Beim Brand des Wiener Justizpalastes 1927 wurden unzählige Dokumente vernichtet. Historiker haben in den Resten von Ministerratsprotokollen dennoch Aufschlussreiches über die damalige Regierungspolitik gefunden. © ÖNB

Mehr als 900 Kartons und 100 Aktenbündel umfasste die Registratur des Österreichischen Ministerratspräsidiums für die Zeit von 1861 bis 1918. In den Kartons befanden sich auch die Protokolle des cisleithanischen Ministerrats ab 1867 bis zum Ende der Doppelmonarchie. Dieser bildete die Regierung für jene Gebiete, die zur österreichischen (cisleithanischen) Reichshälfte gehörten. Ihre letzte Heimstatt fanden die Unterlagen im Archiv des damaligen Justizpalasts in Wien. Als dieser am 15. Juli 1927 in Flammen aufging, wurden die Unterlagen großteils zerstört. „Etwa zehn Prozent der 900 Kartons sind übrig. Von den Protokollen des Ministerrats, der wöchentlich tagte, sind 750 Stück ganz oder teilweise erhalten“, sagt Stefan Malfèr, Historiker am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Schon seit Beginn wirkt er an der Edition „Die Ministerratsprotokolle Österreichs und der österreichisch-ungarischen Monarchie 1848-1918“ mit. Deren Erforschung ist inzwischen fixer Bestandteil des Forschungsbereichs „Kulturelles Erbe“. Die aufwändige Bearbeitung der „Brandakten“ für die Jahre 1914 bis 1918 konnten Malfèr und ein Projektmitarbeiter im Rahmen eines Forschungsprojekts, das der Wissenschaftsfonds FWF förderte, nun abschließen.

Historiker/innen bereiten die Brandakten sukzessive auf. © INZ

Retten, was zu retten ist

Als 1927 die meterhohen Archivregale in sich zusammenstürzten, begruben sie auch einen Teil der Kartons unter sich. Das bewahrte sie vor dem Feuer, dafür setzte ihnen später das Löschwasser zu. Die Archivare bargen sie teils unter Lebensgefahr, trockneten die Akten und versuchten, möglichst viel zu retten. Einige Ministerratsprotokolle wurden später restauriert und konserviert. „Als wir die Kartons öffneten, waren von einigen Protokollen nur mehr Brösel übrig. Die gut erhaltenen Protokolle haben wir vor Ort seitenweise abfotografiert“, erzählt Projektleiter Malfèr. Um zu rekonstruieren, wann welche Sitzung stattfand, und welche Minister worüber diskutierten, sind die Akten der Kabinettskanzlei ebenso bedeutsam wie die Abschriften in tschechischen Archiven. „Protokolle, die komplett erhalten sind, lassen sich nämlich an zehn Fingern abzählen. Für die Jahre 1915 bis 1917 haben wir leider nur wenige“, ergänzt der hauptverantwortliche Projektmitarbeiter sowie Historiker und Slawist Wladimir Fischer-Nebmaier.

Ernährungsfrage wurde unterschätzt

Die Ministerratsprotokolle sind unter anderem deshalb spannend, weil die Sitzungen nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, also geheim waren. Die teils detailgenaue Wiedergabe von dem, was gesagt wurde, gewährt heute einen nahezu unverfälschten Einblick in die damalige Regierungspolitik: Welche Themen waren besonders brisant? Welche Minister vertraten welche Positionen? Welche Konfliktlinien existierten und wie wandelten sich Diskussionen? Zwei Themen – Ernährung und Autoritarismus – waren laut Fischer-Nebmaier durchgängig relevant. So kam es etwa bereits im Oktober 1914 zur ersten Ernährungskrise, die eng mit der Eisenbahn verknüpft war. „Wochenlang hatten militärische Güter laut Kriegsfahrordnung immer Vorrang. Die Zivilbevölkerung durfte die Bahn nicht benutzen und auch Lebensmittel für Zivilisten wurden kaum transportiert“, erklärt der Historiker.

Die hungrige Bevölkerung sucht auf abgeernteten Feldern eines Rübenackers in der Umgebung Wiens nach Überresten. © ÖNB

Dies hatte rasch Versorgungsengpässe in vielen Städten zur Folge. Diese Entwicklungen wurden im Ministerrat diskutiert, und anhand der Protokolle werden die Verläufe sichtbar. So habe laut den Historikern etwa k.k. Ministerratspräsident Karl Graf Stürgkh sehr wohl erkannt, dass die Ernährungsfrage kriegsentscheidend sein könne und versucht, dies der Heeresleitung klarzumachen – ohne Erfolg. Verschiedene Lösungsansätze wurden diskutiert und umgesetzt, doch das Problem verschlimmerte sich, und so blieb Ernährung bis Kriegsende stets auf der Tagesordnung.

Steiniger Weg zum Sozialstaat

„Die Protokolle machen es möglich, den damaligen Ministern quasi auf den Mund zu schauen“, betont Fischer-Nebmaier. Beeindruckend sei für ihn der radikale Umschwung von einer äußerst autoritären Politik hin zur vergleichsweise späten „Entdeckung“ der sozialen Frage im Jahr 1917. Noch zu Kriegsbeginn vertrat der Handelsminister die Auffassung, dass Hunger gut sei, da in der Folge der Bedarf sinke. „Nach 1917 wurden derart zynische Reden im Ministerrat nicht mehr geführt. Vielmehr sprachen die Minister nun darüber, wie es der Zivilbevölkerung geht und was sie braucht“, sagt der Historiker. Der lang anhaltende Widerstand einiger Minister kam daher, dass soziale Agenden mit der Arbeiterbewegung gleichgesetzt wurden, der man möglichst wenig politisches Gewicht zusprechen wollte.

Somit begann die Einbeziehung der Sozialdemokratie nicht erst am 11. November 1918. Für Stefan Malfèr ist Strukturschwäche ein Hauptgrund für die verspätete Entwicklung: „Die falschen Leute, sprich die Militärs, hatten zu lange zu viel Einfluss. Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg löste sich das auf.“ Die Ministerratsprotokolle sind als Quelle nun teils erstmals bzw. besser nutzbar und kontextualisiert. Dieser Band wird zudem voll digitalisiert und soll über die ÖAW-Website zugänglich sein. All das bewahrt die Überreste der ursprünglich 900 Kartons letztlich vor der Vergessenheit. Wer weiß, welche Erkenntnisse sich darin noch verbergen.

Zu den Personen

Stefan Malfèr ist Historiker mit Schwerpunkt Verwaltungs- und Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie. An der Edition „Die Ministerratsprotokolle Österreichs und der österreichisch-ungarischen Monarchie 1848-1918“ arbeitet er seit 1976 mit. Zuletzt leitete Malfèr ein FWF-Projekt, das sich mit den cisleithanischen Ministerratsprotokollen 1914 bis 1918 befasste. Wladimir Fischer-Nebmaier ist Historiker und Slawist am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und hauptverantwortlicher Projektmitarbeiter in dem FWF-Projekt. Zudem ist er zuständig für die digitale Edition des Weltkriegsbandes.

Publikationen

Stefan Malfèr (Hg.): Die Protokolle des cisleithanischen Ministerrates 1867-1918, Band I: 1867, Wien 2018

Online-Edition: „Die Ministerratsprotokolle Österreichs und der österreichisch-ungarischen Monarchie 1848-1918“, Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichteforschung, ÖAW