Portrait junger Forscherin mit halblangen dunkelbrauen Haaren vor dunklem Hintrgrund.
„Das Problem ist, dass wir keine Datentransparenz haben“, sagt Sophie Lecheler. © Leedina Portraits

Dorthin gehen, wo die Menschen sind, lautet das Ziel von Parteien im Wahlkampf. Nachdem immer mehr Wahlberechtigte Zeit im Internet verbringen, folgt ihnen die Politik ins Netz. Rund fünfeinhalb Stunden verbringen die Österreicher:innen täglich im Internet, eineinhalb Stunden davon auf Social Media. Reichlich Zeit für wahlwerbende Parteien, Aufmerksamkeit zu generieren.

Online-Kampagnen haben den Vorteil, dass Parteien ihre Kernbotschaften zielgerichtet in den Accounts der Nutzer:innen absetzen können, auf deren Profil und Vorlieben abgestimmt. Seit dem Skandal um Datenmissbrauch durch Cambridge Analytica, dem Wahlsieg von Donald Trump 2016 und dem Brexit-Votum in Großbritannien stellt sich die Frage, ob datengesteuerte Wahlkampagnen, die sogenanntes Mikrotargeting anwenden, eine Gefahr für die Demokratie darstellen.

Dieser Frage sind internationale Forschungsteams in den vergangenen vier Jahren in einer der ersten umfassenden wissenschaftlichen Evaluierungen zur Praktik des politischen Mikrotargeting in den Niederlanden, Deutschland, Österreich und Großbritannien nachgegangen. Die Kommunikationswissenschaftlerin Sophie Lecheler war für Österreich im Leitungsteam beteiligt. Mit welchen Fragen sich das Projekt DATADRIVEN beschäftigte, das vom Wissenschaftsfonds FWF mitfinanziert wurde, erklärt die Forscherin im Interview.

Sophie Lecheler ist Professorin für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Kommunikation an der Universität Wien. In dem EU-Projekt "DATADRIVEN" erforschte sie wie Mikrotargeting in Wahlkämpfen wirkt.

Frau Lecheler, welchen Stellenwert haben soziale Medien bei Wahlkämpfen in Europa heute?

Sophie Lecheler: Die sozialen Medien sind natürlich überall sehr wichtig, vor allem für bestimmte Teile der Bevölkerung, aber man muss auch dazusagen, dass sie nicht alles sind. Gerade in Österreich spielen gewachsene Wahlkampfstrukturen, zum Beispiel das Aufstellen von Wahlplakaten oder Diskussionsrunden, noch immer eine große Rolle.

Worin unterscheidet sich Österreich noch von anderen EU-Ländern?

Lecheler: In anderen Ländern, wie beispielsweise in den Niederlanden, gibt es stärkere Regelwerke, etwa wo Plakate aufgestellt werden dürfen. Diesbezüglich bestehen in Österreich mehr Freiheiten. Was Social Media für Parteien so interessant macht, ist der Umstand, dass dieser Bereich noch nicht so klar reguliert ist wie andere Medien, wo klare Gesetze gelten. Im Online-Bereich gibt es mehr Spielraum, das macht ihn auch für politische Werbung so attraktiv. Ein weiterer Vorteil ist, dass man im Netz mit relativ geringem finanziellem Aufwand ein breites Publikum erreichen kann.

Mit welchen Strategien arbeiten Parteien, um Wähler:innen im Netz zu erreichen?

Lecheler: Social Media eignen sich gut dafür, zielgerichtet bestimmte Wählergruppen zu erreichen, zum Beispiel jüngere oder ältere Wähler:innen, Menschen auf dem Land oder in der Stadt. Einerseits wird die eigene Zielgruppe motiviert, wählen zu gehen, andererseits will man natürlich neue Wahlberechtigte gewinnen.

Eher wenig Sinn macht es, in fremden Umfeldern präsent zu sein, wie unsere Analysen zeigen. Also wenn man als linksorientierte Partei im rechten Wählersegment wirbt. Das heißt, man schaut sich eher an, welche Gruppen sich für ähnliche Themen interessieren, oder versucht Menschen zu erreichen, die noch unsicher sind, ob und wen sie wählen wollen. Auf Basis solcher Daten treffen die Parteien ihre Entscheidungen.

Sie haben in dem internationalen Forschungsprojekt DATADRIVEN den Fokus auf das politische Mikrotargeting gerichtet – also auf personalisierte Werbung. Was konkret haben Sie untersucht?

Lecheler: Uns interessiert die Frage, wie Plattformen wie Meta oder Google den Parteien zu mehr Sichtbarkeit verhelfen. Nur dann können wir verstehen, wie politische Werbung im Internet wirklich funktioniert. Wir sehen uns auch an, wie die Menschen auf Politwerbung reagieren. Eine weitere wichtige Frage ist, ob Regeln eingehalten werden und welche Vor- und Nachteile durch Mikrotargeting für die Gesellschaft entstehen.

