Frankreich zwischen Ausnahme und NormalitÀt

In meinem Schrödinger-Projekt beschĂ€ftige ich mich mit dem repressiven Umgang von Polizei und Justiz im Kontext von Protest sowie mit Darstellungen in Medien (Massenmedien und soziale Medien) in den vergangenen Jahren in Frankreich. Dabei interessiere ich mich fĂŒr die Frage, wie diese mit AusnahmezustĂ€nden in Verbindung stehen. Mein Interesse an AusnahmezustĂ€nden fuĂt sowohl auf einem wissenschaftlichen als auch persönlichen Grund. Ich selbst erlebte die Auswirkungen des âantiterroristischenâ Ausnahmezustandes von 2015 bis 2017, der nach den Attentaten in Paris und Saint-Denis verhĂ€ngt wurde, auf Protest mit. Dieser Ausnahmezustand hatte auch EinschrĂ€nkungen der Versammlungsfreiheit zur Folge.
Fragend von einem Protest zum anderen
Seitdem hat sich viel getan: Bewegungen haben sich weiterentwickelt, es gab einen âGesundheitsnotstandâ im Zuge der Coronapandemie und Polizeigewalt prĂ€gt, unabhĂ€ngig von AusnahmezustĂ€nden, den Protestalltag. Als ich Anfang April 2023 in Paris ankam, waren die Proteste gegen die mittlerweile verabschiedete Rentenreform in vollem Gange. Im Juni 2023 wurde Nawel Merzouk, ein französisch-algerischer Jugendlicher, bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizeibeamten in Nanterre erschossen. Daraufhin kam es in verschiedenen französischen StĂ€dten zu Revolten, auf die wiederum Repression durch Polizei und Justiz folgten.
Diese EindrĂŒcke und die von mir gefĂŒhrten Interviews mit Expert:innen aus der Sozial- und Rechtswissenschaft sowie GesprĂ€che mit Jurist:innen verĂ€nder(te)n meine Forschungsperspektive. Denn neben âharter Repressionâ gibt es auch so etwas wie âsanfte Repressionâ: Dazu zĂ€hlen etwa fehlende materielle Ressourcen und fehlende Orte, um sich zu organisieren. Ebenso wie die mediale Delegitimierung von Bewegungen gegen âIslamophobieâ oder âradikalemâ Klimaaktivismus. Weiters sind im Zuge der im Sommer 2024 stattfindenden olympischen Sommerspiele in Paris und Marseille neue AusnahmezustĂ€nde und Proteste zu erwarten. Bisher streikten schon undokumentiert Arbeitende auf Baustellen in Paris und Sicherheitsbestimmungen wurden verschĂ€rft. Unter anderem wird auch die algorithmische VideoĂŒberwachung wĂ€hrend der Spiele ausprobiert.
Zwischen Paris und Marseille
Begonnen habe ich mit meinen Forschungen in Marseille. Diese Entscheidung habe ich wegen bereits bestehender sozialer und aktivistischer Kontakte getroffen. FĂŒr qualitative Forschungen ist das unabdinglich. So kann ich sowohl an den hybriden Seminaren am CESDIP teilnehmen als auch an meiner Forschung arbeiten. Am CESDIP entschied ich mich fĂŒr das renommierte Forschungsinstitut der Strafrechtssoziologie aufgrund seiner langjĂ€hrigen Expertise im Bereich des Protest Policing und der dort tĂ€tigen Forschenden, vor allem Fabien Jobard, der als gastgebender Wissenschaftler fungiert. Die interdisziplinĂ€re Ausrichtung des CESDIP erlaubt es mir, mich mit fĂŒr mich teils neuen AnsĂ€tzen der Kriminal- und Strafrechtssoziologie auseinanderzusetzen und diese mit politikwissenschaftlichen und postkolonialen AnsĂ€tzen zu verbinden.
Viel Raum fĂŒr Austausch
Vonseiten der Leitung (Jacques de Maillard und Mathilde Darley) herrscht ein sehr angenehmes Arbeitsklima, das viel Freiraum, aber auch Raum fĂŒr Kooperationen ermöglicht. Einen schönen Rahmen fĂŒr Austausch bilden die regelmĂ€Ăigen Seminare, bei denen ganz in französischer Manier anschlieĂend gemeinsam gegessen wird. Das habe ich sehr zu schĂ€tzen gelernt. Die Fahrt zwischen Paris und Marseille erscheint mit dem TGV kurz â es sind lediglich 3,5 Stunden. Gleichzeitig sind es Reisen durch Welten: zwischen Instituts- und Forschungsalltag, zwischen âMetropoleâ und âPeripherieâ, zwischen Norden und SĂŒden. Immer wieder komme ich gerne in Marseille an. Dort lasse ich meine Gedanken beim Wandern durch die Calanques, die Buchten, (ab)schweifen.