Ariane Sadjed
Persische und jüdische Kultur sind eng verwoben, sagt Ariane Sadjed. Die Österreicherin mit persischen Wurzeln erforscht die Geschichte ihrer Vorfahren, die Jüd:innen im Iran und widerlegt überlieferte Narrative. Die Kulturwissenschaftlerin zeigt vielmehr die Vielschichtigkeit des Zusammenlebens von Jüd:innen und Muslim:innen über Jahrhunderte auf. © Stefan Csaky/ÖAW

„Ursprünglich wollte ich vor allem wissen, wie Jüd:innen im Iran heute leben.“ In diesem vermeintlich harmlosen Satz von Ariane Sadjed steckt Sprengkraft, zumindest ein wenig. Das Thema „Jüdisches Leben im Iran“ ist aufgeladen, weil so viele kontroverse Aspekte mitschwingen, wie das Verhältnis von Iran und Israel, religiöse Minderheiten im islamischen Raum oder das Zusammenleben von Jüd:innen und Muslim:innen. Von all diesen komplizierten Begleitumständen hat sich Sadjed aber nicht abschrecken lassen. „Ich habe über meine eigene Familiengeschichte ohnehin einen etwas anderen Einblick in das Thema.“

Sadjed ist Halbiranerin: Ihre Familie väterlicherseits ist iranisch-jüdischen Ursprungs, ihre Mutter Österreicherin. Der iranische Teil ihrer Familie ist schon vor der Islamischen Revolution 1978/1979 ausgewandert. Nach der Revolution brachen dann alle Brücken zum Iran ab. „Es war das schreckliche, gruselige Land, das man nur aus dem Fernseher kannte“, erinnert sich Sadjed. „Ich habe aber dennoch ein Interesse entwickelt, herauszufinden, wie es dort wirklich ist.“

Über ein großes, vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt bekommt sie ab 2018 die Möglichkeit, das jüdische Leben im Iran gründlicher zu erforschen. Ein Jahr nach Projektstart kann Sadjed dann auch selbst in den Iran fahren und Kontakt zu Menschen aus der jüdischen Gemeinde knüpfen. „Ich habe schon gemerkt, dass es eine große Diskrepanz gibt zwischen dem, was man hier in Österreich wahrnimmt, und dem, wie das Leben dort wirklich ist.“

Weg von pauschalierenden Metaerzählungen

In Österreich stoße sie meistens auf zwei Extreme, erzählt die Forscherin. Einerseits die Menschen, die Jüdischsein vor allem mit europäischen Jüd:innen und dem Holocaust verbinden und gar nicht wüssten, dass es iranische Jüd:innen gibt. Rede man mit denen, seien sie oft überrascht, dass es Synagogen in Teheran gebe. Und dann gebe es die andere Seite: jene, die sich schon damit beschäftigt hätten, bei denen aber das Narrativ vorherrsche, dass Muslim:innen Jüd:innen immer unterdrückt hätten und das heute immer noch tun würden. Seit einigen Jahren kommt noch ein weiteres Narrativ hinzu, erzählt Sadjed: von jenen, die das komplizierte Thema beschönigen und denken, die Jüd:innen hätten sich schon immer als Iraner:innen gefühlt; das Verhältnis zwischen ihnen und den Muslim:innen wird also idealisiert. Das sind laut der Wissenschaftlerin hauptsächlich Leute, die mit dem israelisch-zionistischen Diskurs nicht einverstanden sind.

Molla Agha Baba Synagoge
Iranische Juden betreten die Molla Agha Baba Synagoge in der Stadt Yazd knapp 700 Kilometer südlich der Hauptstadt Teheran. Der Iran, in dem Juden seit mehr als 3.000 Jahren leben, hat die größte jüdische Bevölkerung im Nahen Osten außerhalb Israels. © Ebrahim Noroozi / AP / picturedesk.com

„Für mich war das Spannende, zu schauen: Wie ist es im Alltag?“, sagt Sadjed. „Ich wollte weg von so Metanarrativen, nach denen ‚die Jüd:innen‘ so und so seien, hin zu einzelnen, kleinen Geschichten.“ Die studierte Kulturwissenschaftlerin arbeitet anthropologisch und ist es gewohnt, auch außerhalb der Archive nach Material zu suchen. Sie beginnt, sich dem Thema über Familiengeschichten zu nähern: Sadjed führt Interviews mit iranischen Jüd:innen und fragt sie, was ihnen ihre Eltern von früher erzählt haben. Von einigen bekommt sie mit der Zeit auch Unterlagen, von Memoiren bis hin zu privaten Archiven. „Da habe ich wirklich schöne Sachen gefunden, die bisher gar nicht in der Forschung berücksichtigt worden sind.“ Aufgrund der schwer zugänglichen Dokumente im Iran, aber auch aufgrund einer eurozentristischen Sichtweise basiert ein Großteil der Forschungsarbeit meist auf Texten über, selten von Jüd:innen im Iran.

