Wolfgang Lutz beschĂ€ftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad einer Bevölkerung und der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes. „Von Bildung hĂ€ngt so viel ab: Gesundheit, Lebenserwartung, Job, Einkommen – bis hin zu Demokratisierung.“ © FWF

Er ist zurzeit einer der gefragtesten Interviewpartner, wenn es um die FlĂŒchtlingsströme Richtung Europa geht: Wolfgang Lutz, GrĂŒnder und Leiter des „Wittgenstein Center for Demography and Global Human Capital“. In dem Zentrum am Campus der WirtschaftsuniversitĂ€t Wien (WU) arbeiten Forschungsteams zu Themen wie Bevölkerungsentwicklung, Gesundheit, Bildungspolitik, Alter, Migration und Bildung - angesichts einer wachsenden Weltbevölkerung und knapper werdender Ressourcen, gesellschaftlich und politisch brennende Fragen. Aufgabe des Instituts ist es, demografische Analysen des Aufbaus von Humanressourcen und ihrer Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft zu liefern. Bezogen auf die Fluchtbewegungen geht es um zwei Perspektiven: Wie sind die Bedingungen in den EmpfĂ€ngerlĂ€ndern und wird es ihnen gelingen, die Menschen zu integrieren? Und zweitens: Wie wird sich die Situation in den SenderlĂ€ndern entwickeln?

Alphabetisierung und Wohlstand

„Universale Alphabetisierung ermöglicht Wohlstand und Demokratie.“ Wolfgang Lutz

Lutz beschĂ€ftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad einer Bevölkerung (dem Humankapital) und der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes. Dabei haben die Analysen deutlich gezeigt, dass nicht die Bildung einer Elite Motor fĂŒr die wirtschaftliche Entwicklung einer Gesellschaft ist, sondern die Ausbildung breiter Teile der Bevölkerung. „Die universale Alphabetisierung der Bevölkerung hat auch in Europa die wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht“, zieht er im GesprĂ€ch mit „scilog“ einen historischen Vergleich, wobei die ersten LĂ€nder in dieser Entwicklung die protestantischen waren und die Motivation dahinter eine religiöse war. „In der Reformation war die Forderung am Tisch, jeder solle lesen und schreiben können, um die Bibel selber lesen zu können“, erlĂ€utert Lutz. Als jĂŒngere Beispiele nennt er LĂ€nder wie SĂŒdkorea, Singapur oder Mauritius. „Mauritius war in den 1960er Jahren Ă€rmer als viele andere afrikanische LĂ€nder. Universelle Bildung hat ihnen innerhalb von nur 50 Jahren den wirtschaftlichen Aufstieg ermöglicht.“

Investition in Bildung und Gesundheit

Deshalb ist Lutz auch bei der kontroversiellen Frage, Entwicklungshilfe ja oder nein, ein Verfechter zielgerichteter Hilfe: „Man sollte in Basisbildung und Basisgesundheit investieren. Damit befĂ€higen Sie die Menschen, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, um sich nicht nach westlichen Vorschriften, sondern nach ihrer eigenen Kultur zu entwickeln“, erlĂ€utert Lutz.

"Die Entwicklungshilfe muss gezielt in Basisbildung und Basisgesundheit investieren. Damit befĂ€higt man die Menschen, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen." © Shutterstock/Lucarelli Temistocle

Die Mathematik von den Menschen

Der in Rom geborene und in Deutschland und Wien aufgewachsene Sohn eines Historikers begann schon frĂŒh, sich mit diesen grundlegenden gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Anstoß gab die LektĂŒre des Buches „Die Grenzen des Wachstums“ vom Club of Rome, das er als SechzehnjĂ€hriger las. Deshalb studierte Lutz zunĂ€chst Theologie, Philosophie und Mathematik – sozusagen der qualitative und der quantitative Zugang. Diese Interessen vereinte er schließlich in einem Studium der Demografie, die er die „Mathematik von den Menschen“ nennt.

