Kaiser Franz Joseph I. am Schreibtisch
Kaiser Franz Joseph I. setzte auf BĂŒrokratie. Das brachte auch ihm persönlich viel Arbeit ein. Vom ersten bis zum letzten Tag seiner Amtszeit gingen AntrĂ€ge jeglicher Art ĂŒber seinen Schreibtisch. © Ă–NB

Wenn Dinge sprechen könnten, wĂŒrde der Schreibtisch von Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) ganze BĂ€nde fĂŒllen. TagtĂ€glich wurden dort kleine bis große Entscheidungen getroffen. Seine Rolle als Letztentscheider erfĂŒllte er vom ersten bis zum letzten Tag seiner Amtszeit. Überraschend daran ist etwa seine ausgeprĂ€gte Konsensorientierung, die sogar Parallelen zu zeitgenössischen Politikerinnen und Politikern zulĂ€sst. Zudem ist die Bandbreite dessen, was es zu entscheiden galt, vielschichtig und reichte vom Ansuchen um Pensionserhöhung ĂŒber Infrastrukturinvestitionen bis zur Revidierung von Todesstrafen. „Die Themen landeten bunt gemischt auf seinem Schreibtisch. So folgte etwa auf eine Gnadengabe von 50 Kreuzern eine Eisenbahnkonzession. Wir waren fasziniert, wie wenig zusammenhĂ€ngend sie abgearbeitet wurden. Das muss fĂŒr ihn unglaublich anstrengend gewesen sein“, sagt Peter Becker, Historiker an der UniversitĂ€t Wien. In 68 Jahren Regierungszeit (1848–1916) sammelte sich ein Korpus von 250.000 schriftlichen Vermerken, sogenannten „VortrĂ€gen“ an, die in ProtokollbĂŒchern der Kabinettskanzlei dokumentiert und im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien aufbewahrt sind.

Entscheidungsprozesse erstmals analysierbar

Trotz unzĂ€hliger Publikationen ĂŒber die Habsburger ist dieser Korpus nie systematisch erforscht worden. Die Historikerin Jana Osterkamp vom Collegium Carolinum in MĂŒnchen erklĂ€rt, warum: „Der Korpus war eine Art Steinbruch fĂŒr andere Forschungsfragen. Denn mit den ĂŒblichen Forschungsmethoden war dieser enorme Umfang nicht handhabbar.“ Die VortrĂ€ge sind keine Kurznotizen, sondern waren Entscheidungsgrundlage fĂŒr den Kaiser und bestanden aus einer Zusammenfassung von drei bis fĂŒnf Seiten des Themas samt Entscheidungsvorschlag der zustĂ€ndigen Minister. Verfasst wurden sie in der Kabinettskanzlei. Adolf Braun, der diese von 1865 bis 1899 als Direktor leitete, galt als enge Vertrauensperson des Kaisers. Die VortrĂ€ge sind daher eine zentrale Quelle, um dessen Entscheidungsprozesse zu verstehen, und helfen, eine Reihe an Fragen zu beantworten: Was landete am Schreibtisch? Welche Politikbereiche waren wann wichtig? Wie und wie schnell hat er entschieden? Welche Akteure spielten eine Rolle? In einem laufenden Forschungsprojekt, das Peter Becker und Jana Osterkamp gemeinsam leiten und das vom Wissenschaftsfonds FWF und der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG finanziert wird, gehen sie dem auf den Grund. Zu diesem Zweck haben sie mit ihren Teams eine neue Methode entwickelt. Inzwischen sind mehr als 60 Prozent der VortrĂ€ge aus einer Stichprobe im Umfang von 30 Prozent analysiert. „Mit der historisch-statistischen Politikfeldanalyse können wir die ProtokollbĂŒcher der Kabinettskanzlei statistisch und qualitativ auswerten. Dabei betrachten wir nicht nur inhaltliche, sondern auch zeitliche Komponenten wie die Bearbeitungsdauer“, erklĂ€rt Osterkamp.