„Ich wollte weg von Metanarrativen, nach denen ‚die Jüd:innen‘ so und so seien.“ Ariane Sadjed

Langsam formt sich ein Bild

Der Iran macht es Ausländer:innen, die ihn erforschen wollen, nicht leicht. Auch Wissenschaftler:innen, die – anders als die meisten Amerikaner:innen und Israelis – einreisen dürfen, bekommen nicht alles, was sie brauchen. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften, insbesondere das Institut für Iranistik, an dem Sadjed forscht, hat schon lange gute Beziehungen in den Iran. „Über diese Kontakte habe ich dann langsam weitere Kontakte aufgebaut: zu Menschen aus dem Iran, zu Familien, die langsam immer mehr erzählt haben.“ So habe sich dann aus verschiedenen Quellen, auch mit Archivmaterial aus Israel, ein Bild zusammengefügt. „Ich muss dazu immer sagen, dass die Einblicke mit Vorsicht zu genießen sind“, betont Sadjed. Viele Menschen seien misstrauisch und würden nur sehr vorsichtig reden, teilweise würden Telefone von Gesprächspartner:innen abgehört. „Manchmal kann man erst nach jahrelanger Erfahrung den Subtext in Aussagen lesen.“

Pessach-Feier in der Stadt Mashhad im Iran
Pessach-Feier in der Stadt Mashhad, im Nordosten des Iran (1927). Die Stadt ist bekannt dafür, dass Jüd:innen im 19. Jahrhundert nach außen hin als Muslim:innen lebten. Heute gibt es keine jüdische Bevölkerung mehr in Mashhad. Das Foto stammt aus der Reihe „The History of Mashhadi Jews“ (2 Bd.) © ÖAW

Vor der Islamischen Revolution war der Iran ein Land, in dem die Religion eher zurückgedrängt wurde. Die Jüd:innen, die häufig einen wirtschaftlichen Aufstieg durchlebt hatten, lebten wie viele andere Iraner:innen säkular. Mit Religion hatte man wenig am Hut, die wirklich religiösen Jüd:innen galten auch unter ihresgleichen als rückständig. Als die Revolution kam, wanderten viele aus. Für viele war das ein materieller und sozialer Abstieg: Im Iran bewohnten sie große Häuser mit Dienstmädchen, in Israel stießen viele als „orientalische Jüd:innen“ auf Schwierigkeiten.

Religion kehrt zurück

Für die Jüd:innen, die im Iran bleiben, wird Religion zwangsläufig immer wichtiger. Alles geht nur mehr über religiöse Diskurse, und die Iraner:innen, für die Religion keine zentrale Rolle spielt, müssen nun ihr Jüdischsein betonen. „Alle, mit denen man spricht, sagen dasselbe: Sie seien durch die Revolution religiöser geworden“, sagt Sadjed. Dementsprechend gilt auch: Alles, was über die religiöse Schiene läuft, funktioniert. Die Jüd:innen haben Autonomie, es gibt Synagogen, koschere Restaurants und koschere Schlachter. Der offizielle iranische Diskurs ist: Die Jüd:innen im Land seien Iraner:innen, man bekämpfe nur den Zionismus. Auch die iranischen Jüd:innen, die geblieben sind, hätten ein kompliziertes Verhältnis zum jüdischen Staat. „Sie sagen, dass sie den Zionismus ablehnen. Aber natürlich wollen sie nach Israel fahren, wo sie Verwandte haben.“

Heute gibt es nicht mehr viele Jüd:innen im Iran. Die eigenständigen Traditionen wie die jüdisch-persische Sprache gehen verloren oder sind es bereits. Materiell geht es den Jüd:innen im Iran nicht schlecht. Die meisten sind Ärzt:innen oder Unternehmer:innen und wollen auch bleiben. „Es gibt schon rechtliche Formen der Diskriminierung im modernen Iran“, erklärt Sadjed. „Aber wie das in der Praxis ausgeübt wird, ist schwer zu sagen. Das ist meistens anders als in den offiziellen Dekreten.“

