Die Chemikerin und Materialwissenschaftlerin Miriam Unterlass erzeugt nach dem Vorbild der Natur Hochleistungspolymere, die besonders stabil und temperaturbestĂ€ndig sind. Und das mit einem umweltfreundlichen Verfahren. © Musthafa Iqbal

Bei der Herstellung von organischen Hochleistungsmaterialien, wie sie etwa in Displays von Handys oder zum Filtern von Abgasen verwendet werden, kommen oft giftige Stoffe zum Einsatz. Miriam Unterlass hat ein Verfahren entwickelt, das nicht nur effizient, sondern auch umweltfreundlich ist.

Im Druckkochtopf ohne Gold oder Silber

Vorbild dabei war der Materialwissenschaftlerin und Chemikerin der Technischen UniversitĂ€t (TU) Wien die Natur. In Wasserreservoires tief im Inneren der Erde bilden sich bei extremer Hitze und hohem Druck Kristalle. Sichtbar wird dieses mehrere hundert Grad heiße Wasser, wenn es als Geysir oder heiße Quelle austritt. Diesen Prozess – „hydrothermale Kristallisation“ genannt – ahmt Unterlass in „Druckkochtöpfen“ nach. „Wir stellen so Hochleistungsmaterialien aus Kunststoff her, die eine hohe KristallinitĂ€t, also Ordnung auf molekularer Ebene haben“, erklĂ€rt die Forscherin.

Neu dabei ist, dieses Verfahren auch fĂŒr organische Verbindungen anzuwenden. „Wir arbeiten mit hoher Temperatur und hohem Druck“, erklĂ€rt die Chemikerin. „Das ist untypisch fĂŒr die Synthese organischer Strukturen. Man könnte vermuten, dass die organischen MolekĂŒle in einer so extremen Umgebung kaputt gehen. Doch wir stellen genau auf diese Weise aus einfachen StartmolekĂŒlen hochgeordnete kristalline Strukturen her.“ Ausgangsstoffe dabei sind Verbindungen aus ausschließlich Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff. Diese Stoffe sind sehr leicht und hĂ€ufig verfĂŒgbar. So werden die neu entwickelten Materialien leichter und verbrauchen keine der seltenen Grundstoffe wie Gold oder Silber“, erlĂ€utert Miriam Unterlass die Vorteile dieser Verfahren.

Herantasten an optimale Bedingungen

Im Labor der TU Wien stehen Druckreaktoren unterschiedlicher GrĂ¶ĂŸe. FĂŒr jedes System muss erforscht werden, welche Bedingungen die richtigen sind. Manche Materialien entstehen bei 220 Grad ĂŒber mehrere Tage, andere bei noch höheren Temperaturen in kĂŒrzester Zeit. Sind die optimalen Bedingungen gefunden, entstehen in den Druckreaktoren Kunststoffe, die gegenĂŒber Chemikalien resistent sind und die kosmische Strahlung und Temperaturen ĂŒber 600 Grad aushalten.

Anwendungen fĂŒr Akkus oder Abgasfilter

Der Bedarf an solchen Materialien ist groß. So eignen sich die organischen GerĂŒststrukturen etwa als molekulares Sieb, in dem Ionen einer bestimmten GrĂ¶ĂŸe in eine Richtung geleitet werden können, wie man sie fĂŒr Lithium-Ionen-Akkus in Handys oder PCs benötigt. Oder man kann damit Industrieabgase filtern.

Die Hochleistungspolymere, die das Forschungsteam am Institut fĂŒr Materialchemie in Wien erzeugt, zeichnen sich durch ihre besondere StabilitĂ€t und TemperaturbestĂ€ndigkeit aus. „Bisher brauchte man dazu giftige, teure und umweltschĂ€dliche Lösungsmittel. Wir schaffen das nur mit Wasser“, schwĂ€rmt Unterlass. Diese Methode ist also im Vergleich zu gĂ€ngigen Verfahren sehr umweltfreundlich.

FWF-Förderung als „Game Changer“

FĂŒr ihre innovative Arbeit erhielt Miriam Unterlass 2017 den hoch dotierten START-Preis, der vom Wissenschaftsfonds FWF fĂŒr herausragende Leistungen von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vergeben wird. Eine Förderung, die die Wissenschaftlerin als den „Game Changer“ in ihrer wissenschaftlichen Karriere bezeichnet. „Diese Auszeichnung ist ein GĂŒtesiegel, das mir innerhalb der TU Wien, innerhalb der österreichischen Forschung und international viel Anerkennung gebracht und mir selbst bestĂ€tigt hat, dass ich am richtigen Weg bin“, freut sich Unterlass.

