Lesetipp
Das Buch âNur ein Depp wĂŒrde dieses Buch nicht kaufenâ von Oksana Haryliv hĂ€lt auf amĂŒsante Art alles fest, was man ĂŒber das Schimpfen wissen muss.
âSchleich di, du Oaschloch!â Diese Beschimpfung, die ein Wiener dem Terroristen nach dem Anschlag vom 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt hinterherrief, ging viral und wurde zum Spruch des Jahres. FĂŒr Oksana Havryliv ein Beispiel, das zeigt, wie eine vulgĂ€re Beschimpfung â zunĂ€chst als Abwehrreaktion â schlieĂlich Zusammenhalt und SolidaritĂ€t erzeugen kann. Sie habe den Spruch sogar auf einem Kipferl in der Vitrine einer Konditorei gesehen, erzĂ€hlt die aus der Ukraine stammende Germanistin.
Widerstand leisten und Zusammenhalt erzeugen, das sind zwei jener insgesamt ĂŒber 20 Funktionen, die die ausgewiesene Schimpfforscherin in ihren Untersuchungen finden konnte. Seit 30 Jahren erforscht sie verbale Aggression im Wienerischen. Warum schimpfen wir? Wie hat sich das Schimpfen ĂŒber die Zeit und zwischen den Generationen verĂ€ndert und welche unterschiedlichen Schimpfkulturen gibt es in verschiedenen Sprachen? Soeben ist ihr neues populĂ€rwissenschaftliches Werk âNur ein Depp wĂŒrde dieses Buch nicht kaufenâ erschienen, in dem sie auf sehr anschauliche und humorvolle Art ihre Forschungsergebnisse zusammenfasst.
Seit die Germanistin 1994 mit einem ĂAD-Stipendium zum ersten Mal in Wien war, hat sie das Thema nicht mehr losgelassen. Sie war sofort angetan vom Wiener Dialekt und dessen reichem Schimpfwortschatz, erzĂ€hlt die heute 52-JĂ€hrige. Wie man in dieser Stadt sprach, war so anders als das Deutsch, das sie bis dahin gelernt und gehört hatte. In ihrer Heimatstadt Lwiw hat die deutsche Sprache eine lange Tradition. Das ehemalige Lemberg war Teil der k. u. k. Monarchie â in der Westukraine gibt es dafĂŒr den scherzhaft-liebevollen Ausdruck âzu Zeiten von Oma Ăsterreichâ.
Havryliv besucht eine Schule mit erweitertem Deutschunterricht, wo sie bereits mit sieben Jahren beginnt, die Sprache zu lernen. Reisen ist damals zu Sowjetzeiten unmöglich und die Fremdsprache fĂŒr sie somit der SchlĂŒssel zur Welt. Denn damit wird ihr möglich, schon als Kind als AustauschschĂŒlerin in die DDR zu reisen.
Eine Erfahrung, die ihren weiteren Lebensweg prĂ€gen sollte. âDie DDR war fĂŒr mich damals im Vergleich zur UdSSR viel bunter. Auf der StraĂe sah man Punks mit bunten Haaren, Kaugummi kauend. Das war der Wilde Westen!â, erinnert sie sich. In der Schule habe sie allerdings gelernt, wie froh sie sein könne, nicht im kapitalistischen Westen aufwachsen zu mĂŒssen, nicht in der Ausbeutung, sondern in der freien Sowjetunion. Als sie damals erstmals am Alexanderplatz in Berlin auf dem Fernsehturm steht und nach Westberlin sieht, kommen ihr erste Zweifel: âSo viele Lichter, so bunt. Das kann doch nicht so schlimm sein dortâ, schmunzelt die humorvolle Wissenschaftlerin.
âDie DDR war fĂŒr mich der Wilde Westen.â
Der Plan steht fest: Germanistik studieren und als ReisefĂŒhrerin in den sozialistischen LĂ€ndern unterwegs sein. FĂŒr die nötige Sprachpraxis wĂ€hrend des Studiums an der UniversitĂ€t Lwiw sorgt sie mit viel Fantasie: Um Deutsch zu ĂŒben, marschiert sie mit Kolleg:innen in Studentenheime und lĂ€dt Studierende aus der DDR zu Partys ein. 1991 wird die Ukraine unabhĂ€ngig. 1994 beginnt sie an ihrer Dissertation zum Thema Schimpfwörter in der modernen deutschsprachigen, mit Schwerpunkt auf österreichische Literatur zu schreiben â und stöĂt auf einen reichhaltigen Fundus bei Autor:innen wie Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und Werner Schwab.
