Menschen brauchen auf verschiedenen Ebenen ein Gedächtnis, sagt Aleida Assmann, u.a. um uns langfristige Denkräume zu eröffnen. © Jussi Puikkonen/KNAW

Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema „Erinnerungskultur“ und plädieren für einen offenen Umgang mit der Vergangenheit. Warum ist Erinnern für Gesellschaften so wichtig?

Aleida Assmann: Menschen brauchen ein Gedächtnis und zwar auf verschiedenen Ebenen. Wir brauchen ein individuelles Gedächtnis, das uns erlaubt, uns in der Zeit zu orientieren, Wissen zu memorieren und eigene Erfahrungen zu speichern. Wir brauchen aber auch ein soziales Gedächtnis, das uns mit der Familie oder einer anderen Gruppe verbindet. Man gehört dazu, wenn man die gemeinsamen Erinnerungen teilt. Gedächtnis wird dann zu einem wichtigen sozialen Bindemittel. Schließlich braucht man ein kulturelles Gedächtnis, das sind ausgewählte und gespeicherte Bildungsbestände sowie Brauchtumsformen, die uns langfristige Denkräume eröffnen und mit denen wir uns in einer größeren Gemeinschaft positionieren.

Haben globale Entwicklungen und das Internet die Kulturen des Erinnerns verändert, oder anders gefragt: Braucht es neue Formen der Erinnerung?

Assmann: Das Internet hat Möglichkeiten verstärkt und erweitert, die mit Beginn des Druckzeitalters als einer neuen Form von Öffentlichkeit entstanden sind. Es ist um 2000 zu einer unvorstellbaren Vermehrung, Beschleunigung und Erweiterung von Kommunikation gekommen. Teilhabe und Zugang zu den Massenmedien wurden weiter demokratisiert, es kamen die Bild- und Tonmedien hinzu, an die Stelle der Leser sind die User getreten, die nicht nur lesen, sondern auch in Echtzeit zurückschreiben können. Gleichzeitig ist die Qualität der Information auch prekär geworden. In der Überfülle der Daten kennt sich außer den Suchmaschinen niemand mehr aus. Die aufpoppende Werbung macht mit jedem Klick deutlich, dass das Geld das Netz regiert, und die Glaubwürdigkeit der Information ist nicht mehr gesichert, weil der Ursprung der meisten Nachrichten meist nicht mehr rekonstruierbar ist.

In Ihrem jüngsten Buch plädieren Sie für einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dem Menschenrechte nicht ohne Menschenpflichten verankert werden können. Sie erinnern dabei an Tugenden, die bereits aus der ägyptischen Weisheitslehre überliefert sind, wie  Bescheidenheit, Respekt und Schutz von Schwachen. Sind uns die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens abhandengekommen?

Assmann: Diese Regeln wurden ja genau deshalb erfunden, weil sie sich nicht von selbst verstehen, also immer schon gefährdet waren durch Machtmissbrauch, Gier und menschenunfreundliche Institutionen. Was uns heute von diesen humanen Tugenden trennt, sind vor allem Chauvinismus, Rassismus, Fundamentalismus und ökonomische Ausbeutung.
 

Die Literatur- und Kulturwissenschafterin Aleida Assmann studierte Anglistik und Ägyptologie. Sie forschte und lehrte zuletzt an der Universität Konstanz und hatte Gastprofessuren an renommierten ausländischen Universitäten inne. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, beschäftigt sie sich seit den 1990er-Jahren intensiv mit Kulturen des Erinnerns und Gedenkens, insbesondere mit der deutschen Erinnerungsgeschichte nach dem Holocaust. Aleida Assmann veröffentlichte mehrere Bücher, zuletzt „Menschenrechte und Menschenpflichten“ (Picus 2017), „Formen des Vergessens“ (Wallstein 2016) und „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur (C.H. Beck 2013). Gemeinsam mit ihrem Mann wird ihr im Oktober dieses Jahres der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.

50 Jahre FWF - 50 Jahre Spitzenforschung

Aleida Assmann wird am Samstag, den 8. September 2018 in Wien das BE OPEN Science & Society Festival mit einem Vortrag zum Thema „Wie viel Vergangenheit braucht die Zukunft?“ eröffnen. Das fünftägige Festival findet aus Anlass des 50-Jahr-Jubiläums des FWF statt.