Hoffen und Bangen

Wissenschaftler:innen sind fĂŒr gewöhnlich nĂŒchterne Menschen. Die BeschĂ€ftigung mit GefĂŒhlen ist â auĂerhalb der psychologischen Disziplinen â eher nicht ihr Ressort. Wenn sich also ein Spezialist fĂŒr Ostmittel- und SĂŒdosteuropa, ein Slowenien-Fachmann und eine RumĂ€nien-Expertin zusammentun, um lĂ€ngst vergangene Emotionen zu erfassen, kann man das guten Gewissens âungewöhnlichâ nennen.
âZwischen Angst und Hoffnung. LĂ€ndliche Perspektiven im Zeitalter des GroĂen Kriegesâ heiĂt das Forschungsprojekt, das an der UniversitĂ€t Graz angesiedelt ist. Der Historiker Harald Heppner betreut es maĂgeblich. âUnser Projekt ergrĂŒndet die Frage nach der emotionalen Befindlichkeit der lĂ€ndlichen Bevölkerung in der Zeit vor, wĂ€hrend und nach dem Ersten Weltkriegâ, sagt Heppner. Die lĂ€ndliche Bevölkerung sei von Kriegszeiten immer betroffen gewesen, weil sie VersorgungsgĂŒter verĂ€uĂern und Soldaten stellen musste. âGleichzeitig gibt es in Kriegszeiten aber nicht nur Angst, sondern auch Hoffnung darauf, dass die Folgen des Krieges zu einer Besserung des eigenen Daseins fĂŒhren könnten.â Angst und Hoffnung sind also die groĂen Pole, zwischen denen sich die emotionale Lage der Landbevölkerung bewegte.
Fallbeispiele Slowenien und RumÀnien
Das Projekt konzentriert sich auf zwei Regionen als Fallbeispiel: den Osten Sloweniens und Teile Transsilvaniens (SiebenbĂŒrgen). Beides sind periphere lĂ€ndliche RĂ€ume, die vor dem GroĂen Krieg zu Ăsterreich-Ungarn gehörten, nach dem Krieg aber zu Jugoslawien beziehungsweise RumĂ€nien wechselten. Der Betrachtungszeitraum beginnt um 1900 â âda begannen sich die Auswirkungen der Industrialisierung und Modernisierung am Land bemerkbar zu machenâ, sagt Heppner â und enden etwa Mitte der 20er-Jahre, als sich die Nachkriegsordnung stabilisiert hatte. Im Wesentlichen geht es also um die Frage, wie sich die bĂ€uerlich-lĂ€ndliche Bevölkerung in den zwei Regionen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts fĂŒhlte und wie sie in die Zukunft blickte.
Um die GefĂŒhlswelt von Menschen, die teilweise seit 100 Jahren tot sind, zu ergrĂŒnden, bedient sich das Projekt einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen. Zum einen werden persönliche Quellen, sogenannte âEgodokumenteâ, also TagebĂŒcher oder Memoiren, genutzt, darĂŒber hinaus archivarische Quellen wie Gendarmerieberichte oder PfarrbĂŒcher. Und auch aus staatlichen Quellen lĂ€sst sich manches GefĂŒhl herauslesen. Beispielsweise in Beschwerden bei offiziellen Stellen. Bei staatlichen Quellen ist der Vorteil, dass der Staat vor allem in der Kriegszeit bestimmte GefĂŒhle wie Patriotismus und Durchhaltevermögen erzeugen wollte, die emotionale Lage der Bevölkerung also immer wieder Thema war.

Ergiebige Quellenfunde und Skepsis gegenĂŒber Neuerungen
Mit Projektbeginn im Juni 2019 begann die Suche in den Archiven, auch vor Ort. Diese war ergiebiger als befĂŒrchtet. âWir waren von der Quellenlage fast positiv ĂŒberraschtâ, erzĂ€hlt Heppner. Die gefundenen Quellen wurden analysiert und die Teile, die mit dem GefĂŒhlsleben nichts zu tun hatten, herausgefiltert. Zuletzt wurden dann auch noch Vergleiche angestellt: FĂŒhlten Soldaten an der Front anders als die Leute, die zu Hause am Land geblieben sind? FĂŒhlten Frauen anders als MĂ€nner, Junge anders als Alte?
Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, die Corona-Pandemie sorgte fĂŒr eine Verzögerung von einem halben Jahr. Ein paar Erkenntnisse kann Heppner aber schon verraten. Von 9. bis 10. Juni sollen dann auf einer Fachtagung noch mehr Ergebnisse vorgestellt werden. âDie Zukunft war unvorhersehbar, damals noch mehr als heuteâ, sagt Heppner. Das habe Unsicherheit ausgelöst. âDer lĂ€ndliche Mensch, ob er nun an der Front oder im Hinterland war, musste sich selbst durch diese groĂen VerĂ€nderungen managen.â Das sei am Dorf, wo der gewohnte Rahmen zunĂ€chst erhalten blieb, leichter gewesen als fĂŒr die, die ihre Heimat verlassen mussten, sei es als Soldat oder als Vertriebene:r. Die Modernisierung des Lebens wurde von der Landbevölkerung weder begeistert empfangen noch negiert. âDer lĂ€ndliche Mensch neigt dazu, Neuerungen gegenĂŒber skeptisch zu sein, solange er nicht verstanden hat, was ihm das fĂŒr einen Nutzen bringtâ, sagt Heppner. Ein gewisses Beharrungsvermögen sei da durchaus festzustellen.
Religion gibt Halt in unsicheren Zeiten
Die Frage, welches der beiden GefĂŒhle aus dem Titel des Forschungsprojektes ĂŒberwiegt, lĂ€sst sich nicht klar beantworten. GegenĂŒber allem, was von auĂen kam und den lĂ€ndlichen Menschen zum Objekt gemacht habe, ĂŒberwog erst einmal die Angst, erklĂ€rt Heppner. Aber es habe durchaus auch Hoffnung gegeben, dass das eigene Leben besser werde. âDie Hoffnung ruhte allerdings nicht auf den Behörden oder dem Schicksal, sondern auf Gott.â Speziell am Land seien das noch sehr religiöse Gemeinschaften gewesen.
Die Wissenschaftler:innen stoĂen mit dem Projekt in eine ForschungslĂŒcke vor. Aber die lĂ€ndliche, emotionale Perspektive soll nach Abschluss des Projekts nicht nur auf Fachkonferenzen vorgestellt, sondern auch einem interessierten Publikum nĂ€hergebracht werden. Im Museum fĂŒr Geschichte in Graz lĂ€uft bis Ende Oktober 2022 die Ausstellung âIn einer zerrissenen Zeit. Das Dorf vor 100 Jahrenâ, die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt auf den steirischen Kontext ĂŒbertrĂ€gt. Auch in RumĂ€nien und Slowenien sind Ausstellungen geplant.
Zur Person
Harald Heppner ist emeritierter Professor fĂŒr Geschichte an der UniversitĂ€t Graz. Er ist Spezialist fĂŒr sĂŒdosteuropĂ€ische Geschichte und das 18. Jahrhundert im Donau-Karpatenraum. Heppner studierte Geschichte und Russisch in Graz und absolvierte Forschungsaufenthalte in Bukarest, Sofia und Moskau. Im Jahr 1997 ĂŒbernahm er die Professur fĂŒr SĂŒdosteuropĂ€ische Geschichte an der Karl-Franzens-UniversitĂ€t Graz. Das Projekt âZwischen Angst und Hoffnung. Rurale Perspektivenâ lĂ€uft noch bis Ende 2022 und wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit 353.000 Euro gefördert.
Ausstellungstipp: In einer zerrissenen Zeit. Das Dorf vor hundert Jahren. Graz: Museum fĂŒr Geschichte/Universalmuseum Joanneum, 29. April bis 30. Oktober 2022