Als sie 1994 erstmals nach Wien kommt, ist sie nicht nur angetan von der Poesie des Wiener Dialekts, sie stöĂt auch auf einen weiteren wichtigen Aspekt: den alltĂ€glichen Gebrauch von Schimpfwörtern. Dieser Ansatz ist neu. Bisher gab es nur wenige fundierte Untersuchungen ĂŒber aggressive Sprechakte in der Alltagssprache, zu der nicht nur Beschimpfungen, sondern auch FlĂŒche, brutale Aufforderungen, Drohungen und VerwĂŒnschungen gehören.
Mit einem vom FWF geförderten Lise-Meitner-Stipendium kann sie 2006 mit umfangreichen Feldstudien beginnen, die sie 2012 im Rahmen eines Elise-Richter-Projekts, ebenfalls vom FWF finanziert, fortsetzen kann. Ihr Befund: Schimpfen erfĂŒllt ein breites Spektrum von Funktionen. Nur elf Prozent des Schimpfens dienen dabei tatsĂ€chlich dem Beleidigen. Am wichtigsten ist die kathartische Funktion, man will Dampf ablassen, das Schimpfen kann aber auch Zusammenhalt und SolidaritĂ€t stĂ€rken oder einfach nur ein PausenfĂŒller sein. WĂ€hrend im Laufe der letzten zehn Jahre das Abreagieren negativer Emotionen zugenommen hat, ist der scherzhaft-kosende Gebrauch von Schimpfwörtern gesunken.
Der scherzhafte Gebrauch deftiger Sprache ist â vor allem unter MĂ€nnern und Jugendlichen â zwar noch immer beliebt, signalisiert Verbundenheit und findet sich zum Beispiel bei der BegrĂŒĂung âServas, du Wapplerâ wieder. Besonders bei Jugendlichen ĂŒbernimmt âgrobe Spracheâ unterschiedliche Funktionen: wie etwa sich als ĂŒberlegen zu positionieren, von anderen abzugrenzen, einander zu bestĂ€rken oder andere gezielt zu provozieren. Der scherzhafte Gebrauch kann auch Trost oder Bewunderung ausdrĂŒcken, wie etwa in dem anerkennenden âDu Luder!â oder âDu gutmĂŒtiger Depp!â. Dass der humorvolle Gebrauch abnimmt, erklĂ€ren die von Havryliv befragten WienerInnen damit, dass sie angesichts einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft vorsichtiger mit urwienerischen ĂuĂerungen geworden sind, weil sie befĂŒrchten â insbesondere von Menschen eines anderen Kulturkreises â falsch verstanden zu werden.
GrundsÀtzlich gilt, geschimpft und geflucht wird in allen Schichten und unabhÀngig vom Bildungsniveau. Aufgefasst wird das von den Betroffenen hingegen unterschiedlich. Frauen krÀnkt es eher, wenn ihr Aussehen beleidigt wird. MÀnner reagieren empfindlich, wenn ihre Leistung, ob beruflich oder sexuell, hinterfragt wird.
Wichtig ist der Forscherin, eine Trennlinie zwischen verbaler Aggression und verbaler Gewalt zu ziehen. Denn die beiden Begriffe werden oft als synonym betrachtet. âVerbale Gewalt ist ein breiteres PhĂ€nomen, sie kann auch ohne aggressive Sprechakte ausgeĂŒbt werden.â Um fĂŒr solche Unterschiede zu sensibilisieren, zum behutsamen Umgang mit der Sprache sowie der gewaltfreien Kommunikation zu bewegen und die Wirkungen des eigenen Sprachgebrauchs zu reflektieren, hĂ€lt Havryliv auch Workshops an Schulen ab.
âYoutube, Rapp und Influencer:innen beeinflussen die Jugendsprache stark.â
In einem vom FWF geförderten Wissenschaftskommunikationsprojekt untersuchte sie zusammen mit den SchĂŒlerInnen Ursachen, Formen und Funktionen verbaler Aggressionen in Schulen. Gemeinsam mit zwölf Wiener Schulklassen erarbeitete sie in Workshops, wann und wie es verbale Aggression im Schulalltag gibt und wie man negative GefĂŒhle loswerden kann, ohne zu beleidigen. Die SchĂŒler:innen sammelten selbst Schimpfwörter, fĂŒhrten Interviews mit Schulkolleg:innen und diskutierten die Ergebnisse.