Demografischer Übergang

So unterscheidet der Demograf auch zwischen den aktuellen kriegsbedingten, unvorhersehbaren FlĂŒchtlingsströmen, die ein „humanitĂ€rer

Um die Jahrhundertwende gab es massive Auswanderungswellen von EuropĂ€ern – auch Österreichern - Richtung Amerika. "Das vergessen wir heute manchmal", erinnert Lutz. © Shutterstock/Everett Historical

Notfall“ sind, und einer zu erwartenden Migration aus Entwicklungs- und SchwellenlĂ€ndern, die eine Folge der Ungleichzeitigkeit der demografischen Transition ist. „Der demografische Übergang ist der Prozess, in dem zuerst die Sterberaten und - mit einer gewissen Verzögerung von Jahrzehnten - auch die Geburtenraten sinken. WĂ€hrend die Geburtenraten bei sinkenden Sterberaten noch hoch sind, wĂ€chst die Bevölkerung sehr schnell“, erlĂ€utert Lutz und zieht abermals einen historischen Vergleich: „In Österreich waren wir um 1900 in dieser Phase, und es gab massive Auswanderungswellen nach Übersee. Das vergessen wir heute manchmal. Die Österreicher hatten damals das GlĂŒck, dass es leere Kontinente gab, wo sie willkommen waren.“

"Von Bildung hÀngt so viel ab"

Ob der GeburtenrĂŒckgang einsetzt, hĂ€ngt wiederum entscheidend von der Allgemeinbildung ab – und im Speziellen von der Bildung der Frauen. „In vielen afrikanischen LĂ€ndern ist nach 2000 die Einschulungsrate gestiegen, seit der Wirtschaftskrise 2007 hat sie stagniert und heute sinkt sie zum Teil wieder“, nennt Lutz Zahlen und meint besorgt: „Das ist das schlimmste, was ĂŒberhaupt passieren kann. Von Bildung hĂ€ngt so viel ab: Gesundheit, Lebenserwartung, der Job, das Einkommen – bis hin zu Demokratisierung. MĂŒndige BĂŒrger ermöglichen eine moderne Demokratie.“ Und was, wenn das fĂŒr die LĂ€nder Afrikas nicht gelingt? „Wenn sich bei schwindenden Ressourcen und Klimawandel die Bevölkerung Afrikas noch verdreifacht, stehen große Probleme bevor. Ob die Leute still vor Ort zugrunde gehen, oder ob sie die Energie und das Geld haben, sich bis Europa durchzuschlagen, das wird sich zeigen“, gibt Lutz zu bedenken.

„Es geht um das rechte Maß: Wachstum fĂŒr alle, ohne zu starke Ungleichheiten.“ Wolfgang Lutz

Bildung und Integration

Laut Wolfgang Lutz hĂ€ngt auch der Erfolg der Integration der Zugewanderten von Bildung ab. Nicht nur von jener der Zuwanderer, sondern auch von jener der EmpfĂ€ngerlĂ€nder, weil „gebildete Menschen meist flexibler sind“, so der Experte. Als Voraussetzung auf Seiten der EmpfĂ€ngerlĂ€nder sieht er einen gewissen Grundkonsens in einer Gesellschaft, SolidaritĂ€t. Wachstum an Wohlstand bringt mehr Möglichkeiten, aber auch mehr Ungleichheit. Als studierter Theologe setzt sich Lutz auch mit der ethischen Dimension auseinander: „Es geht darum, ein rechtes Maß zu finden: Wachstum fĂŒr alle, aber ohne zu starke Ungleichheiten.“ Als gelungene Modelle nennt Lutz einmal mehr die skandinavischen LĂ€nder. Sie wĂŒrden der Gesellschaft relativ homogene Chancen bieten – bei sehr hohem wirtschaftlichen und technologischen Stand.“ Doch was machen die Skandinavier anders? „Sie haben sehr frĂŒh ein hohes allgemeines Bildungsniveau erreicht. Es gab dadurch frĂŒh eine homogene Kultur - keine Klassenkultur wie bei uns – bei der das Gemeinsame im Vordergrund stand, bei der quasi alle ‚bĂŒrgerlich‘ geworden sind“, erklĂ€rt Lutz.