Manuskript in Judeo-Persisch von der Sage über Yusuf und Zulakhai
Ein Manuskript in Judeo-Persisch von der Sage über den Propheten Yusuf und Zulakhai, die sowohl im Koran als auch im Alten Testament zu finden ist. (Mashhad, 1852-1853). Judeo-Persisch ist Persisch in hebräischer Schrift. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts schrieben iranische Jüd:innen vorwiegend auf Hebräisch. Hebräisch als gesprochene Sprache war auf Liturgie beschränkt. © Library of the Jewish Theological Seminary New York, ÖAW

Ein Vorlesungsverzeichnis als Sommerlektüre

Das Thema der religiösen Minderheiten begleitet Sadjed schon lange. Sie habe sich mit den weit verbreiteten Stereotypen über den Iran immer unwohl gefühlt, sagt sie. Daher beginnt sie sich früh mit Bereichen zu beschäftigen, die oft eindimensional analysiert werden. Sadjed studiert Psychologie an der Universität Wien, wo sie sich besonders für Kulturpsychologie interessiert. Für diese Ministrömung gibt es auf der Uni nur einen Professor, bei dem sie ihre Diplomarbeit schreibt. Diese beschäftigt sich mit dem Verständnis von Feminismus unter Muslim:innen im D-A-CH-Raum.

„Mich haben Lehre und Forschung immer angezogen“, erinnert sich Sadjed. „Ich kann mich noch erinnern, wie ich im Urlaub in Mexiko am Laptop saß und das Vorlesungsverzeichnis der Uni Wien durchgeschaut habe.“ Sie entscheidet sich für ein Doktorat und geht an die Berliner Humboldt-Universität, weil eine dortige Professorin der Kulturwissenschaften sie fasziniert. Sie beginnt, anthropologisch zum Iran zu forschen. Später geht Sadjed ein Jahr in die USA und kommt dort dem Berufsbild „Wissenschaftlerin“ näher. Sie schließt ihr Doktorat ab, bekommt eine Tochter und merkt, wie schwierig der Beginn einer Forschungskarriere ist. „Der Antrag für das Projekt über jüdisches Leben im Iran war mein Einstieg in die Wissenschaft“, sagt Sadjed. „Seitdem kämpfe ich, dass es weitergeht.“

Das Projekt ist mittlerweile abgeschlossen, die Zusage für ein neues ist schon da. Gemeinsam mit Kolleg:innen der tschechischen Akademie der Wissenschaften wird Sadjed über die Grenzen des heutigen Iran hinausschauen. Historisch gesehen waren iranische Jüd:innen über Jahrhunderte sehr verbunden mit afghanischen und zentralasiatischen. Diese Verbindungen, die die heutigen Grenzen nicht abbilden können, stehen als Nächstes auf dem Programm.

Aktuelle Proteste finden breite Solidarität

Und dann gibt es noch ein Thema, dem sich niemand, der zum Iran arbeitet, entziehen kann, auch wenn es nicht das Spezialgebiet ist. Im September 2022 erschütterten größere Protestwellen das Land. Iraner:innen wehren sich seither gegen das Regime, auf der Straße wie in den sozialen Medien. Und auch hier führt die „Islambrille“ dazu, dass wichtige Aspekte unter den Tisch fallen. „Ich fand es problematisch, wie stark weltweit der Fokus auf ‚Die Frauen wehren sich gegen den Schleier‘ war“, sagt Sadjed. „Das war der Aufhänger, aber es ging um viel mehr.“ Es seien Proteste gegen das starre Regime und die Wirtschaftskrise, die von Frauen und Männern, Religiösen und Säkularen getragen seien. „Das ist nicht die Teheraner Mittelklasse, die bisher die Träger dieser Proteste ist. Es gibt eine Solidarisierung bis in die ethnischen Minderheiten und die religiöse Landbevölkerung hinein.“ Deshalb habe das Regime auch so eine Angst.

Ein Freund von ihr, selbst iranischer Jude, sei skeptisch, dass sich etwas ändere, sagt Sadjed. Sie selbst sei etwas optimistischer: Viele Leute hätten gemerkt, dass sie gemeinsam etwas verändern können. „Aber wie das weitergeht und wohin sich das entwickelt, das kann niemand sagen.“

Zur Person

Ariane Sadjed studierte Psychologie und Kulturwissenschaften und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Iranistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Ihr Fokus liegt auf der jüdischen Geschichte im persischsprachigen Raum, auf der Rolle des Islam in der Moderne, ethnischer und religiöser Identität sowie Migration. Unter anderem hat Sadjed jüdische und islamische Minderheiten in Österreich und ihre gemeinsamen Erfahrungen untersucht.

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