In einer hochpersonalisierten Umgebung wie einem Social-Media-Feed wissen wir schlicht nicht mehr, was die Menschen vor einer Wahl gesehen haben. Das Problem für uns Forschende ist, dass die Online-Plattformen diese Daten nicht teilen. Daher wissen wir beispielsweise auch nicht, wie viele und welche Anzeigen jede Wählerin und jeder Wähler in Österreich vor einer Wahl gesehen hat.

Braucht es bessere gesetzliche Regelungen in Europa?

Lecheler: Wenn wir keine wissenschaftliche Einsicht in die Praxis der Plattformen haben, wissen wir nur sehr begrenzt, ob die bestehenden Regeln, wie die Datenschutzgrundverordnung oder der Digital Service Act, eingehalten werden und welche Daten an Parteien weitergegeben werden. Das ist wiederum ein Problem für die Regelwerke, die ständig angepasst werden müssen an die Frage, wie Algorithmen entwickelt werden und was sie können. Künftig wird zum Beispiel auch die Frage der Nutzung von künstlicher Intelligenz ein größeres Thema werden.

Wie gehen Sie also vor?

Lecheler: Wir nähern uns aus unterschiedlichen Richtungen an. So haben die Kolleg:innen in Großbritannien mit Parteienvertreter:innen über ihre Strategien und Ressourcen gesprochen. In Deutschland und den Niederlanden wurden Wähler:innen in großen Studien befragt, was sie gesehen haben. Wir machen immer mehr solcher Studien, wo wir Proband:innen bitten, uns ihre Daten zu geben – das nennt sich Data-Donation. Hier in Wien haben wir Experimente (Simulationen) durchgeführt, um zu sehen, wie die Menschen in einer Online-Umgebung auf Werbung reagieren. Wir haben übrigens auch ein Spiel zur Wissensvermittlung entwickelt, um Menschen für Werbung zu sensibilisieren und ihnen zu erklären, welche Möglichkeiten und Rechte sie haben, um unerwünschte Anzeigen auszublenden.

Ein Gruppe Forschender vor dem historischen Gebäude einer Universität in Großbritannien.
Das NORFACE DATADRIVEN-Team bei einem Projekttreffen an der University of Sheffield (UK). © Sophie Lecheler

Wie wirkt Mikrotargeting auf die Bürger:innen?

Lecheler: Aus bisherigen Studien wissen wir, dass kommerzielle personalisierte Werbung nicht besonders negativ wahrgenommen wird, auch wenn es Unsicherheiten darüber gibt, wie das funktioniert. Bei Wahlwerbung trifft das nicht zu. In vielen Ländern gibt es sehr wenig Akzeptanz für personalisierte Wahlwerbung, das finden die Leute eher unheimlich und wenig vertrauenswürdig.

Das hat auch eine von uns durchgeführte Studie zu den Landtags- und Gemeinderatswahlen 2020 in Wien bestätigt. Es hat sich gezeigt, dass Nutzer:innen, die Werbung erkennen, skeptischer reagieren, wenn die Nachricht von einer politischen Partei ist. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass die kritische Verarbeitung und Wirkung von Mikrotargeting in hohem Maße davon abhängt, ob die porträtierte Partei mit den eigenen Präferenzen übereinstimmt.

Woran lässt sich das festmachen?

Lecheler: Wir wissen aus Untersuchungen zu den Effekten von psychometrischem Targeting, also wenn Persönlichkeitsmerkmale der angesprochenen Menschen mit den Botschaften übereinstimmen, dass das zu positiveren Wahrnehmungen gegenüber Kandidat:innen führt. Wenn zum Beispiel introvertierte Personen mit einer auf Angst basierenden Anzeige und extrovertierte Personen mit einer auf Begeisterung basierenden Anzeige übereinstimmen, kann das die Botschaft verstärken und die Wahlabsichten erhöhen.

Auch auf die Identität bezogene Botschaften, indem etwa gezielt Frauen angesprochen werden, kann die Neigung erhöhen, für eine:n Kandidat:in zu stimmen. Werden Wähler:innen hingegen mit unpassender Werbung konfrontiert, kann das auch nach hinten losgehen. Menschen nehmen das eher als manipulativ wahr.

Wie sieht es mit allgemeiner Mobilisierung zur Wahlbeteiligung aus, ist das zielführend?