âEinen starken Einfluss haben hier Youtuber:innen, Rapper:innen und Influencer:innenâ, stellt Havryliv fest. WĂ€hrend Jugendliche vor zehn Jahren noch mehr rassistische Schimpfworte verwendeten, die auf eine ethnische Zugehörigkeit anspielten, seien heute mit Bezeichnungen wie âBehinderte:râ oder âOpferâ geistige und körperliche Merkmale gröĂere AngriffsflĂ€chen. âJugendliche sind heute offenbar stĂ€rker fĂŒr Herkunft sensibilisiertâ, interpretiert sie das Ergebnis.
Eine wichtige Rolle im Schimpfwortschatz von Jugendlichen spielt SexualitĂ€t, etwa âWichserâ oder âHureâ. Je bizarrer, umso beliebter, so Havryliv. Wobei es bei Jugendlichen â im Vergleich zu Erwachsenen â deutliche Geschlechtsunterschiede beim Schimpfen gibt: âRituelle Mutterbeleidigungen kommen praktisch nur unter Buben vor und verschwinden nach der Schule wieder aus dem Sprachgebrauchâ, sagt die Forscherin.
In den letzten Jahren legte Havryliv ihren Forschungsfokus besonders darauf, wie sich Vulgarismen in einer multikulturellen Gesellschaft verĂ€ndern. Bestimmte AusdrĂŒcke haben in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Funktionen. So habe sich das Wort âOidaâ von einer Anrede zu einem PausenfĂŒller entwickelt, Ă€hnlich dem âFuckâ im angloamerikanischen Sprachraum. Wie sich SchimpfwortĂ€uĂerung, -wahrnehmung, aber auch die Reaktion darauf in einer multikulturellen Gesellschaft verĂ€ndern, sei theoretisch wenig erfasst. âJede Kultur hat ihre eigenen Tabus. Es geht aber auch um Sensibilisierung und GewaltprĂ€ventionâ, sagt die Wissenschaftlerin. So kann die neutrale oder auch positiv gemeinte Aussage âDeine Schwester ist hĂŒbschâ als Beleidigung aufgefasst werden.
âIn Krisenzeiten bilden sich Wortkreuzungen.â
Jeder kulturelle Raum hat seine eigene Schimpfkultur. Im deutschsprachigen Raum ist sie traditionell fĂ€kal- und analfixiert, wĂ€hrend im angloamerikanischen Raum, aber auch am Balkan sexualbezogene Wörter dominieren. In LĂ€ndern wie Italien und Spanien, wo der Einfluss der Kirche groĂ ist, dominiert hingegen eine sakrale Schimpfkultur, im Nahen Osten ist es die Verwandtenbeleidigung. Die Grenzen zwischen den âSchimpfkulturenâ sind flieĂend und hier kann man einen Wandel beobachten. âDurch den Einfluss von Filmen setzten sich bei uns Beschimpfungen wie ,,Fick deine Mutterâ durchâ, stellt Havryliv fest. VulgĂ€re AusdrĂŒcke, die im slawischen Raum völlig selbstverstĂ€ndlich als PausenfĂŒller verwendet werden, hört man auch in Wien immer öfter. Wörtlich ins Deutsche ĂŒbersetzt klingen sie nach sexuellen Perversionen, in den slawischen Sprachen sind sie aber vollstĂ€ndig bedeutungsentleert und mit den Ausrufen âScheiĂe!â oder âVerdammtâ gleichzustellen.
Eine wichtige Beobachtung, die Havryliv sowohl wĂ€hrend der Corona-Pandemie als auch nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine beobachtet hat: In Krisenzeiten aktiviert die Sprache ihre kreativen Potenzen, was sich unter anderem in bildhaften Wortkreuzungen Ă€uĂert. So entstanden wĂ€hrend der Corona-Pandemie Wortkreationen wie âCovidiotâ (Covid und Idiot),âAlleinachtenâ (Allein und Weihnachten) oder âCoronialsâ (Corona und Millennials). âWĂ€hrend wir im realen Leben auf Distanz gingen, verschmolzen die Wörterâ, erlĂ€utert die Sprachwissenschaftlerin fasziniert diese kompensatorische Funktion. Schimpfwörter dienen hier vor allem der Solidarisierung.
Wie stark die Funktion des Widerstands von Beschimpfungen sein kann, zeigte sich beim Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022. Als ein russisches Kriegsschiff sich der Schlangeninsel im Schwarzen Meer nĂ€hert und die ukrainischen Soldaten zur Kapitulation auffordert, antwortet der ukrainische Soldat Roman Hrybow ĂŒber Funk auf Russisch sinngemÀà âRussisches Kriegsschiff, fick dich!â. Der Spruch ging viral, wurde auf T-Shirts und Werbeplakaten gedruckt und wurde zum Sinnbild des Widerstandes. Im April desselben Jahres brachte die ukrainische Post eine Sondermarke mit dem Konterfei heraus.