Miriam Unterlass
Im Labor der TU Wien stehen Druckreaktoren unterschiedlicher GrĂ¶ĂŸe. FĂŒr jedes System muss erforscht werden, welche Bedingungen die richtigen sind. © Musthafa Iqbal

„Phönix“ und „Partnership in Research“

Mit ihrer Arbeit verbindet die Wissenschaftlerin Grundlagenforschung mit der Anwendung. Ebenfalls 2017 erhielt sie den österreichischen GrĂŒnderpreis „Phönix“, den das Austria Wirtschaftsservice jĂ€hrlich an Start-ups, Spin-offs sowie fĂŒr die Entwicklung von Prototypen vergibt. Außerdem forscht Unterlass im Rahmen eines vom FWF und der Christian-Doppler Gesellschaft geförderten „Partnership in Research“- Projektes an Anwendungen der hydrothermal erzeugten Materialien in Kompositen fĂŒr Luftfahrt und Elektronik. Zurzeit ist sie mitten in der GrĂŒndung eines Start-ups. Viel UnterstĂŒtzung auf dem Weg in das Unternehmertum erhielt die Forscherin vom Forschungs- und Transfersupport der TU Wien.

„Der START-Preis ist ein GĂŒtesiegel.“ Miriam Unterlass

„Startup Camp“

Einmal jĂ€hrlich organisiert der TU Wien interne „Inkubator“ einen mehrtĂ€gigen Workshop um herauszufinden, ob es neue Technologien gibt, die interessant fĂŒr FirmengrĂŒndungen wĂ€ren. In dem einwöchigen „Startup Camp“ wird versucht, in Teams die Technologien auf ihre wirtschaftliche Tauglichkeit zu ĂŒberprĂŒfen. „Dabei tauchen neue Fragen auf: Wie viel kostet dein Produkt? Wieviel kostet es bei anderen Firmen?“, erzĂ€hlt Unterlass. „Das Interessante war: Man kann alle diese Fragen nicht beantworten, aber es wird einem klar, welche neuen Antworten man finden muss“.

Eine andere Welt

In dieser Auseinandersetzung mit einer „anderen Welt“ wurde der Chemikerin auch bewusst, dass sie einen Partner fĂŒr die Businessseite brauchen wĂŒrde. „Ich bin Forscherin und möchte unbedingt in der akademischen Forschung arbeiten. Ich kann nur einen begrenzten Anteil meiner Zeit in eine Firma stecken. Unsere Forschung ist keine App, die mal schnell ein Mitarbeiter machen kann.“ Mit UnterstĂŒtzung des TU-internen „Inkubators“ hat sie einen idealen Business-Partner gefunden, einen Mehrfachunternehmer mit viel Erfahrung. „Er ist großartig und bringt das nötige Business-Know-how mit“, sagt die Jungunternehmerin.

Studienwahl als „FĂŒgung von außen“

Seit sechs Jahren arbeitet die 32-JĂ€hrige an der Technischen UniversitĂ€t in Wien. Ihre Studienwahl nennt sie eine „FĂŒgung von außen“. Aufgewachsen in der NĂ€he von NĂŒrnberg verbringt Unterlass ein SchĂŒleraustauschjahr in der Bretagne und maturiert dort. ZurĂŒck in Deutschland stellt sich heraus, dass sie mit der französischen Matura in ihrem Heimatland nur jene FĂ€cher studieren darf, die sie als Schwerpunkte gewĂ€hlt hat – und das waren Geologie und Biochemie. Zwischen diesen beiden FĂ€chern kann sie also wĂ€hlen und entscheidet sich fĂŒr Chemie als Doppelstudium an der UniversitĂ€t WĂŒrzburg und der École SupĂ©rieure de Chimie Physique Electronique in Lyon. Dieses Studium ermöglicht ihr, die Ausbildung zur HĂ€lfte in Deutschland und in Frankreich zu absolvieren. Schließlich verbringt die herangehende Forscherin ihre Studienzeit der Chemie, Verfahrenstechnik und Materialwissenschaften in WĂŒrzburg, Southampton und Lyon. 2011 promoviert sie am Max-Planck-Institut fĂŒr Kolloid- und GrenzflĂ€chenforschung in Potsdam-Golm in Deutschland. Danach forscht sie als Postdoc an der „École SupĂ©rieure de Physique et de Chimie Industrielles de la Ville de Paris“ (ESPCI) in Paris.

Aus der Vogelperspektive

Die Auslandsaufenthalte bezeichnet die Wissenschaftlerin als sehr prĂ€gend. Den Wunsch, selbststĂ€ndig zu sein, hĂ€tte sie schon sehr frĂŒh verspĂŒrt. „Ich bin schon mit 15 von Zuhause weggegangen. Die Auslandserfahrungen haben mich gelehrt, die Welt multidimensional zu sehen. FĂŒr mich waren es auch Übungen, immer besser darin zu werden, die Vogelperspektive zu entwickeln und den eigenen kleinen Fokus zu verlassen“, erlĂ€utert sie.

„Man macht Fehler, aber ist unerschrocken und hat Karacho.“ Miriam Unterlass

Unerfahren aber mit Karacho

Dass sie in der Forschung bleiben möchte, ist der Studentin von Anfang an klar. Sie ist gerade als Postdoc in Paris, als ihr 2012 eine Habilitationsstelle an der TU Wien angeboten wird, wo sie mit gerade einmal 26 Jahren am Institut fĂŒr Materialchemie ihre erste Forschungsgruppe aufbaut. „Wenn man so jung ist, hat man weniger zwischenmenschliche Erfahrung und macht Fehler, aber man ist auch unerschrocken und hat Karacho“, fasst sie die Vor- und Nachteile einer so jungen FĂŒhrungskraft zusammen. „Ich finde es klasse und wĂŒrde jedem empfehlen, Dinge frĂŒh zu machen“, rĂ€t sie jungen Kolleginnen und Kollegen.