Lecheler: Wir haben unter anderem eine Vergleichsstudie in 25 Ländern mit insgesamt 14.390 Befragten durchgeführt, die politische Werbung bewerteten. Ein Ergebnis daraus ist, dass allgemeine Botschaften, wie ein Aufruf zur Teilnahme an Wahlen, besser akzeptiert werden als ein Aufruf zur Stimmabgabe für eine bestimmte Partei. Gerade in Österreich könnte man darüber nachdenken, Wählermobilisierung und andere zentrale Themen stärker ins Digitale zu übertragen. Erstwähler:innen etwa kann man hier durchaus motivieren. Wie man weiß, ist das eine wichtige Gruppe, denn wer einmal wählt, tut das auch weiterhin.

Kann digitales Marketing Wahlen entscheiden?

Lecheler: Wenn es eine Partei tatsächlich schafft, die richtigen Leute anzusprechen, was nicht ganz so einfach ist, wenn man sich an die gesetzlichen EU-Regeln hält, kann das auch für mehr Punkte in einer Wahl sorgen. Die große Frage, die sich nicht nur mir als Sozialwissenschaftlerin stellt, sondern auch vielen Bürger:innen, ist, welchen Einfluss diese Unternehmen (Plattformen) auf unser Leben und auf die Demokratie haben. Dieser Frage müssen sich auch die Parteien stellen, denn sie geben ja in gewisser Weise ein Stück Souveränität ab, wenn sie sich der Logik der Plattformen anpassen. Das führt dazu, dass sich auch die Politik selbst verändert. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine langfristige Frage.

Was bedeutet es, unter diesen Voraussetzungen Demokratie zu praktizieren?

Lecheler: Es wird jedenfalls Auswirkungen auf das demokratische Verhalten haben. Aber es geht nicht darum, das abzuschaffen. Im Vordergrund muss stehen, den Menschen Medienkompetenz zu vermitteln, etwa wenn es um Desinformation geht. Da ist es wichtig zu wissen, wie man Faktenchecks macht. Und man muss sich darüber bewusst sein, wie und wo ich als Nutzer:in Daten preisgebe und wie ich das vermeiden kann. Und wir müssen darüber nachdenken, welche Strukturen wir benötigen, um faire Informationsproduktion zu garantieren.

Wobei wir bei Wahlwerbung nicht von Desinformationskampagnen durch Fake-Accounts oder Trolle sprechen, die im internationalen Bereich ein großes Thema sind. Das sind schon Kontexte, wie die Präsidentschaftswahlen in den USA, die man sich mit Sorge anschaut.

Es ist wirklich ein Problem, dass wir so wenig darüber sagen können, was bei Wahlkampagnen im Netz passiert, weil wir nicht genau wissen, was die Leute sehen. Deshalb brauchen wir sowohl EU-weit als auch global gesehen mehr Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen. Aus Sicht der Forschung sind Datentransparenz und der Zugang zu Daten essenziell. Als Gesellschaft brauchen wir dieses empirische Wissen, um die geeigneten Regelwerke für unsere Informationsgesellschaft entwickeln zu können. Da stehen wir erst am Beginn.

Zur Person

Sophie Lecheler ist Professorin für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Kommunikation an der Universität Wien. Sie hat an der Universität Amsterdam promoviert und Masterabschlüsse an der Universität München und der University of Cambridge (UK) erworben. Ihr Projekt „Die Wirkung von datengesteuerten Wahlkampagnen“ (2020–2024) erforschte, wie Mikrotargeting in Wahlkämpfen wirkt. Es wurde vom Wissenschaftsfonds FWF im Rahmen des europäischen Forschungsnetzwerkes NORFACE mit 253.000 Euro kofinanziert.

EU-Regelungen für politische Werbung

Während Mikrotargeting-Praktiken von einem weniger restriktiven Rechtsrahmen profitieren und besonders in den Vereinigten Staaten erfolgreich sind, stoßen sie im europäischen Kontext aufgrund von Vorschriften zum Schutz der Privatsphäre und zur Datenerhebung auf strengere rechtliche Beschränkungen, unter anderem durch die Datenschutzgrundverordnung. Weitere Regulierungen zum Schutz vor Einflussnahmen und zur Förderung der Transparenz wurden erst kürzlich in einer neuen EU-Verordnung festgelegt. Diese schreibt vor, dass politische Werbung gekennzeichnet sein muss.

Weiters muss offengelegt werden, wer wie viel bezahlt und an welche Wahlen oder Referenden sie geknüpft ist. Politisches Targeting, auf die Wählergruppe zugeschnittene Anzeigen, darf ausschließlich auf Basis von personenbezogenen Daten, die durch die Zustimmung der Nutzer:innen verfügbar sind, erfolgen. Sensible Daten wie sexuelle Orientierung, Religion oder politische Einstellung dürfen nicht verwendet werden, um Manipulationen vorzubeugen.