Gleichstellung: Eine Frage der Offenheit

Als Frau in einem mĂ€nnlich dominierten Berufsumfeld zu reĂŒssieren, bedeutet, ehrgeizig und kĂ€mpferisch zu sein, gesellschaftliche Vorurteile zu ĂŒberwinden, sich anzupassen oder das Anderssein zu akzeptieren und im Idealfall ein unterstĂŒtzendes soziales Umfeld zu haben. So oder so Ă€hnlich beschreiben viele Frauen ihre KarriereverlĂ€ufe in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen. Ausschlaggebend ist, so die Schlussfolgerung, der individuelle Wille und persönliche Umgang mit HĂŒrden in einem Umfeld, in dem Frauen nach wie vor in der Minderheit sind. âEntscheidungen und KarriereverlĂ€ufe werden oft individuell dargestelltâ, erklĂ€rt Marita Haas, âdoch sie können nicht unabhĂ€ngig von Rahmenbedingungen und organisationalen Strukturen betrachtet werden.â Um einen tieferen Einblick in die Verflechtungen von individuellen und Ă€uĂeren Gender-Faktoren im Berufsleben zu erhalten, hat die Sozialwissenschafterin die Lebensgeschichten von Frauen untersucht. Dazu hat Haas in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Firnberg-Projekt unter anderem narrativ-biografische Interviews mit Wissenschafterinnen in technischen Berufsfeldern gefĂŒhrt.
Ermutigendes Umfeld
âDurch das offene ErzĂ€hlen erfĂ€hrt man viel ĂŒber VerschrĂ€nkungen der Biografie mit institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungenâ, erklĂ€rt Haas die Vorteile der Biografieforschung. Die Analysen zeigen, dass Frauen, die sich fĂŒr mĂ€nnlich dominierte Berufe entscheiden, in der Regel ein ermutigendes Umfeld erlebt haben. Das kann die Familie, die Schule, eine Mentorin/ein Mentor oder auch die Organisation selber sein. Ein offener Zugang erleichtert es demnach, ungewöhnliche Karrierewege einzuschlagen. Die Haltung, âdie Welt steht dir offenâ, geht dabei meist von einem bildungsaffinen Elternhaus aus, das ermutigt, Dinge auszuprobieren oder auch ungewöhnliche Wege einzuschlagen. âUnsere Ergebnisse zeigen, dass es weniger um Vorbilder als um eine gewisse Offenheit in Bezug auf die Lebens- und Karriereplanung gehtâ, erlĂ€utert Haas. Demnach kommt auch den viel zitierten fehlenden Role Models laut der Expertin weniger Bedeutung zu als etwa den fehlenden Strukturen fĂŒr Geschlechtergleichstellung in relevanten Bereichen wie Bildung und Wirtschaft.
Viele Anstrengungen, wenige Ergebnisse
Inzwischen gibt es europaweit zahlreiche Initiativen, MĂ€dchen und junge Frauen fĂŒr die MINT-FĂ€cher (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) zu begeistern. Geschlechtergleichstellung ist eines der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Doch VerĂ€nderungen sind, wie das EuropĂ€ische Institut fĂŒr Gleichstellungsfragen in zweijĂ€hrlichen Erhebungen aufzeigt, noch immer nur geringfĂŒgig wahrnehmbar. âWir sehen, dass Girlâs Days und Mentoring-Programme auf individueller Ebene zwar als unterstĂŒtzend erlebt werden, allerdings wenig am Gesamtbild Ă€ndernâ, bestĂ€tigt Marita Haas, die auch Unternehmen und NGOs zum Thema Gender und DiversitĂ€t berĂ€t. Wichtiger sei vielmehr die Frage, wie Förderungsstrukturen aussehen können, die Zusammenarbeit auf Augenhöhe anstreben oder wie Rekrutierungsprozesse gestaltet sind. Das kann laut Haas beispielsweise bedeuten, Mentoring zu öffnen und gegenseitig zu machen. âNeue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben einen frischen Blick.â Um Bewegung in Sachen Gleichstellung in die Firmen zu bringen, mĂŒsse Gender jedenfalls genauso ernst genommen werden wie jedes andere Business-Ziel, betont Haas. âDas passiert nur, wenn es Top-down implementiert wird oder etwa auch durch Quotenregelungen. Ich verstehe die Kritik an Quoten, aber zuzusehen wie nichts passiert, ist wesentlich schlimmer.â
Stereotoype Rollenerwartungen vorherrschend
In den Interviews mit den Frauen, die wissenschaftlich im MINT-Bereich tĂ€tig sind, wurden Erfahrungen des Andersseins und âAlles ist ganz normal gelaufenâ als vorherrschende Themen identifiziert. âDas sind zwei Seiten einer Medailleâ, so Haas im GesprĂ€ch mit scilog: Frauen haben also entweder auf ihren Minderheitsstatus und die damit verbunden HĂŒrden verwiesen oder sich auf Grundlage leistungsorientierter Prinzipien an die vorherrschende Kultur angepasst. Das zeige, dass Geschlecht in allen Regeln und Normen implizit eingeschrieben sei, sagt Marita Haas. âDiese Strukturen wirken so stark, dass die Frauen gar nicht umhin kommen als eine Geschichte zu erzĂ€hlen, die sich mit ihrem Anderssein auseinandersetzt.â Strukturelle MaĂnahmen wie Quoten und DiversitĂ€tsinitiativen â das zeigen die Ergebnisse des Projektes â, sind wesentlich, um festgeschriebene Genderrollen nachhaltig aufzubrechen und am Ende des Tages am eigentlichen Ziel, nĂ€mlich der Sicherstellung von gleichen Teilhabechancen an Macht, Einkommen und Entscheidungen, anzukommen. Ein Blick auf die eigene Biografie kann dabei helfen, Berufsentscheidungen unabhĂ€ngig von der GeschlechteridentitĂ€t zu treffen, ist Haas ĂŒberzeugt. FĂŒr Jugendliche etwa könnte die entscheidende Frage lauten, was bin ich schon, statt was will ich werden?
Zur Person Marita Haas ist Sozialwissenschafterin mit Fokus auf Gender- und Biografieforschung und hatte bis 2017 eine Hertha-Firnberg-Stelle am Institut fĂŒr Managementwissenschaften an der Technischen UniversitĂ€t Wien inne. Haas ist Lektorin an verschiedenen UniversitĂ€ten und berĂ€t Organisationen und Unternehmen zu den Themen DiversitĂ€t und Gleichstellung.
Publikationen