ZirkulÀre Migration

Ein neues PhĂ€nomen, das durch die steigende MobilitĂ€t zu beobachten ist, ist die sogenannte „zirkulĂ€re Migration“: Die Menschen kommen fĂŒr einige Jahre, verdienen Geld, schicken Geld nachhause um ihren Familien zu helfen, gehen wieder in ihre UrsprungslĂ€nder zurĂŒck und bringen Erfahrungen und Kontakte mit. „Die zirkulĂ€re Migration ist – wenn sie gut gemanagt ist – zu beiderseitigem Vorteil. Das ist ein positives Muster und in diese Richtung lĂ€uft es auch zunehmend“, erklĂ€rt Lutz.

„ZirkulĂ€re Migration ist zu beiderseitigem Vorteil.“ Wolfgang Lutz

Aus der Versenkung

Als der heute 58-JĂ€hrige nach Österreich zurĂŒckgekehrt war, gab es hier im Feld der Demografie „praktisch nichts“. Das hatte historische GrĂŒnde: „WĂ€hrend der Nazizeit hat sich die Demografie auf Fragen wie ‚Rassenhygiene‘ konzentriert und ist nach dem Zweiten Weltkrieg – zu Recht – in der Versenkung verschwunden“, erzĂ€hlt Lutz. „HĂ€tte es nicht das IIASA in Laxenburg gegeben, wohin gerade Nathan Keyfitz als emeritierter Harvard-Professor gekommen war, um das Bevölkerungsprogramm zu leiten, wĂ€re ich vermutlich wieder in die USA zurĂŒckgegangen“, erzĂ€hlt er. Dass die Demografieforschung in Österreich heute mit dem Institut an der WU eine universitĂ€re Anbindung hat, und somit auch wissenschaftlicher Nachwuchs herangebildet werden kann, ist Wolfgang Lutz zu verdanken.

Epizentrum der Demografie in Europa

2011 grĂŒndete der vielfach ausgezeichnete und renommierte Wissenschafter das Wittgenstein Center - aus Mitteln des Wittgenstein-Preises des Wissenschaftsfonds FWF, den er 2010 verliehen bekam. Sein erklĂ€rtes Ziel dabei war, die Kompetenzen von drei Forscherteams zusammenzufassen, die er zuvor bereits geleitet hatte: dem Institut fĂŒr Demographie der Akademie der Wissenschaften, dem World Population Program des Internationalen Instituts fĂŒr Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg sowie der Abteilung fĂŒr Demografie der WU. Im August 2014 erschien die erste große Publikation des Wittgenstein Centers, das „World Population & Global Human Capital in the Twenty-First Century“, in dem fĂŒr alle LĂ€nder dieser Welt Szenarien der Entwicklung des Humankapitals untersucht wurden. Heute gilt Wien als das Epizentrum der Demografie in Europa.


Wolfgang Lutz leitet seit 1994 das „World Population Program“ der IIASA, seit 2002 ist er Direktor des „Vienna Institute of Demography“ (VID) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und seit 2008 Professor an der WirtschaftsuniversitĂ€t Wien. Unter zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er 2008 den „ERC Advanced Grant“ des EuropĂ€ischen Forschungsrats und 2010 den Wittgenstein-Preis des Wissenschaftsfonds FWF. Mit den Mitteln dieser Forschungsförderungen bĂŒndelte er 2010 die Forschungseinrichtungen unter dem Dach des „Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital“. Lutz studierte Theologie, Philosophie, Mathematik und Statistik an den UniversitĂ€ten MĂŒnchen, Wien und Helsinki sowie Demografie an der University of Pennsylvania. Er ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen.


Mehr Informationen

Wolfgang Lutz, William P. Butz, Samir KC (eds.): World Population & Global Human Capital in the Twenty-First Century, Oxford University Press, 2014
Executive Summary: http://www.iiasa.ac.at/publication/more_XO-14-031.php
Wittgenstein-Projekt: Demografie
FWF-Programm: Wittgenstein-Preis