungen?
Aral: Unser KI-Modell ist ein neuronales Graph-Netzwerk, das aus vielen Knoten besteht, deren Verbindungen repräsentieren, wie stark sich Veränderungen eines Parameters in einem Knoten auf andere Knotenpunkte auswirken. Mithilfe der gesammelten Daten entsteht so eine digitale Darstellung des Flusslaufes, wobei wir natürlich die Hydrologie des Flusses berücksichtigen. Dafür greifen wir auf Expert:innen zurück, die nach dem selbstständigen Lernprozess der KI entscheiden, ob die Verbindungen zwischen den Knoten wirklich Sinn ergeben. Dieses Netzwerk erlaubt es uns schließlich, Veränderungen von einer Verästelung bis zur Wurzel zurückzuverfolgen. Hier ist auch das sogenannte Fingerprinting wichtig: Wir haben Mikroschadstoffe identifiziert, die für bestimmte Industriebranchen charakteristisch sind, und die wir so bis zu ihrem Herkunftsort zurückverfolgen können.
Im Gegensatz zu menschlichen Fingerabdrücken können sich solche Schadstoffmarker ändern, wenn etwa die gleiche Fabrik an unterschiedlichen Tagen verschiedene Chemikalien verwendet. Wie gehen Sie damit um?
Aral: Indem unser Lernprozess keine einmalige Sache ist. Unser KI-Modell lernt kontinuierlich aus den periodisch entnommenen Messwerten und in Echtzeit gemessenen Daten. Dadurch können sich die Verbindungen zwischen Knotenpunkten mit der Zeit abschwächen oder verändern. Das System verbessert sich also von selbst und passt sich den geänderten Bedingungen an. Fachleute sprechen von Onlinelernen. Allerdings ist das nicht nur wegen der Schadstoff-Fingerabdrücke notwendig, auch der Klimawandel sorgt für Veränderungen, etwa in der Konzentration von Mikroschadstoffen.
„Unser KI-Modell lernt kontinuierlich aus in Echtzeit gemessenen Daten. “
Eine weitere Herausforderung ist das Terrain: Flüsse müssen auch an Abschnitten überwacht werden, wo Strom und Internetzugang Mangelware sind. Beides ist aber für KI unerlässlich. Limitiert das nicht die Einsatzgebiete Ihres Projekts auf hoch entwickelte Industriestaaten?
Aral: Eben weil wir sehr abgelegene Gebiete beobachten, haben wir auch die Art und Weise optimiert, wie Daten gesammelt werden. Entlang der Flussläufe ist etwa eine Mobilfunkverbindung manchmal nicht vorhanden. Entweder baut man jetzt Kabelschächte und Funkmasten, oder aber man findet günstige, mitunter auch umweltfreundliche Lösungen, um an die Daten zu gelangen. In dieser Hinsicht haben wir verschiedene Dinge probiert. Zum Beispiel arbeiten wir mit Drohnen, die diese Orte regelmäßig ansteuern. Tatsächlich haben wir aber auch Methoden entwickelt, das maschinelle Lernen direkt an der Quelle durchzuführen. Normalerweise werden die Daten für den Lernprozess an Cloud-Speicher geschickt. Wenn dagegen die Verarbeitung der Rohdaten und die ersten Lernschritte vor Ort geschehen, müssen viel weniger Daten übertragen werden. Dieses dezentrale Lernen ist eines der Hauptergebnisse unseres Projekts.
Welche anderen Anwendungsbereiche sind für diese Methode denkbar?
Aral: Wenn Sie keine Cloud für die Datenverarbeitung benötigen, hat das einige Vorteile: Einerseits ist man nicht darauf angewiesen, womöglich persönliche Informationen zu verschicken. Könnten also die KI-Modelle der bekannten Text- und Bildgeneratoren teilweise direkt auf unseren Endgeräten laufen, wäre das ein Gewinn für den Datenschutz. Ein anderes Einsatzgebiet der Methode ist der ländliche Raum, wo Konnektivität oft sehr begrenzt ist. Indem man bereits auf den Endgeräten mit dem Lernprozess beginnt, reduziert sich die zu übertragende Datenmenge drastisch, wodurch auch abgelegene Gebiete an KI teilhaben könnten. Zudem mussten wir für unsere Detektoren besonders energieeffiziente Algorithmen entwickeln, die überall da praktisch sind, wo Strom knapp ist. Auch hier sind unzählige Anwendungsmöglichkeiten denkbar, nicht zuletzt etwa nach Naturkatastrophen, wo Einsatzkräfte KI in der Bild- oder Videoerkennung einsetzen könnten.
Atakan Aral studierte Informatik und Ingenieurwesen an den Technischen Universitäten Mailand und Istanbul, wo er in Technischer Informatik promovierte. Heute ist er Postdoktorand in der Forschungsgruppe Scientific Computing der Fakultät für Informatik der Universität Wien. Seine Forschungsinteressen umfassen Ressourcenmanagement für Edge-Computing, Edge-KI und das Internet der Dinge, wobei sein Schwerpunkt auf Umweltüberwachungssystemen liegt.
Aral koordiniert das internationale SWAIN-Projekt und ist in führender Rolle am TROCI-Projekt (Start 2024) beteiligt, das von der EU und dem Wissenschaftsfonds FWF unterstützt wird. Er ist Mitglied des Environment and Climate Research Hub (ECH) der Universität Wien sowie Vorsitzender der Gruppe Climate Change des Center for Artificial Intelligence and Machine Learning (CAIML) der TU Wien.
Das Forschungsprojekt SWAIN
Flusswasser wird von Industrieanlagen für verschiedene Zwecke genutzt, wodurch Mikroschadstoffe in die Gewässer gelangen können. Diese Stoffe haben schwerwiegende Auswirkungen auf Gewässerökosysteme und Menschen. Im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts „Nachhaltige Wasserwirtschaft durch IoT-gesteuerte KI (SWAIN)“ entwickelte ein interdisziplinäres und internationales Team rund um Atakan Aral ein Überwachungssystem für Mikroschadstoffe basierend auf künstlicher Intelligenz.
Beteiligt sind an dem Forschungskonsortium neben der Universität Wien die TU Wien, die schweizerische Università della Svizzera italiana, die TU Istanbul, die Boğaziği-Universität und das Finnische Umweltinstitut. Zum Einsatz kommen KI-platzierte Sensoren zur Erhebung der für das maschinelle Lernen notwendigen Daten. Im kontinuierlichen Lernprozess der KI wird menschliches Fachwissen miteingebunden, wodurch aus in Echtzeit erhobenen Faktoren auf die Belastung mit Mikroschadstoffen geschlossen werden kann. Förderungen erhält das Projekt ebenso von der Schweiz, der Türkei und Finnland durch das CHIST-ERA-Netzwerk.