Enorm viele Einzelfallentscheidungen

„Faszinierend ist zum Beispiel, dass der Kaiser stets eine starke Konsensorientierung erkennen lĂ€sst. Wir haben nach einem zeitgenössischen Vergleich gesucht und man könnte ihn in dieser Hinsicht als mĂ€nnliches Pendant zu Angela Merkel betrachten“, so Peter Becker, „wĂ€hrend der deutsche Kaiser Wilhelm II an Donald Trump erinnert.“ Die Konsensorientierung behielt der Kaiser zwar selbst in Zeiten des Dissens, allerdings wurde der Konsens nur innerhalb einer kleinen Gruppe politischer Akteure ausgehandelt. „In Zeiten der Massenpolitik und im konkreten Fall der NationalitĂ€tenkonflikte stellte dies kein angemessenes Steuerungsinstrument dar“, ergĂ€nzt der Historiker. Jeder der 250.000 VortrĂ€ge wird einem von acht Politikbereichen zugeordnet, welche die Forschenden aus 30 Kategorien subsumierten. In des Kaisers Regierungszeit fallen tradierte Bereiche wie Nobilitierungen (Standeserhöhung) ebenso wie die Eisenbahn als moderner Politikbereich. Unter anderem lĂ€sst sich bei den Entscheidungsprozessen nun zudem auch der Zeitverlauf auswerten oder um welche Regelung (Gesetzesvorlage, Verordnung, Einzelfallentscheidung) es sich handelte. „Über 90 Prozent sind Einzelfallentscheidungen, ein Wert, der uns umgehauen hat. Noch dazu, weil vieles heute zum Mikro-Management von Institutionen zĂ€hlen wĂŒrde“, betont Becker.

Effiziente BĂŒrokratie verstellte den Blick aufs Ganze

Wer nahm jedoch Einfluss auf die Entscheidungsprozesse? Dazu untersuchen die Forschungsteams Beispiele aus den Politikfeldern Nobilitierung und Eisenbahn. In einem Fallbeispiel geht es darum, wo der Bahnhof im galizischen Lemberg (Lwiw) gebaut werden sollte. „Hier wird die Entscheidung zurĂŒckverfolgt, denn die Motive der beteiligten Akteure können wir auf lokaler Ebene besser fassen als ĂŒber die dreiseitige Zusammenfassung“, erklĂ€rt die Forscherin. Becker ergĂ€nzt, dass bei Eisenbahnprojekten die Interessenvertreter „innerhalb des formalen Ablaufs in den Protokollen etwa ĂŒber Petitionen oder Audienzen auftauchen“. Wer wie Einfluss nahm, hing davon ab, ob der Kaiser – wie bei Nobilitierungen – alleine entschied oder ob Minister eingebunden waren. Einzig im Bereich Symbolpolitik haben Mitglieder der gehobenen Gesellschaft ĂŒber Kabinettskanzleidirektor Braun auf informellem Weg versucht, Einfluss zu nehmen. Dessen Nachlass wird nun in einer Fallstudie ebenfalls analysiert. Kaiser Franz Joseph I. setzte jedenfalls primĂ€r auf Verwaltung und FachbĂŒrokratie und legte Wert auf die Einhaltung von formalen AblĂ€ufen, wie die Analysen zeigen. „Er war ein höchst effizienter BĂŒrokrat, der nichts liegen oder anbrennen ließ. 68 Prozent entschied er innerhalb eines Tages und das Allermeiste erledigte er binnen einer Woche“, betont der Forscher. Der Anspruch auf Letztentscheidung, die steigende Zahl staatlicher Aufgaben und der extrem hohe Anteil an Einzelfallentscheidungen brachten ihn aber zunehmend an den Rand des Machbaren. Das Abarbeiten von Agenden hatte noch eine Kehrseite: Es verhinderte den Blick auf das Ganze. Denn große gesellschaftliche VerĂ€nderungen oder der Einzug der Moderne kamen selten bis gar nicht am Schreibtisch des Kaisers an.


Zu den Personen Peter Becker ist Historiker und seit 2014 Professor fĂŒr Österreichische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert am Institut fĂŒr Geschichte der UniversitĂ€t Wien. Seine wissenschaftliche Laufbahn fĂŒhrte ihn davor nach Italien, Deutschland und in die USA. Einer seiner Forschungsschwerpunkte sind Entscheidungsprozesse in der Entwicklung moderner Nationalstaaten. Seit 2018 leitet er gemeinsam mit Jana Osterkamp, unterstĂŒtzt durch den Wissenschaftsfonds FWF und die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG, das Projekt „Der Schreibtisch des Kaisers: ein Ort der Politik“ mit einem Fördervolumen von 326.000 Euro. Jana Osterkamp ist Historikerin am Collegium Carolinum in MĂŒnchen. Zu ihren Schwerpunkten zĂ€hlen u. a. Föderalismusgeschichte und die Habsburger Monarchie im 19. Jahrhundert.


Publikationen

Becker, Peter; Osterkamp, Jana: Der Kaiser und seine Kanzlei. Überlegungen zum Herrschaftssystem der Habsburgermonarchie, in: Drobesch, Werner; Lobenwein, Elisabeth (Hg.), Politik- und Kulturgeschichtliche Betrachtungen, Hermagoras 845–861, 2020
Osterkamp, Jana: Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie (VormÀrz bis 1918), Göttingen 2020
Becker, Peter: Der Staat – eine österreichische Geschichte?, in: MIÖG 126, 317–340, 2018
Ableidinger, Clemens et al. (Hg). Historische Politikfeldanalyse im Europa des 19. Jahrhunderts, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (erscheint im Herbst 2021)