Sprache lebt und reagiert auf gesellschaftliche VerĂ€nderungen sowohl mit neuen Bezeichnungen als auch mit BedeutungsverĂ€nderungen. âWorte mit Kriegsmetaphern, wie ,jemanden mit Fragen bombardierenâ, Das ist Bombe! oder an der âkulturellen Front/,Informationsfrontâ kĂ€mpfen verlieren plötzlich ihre metaphorische Bedeutung, weil sie zur Zeit in wörtlicher Bedeutung gebraucht werdenâ, erlĂ€utert die Germanistin. Daran sieht man, wie behutsam man mit Sprache umgehen soll.
Die Bezeichnung âUkraine-Kriegâ findet sie unmöglich. âIn dieser Bezeichnung wird das Aggressor-Land zur GĂ€nze ausgeblendetâ, sagt sie. Im Zusammenhang mit Auswirkungen des Krieges auf das alltĂ€gliche Leben im deutschsprachigen Raum wie Teuerungen werde das Bild weiter verstellt. Denn damit wĂŒrden diese Probleme unbewusst mit der Ukraine in Verbindung gebracht und nicht mit Russland. âWir sollten die korrekte Bezeichnung ârussischer Angriffskrieg gegen die Ukraineâ oder wenn schon kurz âRusslandkriegâ verwendenâ, fordert sie. Damit werde das Aggressor-Land in den Mittelpunkt gestellt.
âWir sollten den Begriff ,Ukraine-Kriegâ nicht verwenden.â
Havryliv nimmt an, dass in diesem Kontext auch Umfragen bezĂŒglich des Krieges andere Ergebnisse zeigen wĂŒrden. Sie nennt ein Beispiel: Bei der Unique-Research-Umfrage im Februar 2022 beantworteten 65 Prozent der befragten Ăsterreicher:innen die Frage âSollte die Ukraine weiterkĂ€mpfen?â mit âNeinâ. WĂ€re durch korrekte Bezeichnung das Aggressor-Land in den Mittelpunkt gestellt und das Bewusstsein fĂŒr unterschiedliche Kriegstypen (den Angriffskrieg und den Verteidigungskrieg) gestĂ€rkt, wĂ€re die korrekte Frage âSollte Russland den Krieg beenden und alle besetzten Gebiete verlassen?â
Bei Einladungen zu Interviews betonte die ukrainische Wissenschaftlerin gerade im ersten Jahr des Krieges, wie sehr es ihre Landsleute schĂ€tzten, in Ăsterreich so willkommen aufgenommen und unterstĂŒtzt zu werden. Auch auf akademischem Niveau erzĂ€hlt sie von UnterstĂŒtzung und SolidaritĂ€t wie den speziellen Programmen fĂŒr ukrainische Wissenschaftler:innen von ĂAD, ĂAW und FWF. Sie selbst hat zum Beispiel im Rahmen der Kinderuni mit Hilfe dieser Institutionen ukrainische Wissenschaftler:innen vermittelt, die Lehrveranstaltungen fĂŒr ukrainische Kinder halten konnten. Sie hat viele Stipendiat:innen aus den UnterstĂŒtzungsprogrammen kennengelernt und weiĂ um die enorme Dankbarkeit der jungen Ukrainer:innen.
Oksana Havryliv leistete Pionierarbeit, als sie 2006 mit einer FWF-Förderung begann, das alltĂ€gliche Schimpfen in Wien zu erforschen. Die aus der Ukraine stammende Germanistin untersucht, wie und wann wir schimpfen, welche Funktionen verbale Aggression erfĂŒllt, wie sich diese ĂŒber Generationen in einer multikulturellen Gesellschaft verĂ€ndert und wo die Schnittpunkte zur verbalen Gewalt liegen. Sie ist Autorin von ĂŒber 90 sprachwissenschaftlichen Publikationen (darunter drei Monographien und ein âDeutsch-Ukrainisches Schimpfwörterbuchâ). Zuletzt erschien ihr populĂ€rwissenschaftliches Buch âNur ein Depp wĂŒrde dieses Buch nicht kaufenâ, in dem sie die Ergebnisse ihrer langjĂ€hrigen Forschungsarbeiten zusammenfasst.
Das Buch âNur ein Depp wĂŒrde dieses Buch nicht kaufenâ von Oksana Haryliv hĂ€lt auf amĂŒsante Art alles fest, was man ĂŒber das Schimpfen wissen muss.