„Work hard, but work happy“

Der Anspruch an ihre Arbeit ist, „Weltklasse zu sein“. In ihrer FĂŒhrungsrolle sei es ihr wichtig, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern viel forscherische Freiheit zu lassen und sie achte sehr darauf, dass diese sich weiter entwickeln können. Da sei auch Platz fĂŒr Misserfolge und Fehler, solange offen und ehrlich damit umgegangen werde. „Wir sollen selbst unsere strengsten Richter sein, aber es gibt keinen Ärger, wenn man einmal Mist baut“, sagt sie. Ihr Motto dabei: „Work hard, but work happy“.

Hybridmaterialien

In den kommenden Jahren möchte Unterlass vor allem in zwei Richtungen gehen: Zum einen möchte sie weiter an Hybridmaterialien arbeiten – das heißt, Verfahren entwickeln, die es ermöglichen, organische und anorganische Stoffe in ihren molekularen Strukturen zusammenzufĂŒhren, um damit neue Materialien zu erzeugen, die unterschiedliche Eigenschaften ihrer Ausgangsmaterialien wie zum Beispiel FlexibilitĂ€t und StabilitĂ€t verbinden.

„Forscherinnen und Forscher werden in Wien geschĂ€tzt.“ Miriam Unterlass

Neue, clevere Farbstoffe

Die zweite Schiene sind organische Stoffe fĂŒr biologische Anwendungen. Seit Ende 2018 hat Unterlass eine assoziierte Stelle am Wiener „Center for Molecular Medicine“ (CeMM), wo sie an der Entwicklung neuer Farbstoffe zum EinfĂ€rben von Zellen arbeitet. „Wir möchten nicht nur neue Farbstoffe erzeugen, die Eigenschaften wie Fluoreszenz oder hohe TemperaturstabilitĂ€t haben, sondern auch neue, clevere Verfahren designen, die umweltfreundlich sind“, erlĂ€utert sie die Ziele.

Wien „die schönste Stadt“

Ihre Wahlheimat Wien wĂ€hlt die in Deutschland Geborene zur „schönsten Stadt“. „Obwohl ich in lauter großartigen StĂ€dten und an tollen Unis war, mag ich Wien am liebsten“, schwĂ€rmt sie. Die mit Vorliebe dunkel Gekleidete und auffallend Geschminkte – ihr roter Mund und die rot umrandeten Augen sind zu ihrem Markenzeichen geworden – schĂ€tzt hier nicht nur die Architektur und das kulturelle Angebot, sondern auch die Forschungslandschaft: „Die Forschung ist international und es gibt eine enorme Dichte an Forschungsinstituten“, stellt sie fest. Diese Dichte vereinfache auch den unkomplizierten Kontakt untereinander: „Ich kooperiere mit vielen Kolleginnen und Kollegen der UniversitĂ€t Wien, dem CeMM oder der ÖAW“, unterstreicht sie diesen Vorteil. Außerdem hĂ€tte sie das GefĂŒhl, dass Forscherinnen und Forscher in Wien geschĂ€tzt werden.

„Wir brauchen flachere Hierarchien an den UniversitĂ€ten.“ Miriam Unterlass

Flachere Hierarchien an den UniversitÀten

Was sich Miriam Unterlass allerdings an den heimischen UniversitĂ€ten wĂŒnschen wĂŒrde, sind flachere Hierarchien. „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen einerseits UnabhĂ€ngigkeit erlangen, diese kann ihnen aber im vorherrschenden System in ihrer Karriere schaden“, weist sie auf einen Widerspruch hin. Auch in diesem Zusammenhang solle man ĂŒberlegen, ob Habilitationen noch zeitgemĂ€ĂŸ sind. „Die guten Leute sind manchmal gerade jene, die unabhĂ€ngig sein wollen, die manchmal Unbequemen“, gibt sie zu Bedenken und zĂ€hlt sich selbst durchaus dazu.

Zur Person

Die Chemikerin und Materialwissenschaftlerin Miriam Unterlass ist seit 2012 an der Technischen UniversitĂ€t Wien, wo sie die Forschungsgruppe „Advanced Organic Materials“ leitet. Die gebĂŒrtige Deutsche studierte Chemie, Materialwissenschaften und Verfahrenstechnik in WĂŒrzburg, Southampton und Lyon. 2011 promovierte sie am Max-Planck-Institut fĂŒr Kolloid- und GrenzflĂ€chenforschung in Potsdam-Golm, Deutschland. Danach forschte Unterlass als Postdoc an der ESPCI in Paris. 2017 erhielt sie fĂŒr ihr Projekt „Hydrothermal zu funktionellen organischen GerĂŒststrukturen“ den START-Preis des FWF. Im selben Jahr wurde ihr vom  Austria Wirtschaftsservice der österreichische GrĂŒnderpreis „Phönix“ verliehen.