Die Vermessung der Urzeit
Das gröĂte fossile Austernriff der Welt ist der Höhepunkt des geo-Edutainment-Parks âFossilienwelt Weinviertelâ in Niederösterreich. Vor rund 17 Millionen Jahren lebten hier, nordöstlich von Korneuburg, Haie, SeekĂŒhe und eine Vielzahl von Riesenaustern an einer seichten Meeresbucht. Mehr als 650 verschiedene Tier- und Pflanzenarten sind von dieser einzigartigen fossilen FundstĂ€tte bereits dokumentiert. Dennoch stellen sich der Wissenschaft nach wie vor viele Fragen zum Zustandekommen dieses einmaligen Fundes. Um mehr Erkenntnisse dieser Momentaufnahme des Ăkosystems aus dem MiozĂ€n (vor rund 23 bis 5 Millionen Jahren) zu gewinnen, hat das Naturhistorische Museum Wien in Zusammenarbeit mit der Technischen UniversitĂ€t Wien 2013 das Projekt âSmart Geologyâ gestartet. Das FWF-Projekt untersucht, ob und wie moderne Technologien zur 3D-Digitalisierung, Datenverarbeitung und Visualisierung eingesetzt werden können, um aussagekrĂ€ftige Ergebnisse zu gewinnen.
Grenzen klassischer Methoden
âDie Dimension dieses geschĂŒtzten Naturdenkmals und die enorme Zahl einzelner Austernschalen machen eine klassisch palĂ€ontologische Erfassung sehr zeitaufwĂ€ndig und auch subjektivâ, erklĂ€rt Projektleiter Mathias Harzhauser vom Naturhistorischen Museum. Trotz einer Vielzahl von Publikationen zu Flora und Fauna dieser Landschaftsform (Ăstuar), fehlen bis dato Analysen der rund 50.000 Schalen umfassenden Ansammlung von Austern. Erschwerend hinzukommt, dass die GrabungsflĂ€che unter Naturschutz steht und daher nicht betreten werden darf.
Smarte Technologien âŠ
âUnser Ziel ist eine vollautomatische Erfassung der Objekte, was aufgrund der unregelmĂ€Ăigen Formen und der unterschiedlichen Lagewinkel ein komplizierter Prozess istâ, erklĂ€rt der Geologe. Um dies zu bewerkstelligen, beschreiten die Forscherinnen und Forscher neue Wege, indem sie Methoden der 3-D-Rekonstruktion mit digitalen Höhenmodellen aus dem Bereich der Bergwissenschaften verknĂŒpfen. Dabei kommen riesige Laserscanner auf Fahrgestellen zum Einsatz, um die Austern von oben zu dokumentieren und anschlieĂend in 3-D-Modellen auszuwerten. Die ersten Probemessungen mithilfe der âsmartenâ Technologien verliefen positiv und machten sich somit bezahlt. Denn die Analysen der digitalen Dokumentationen lieferten neue Erkenntnisse zum Fund, die die Wissenschafterinnen und Wissenschafter soeben in Fachjournalen veröffentlichen konnten.
⊠liefern neue Erkenntnisse
Die Resultate zeigen, dass das Austernriff Ergebnis von mindestens vier Ereignissen ist, die zum Teil viele Jahre auseinanderliegen. Dies konnte die Forschergruppe aus den Korrelationen zwischen den Verteilungen und HĂ€ufigkeiten der verschiedenen Arten sowie durch Analyse der Fragmentierung und Orientierung der Austern rekonstruieren. âEine ungewöhnliche Sturmwelle oder ein Tsunami brachte Vertreter verschiedener, sowohl zeitlich als auch rĂ€umlich voneinander getrennter Ăkosysteme zusammenâ, sagt Harzhauser.
Altersstruktur und Population
Durch die automatische Berechnung von Umriss und LĂ€nge der vollstĂ€ndig erhaltenen Schalen war es nun auch erstmals möglich nach Altersstrukturen und Populationsmustern in einem fossilen Austernriff zu suchen. Das Ergebnis zeigt, dass das fossile Riff heutigen â kommerziell wichtigen â Riffen dieser Austernart entspricht. Durch die in einem frĂŒheren FWF-Projekt gewonnenen Altersdaten hat das Forscherteam weiters die LĂ€ngen der Muscheln mit den Lebensaltern gekoppelt. âTrotz der ungewöhnlichen GröĂe von bis zu 80 cm LĂ€nge, war der GroĂteil der Tiere nur zwischen drei und sieben Jahren altâ, berichtet Harzhauser aus dem Projekt, das noch bis 2016 lĂ€uft. Dies belegt, dass das heute vorliegende Austernriff ein geologischer âSchnappschussâ ist, und nicht durch Akkumulation ĂŒber viele Jahrzehnte entstand.
Umweltbedingungen
In einem weiteren Schritt wurde das VerhĂ€ltnis zwischen SchalenlĂ€ngen und Volumen berechnet. Dazu mussten einige Schalen unterschiedlicher LĂ€nge vollstĂ€ndig und hochauflösend gescannt und 3D-Modelle ermittelt werden. Aus diesen Daten lĂ€sst sich die jĂ€hrliche Karbonat-Produktion einer Auster berechnen, was Aufschluss ĂŒber die Klimabedingungen gibt. âDie Riesenaustern erwiesen sich dabei als ebenso produktiv wie Korallenriffe und dĂŒrften daher wesentliche â aber weitgehend ĂŒbersehene â Produzenten von Karbonat in fĂŒr Korallen unzugĂ€nglichen Habitaten gewesen seinâ, erklĂ€rt Harzhauser.
Wer findet âRomeo & Juliaâ?
FĂŒr die Technikwissenschaft stellt das automatische Erfassen von komplexen Formen eine ebenso fordernde wie spannende Aufgabe dar. Den PalĂ€ontologen ermöglichen diese Methoden, die Entstehungsgeschichte und Dynamik dieses weltweit einzigartigen Fundes besser zu verstehen. âEine besondere Herausforderung ist der von den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern humorvoll âRomeo & Julia-Projektâ genannte Versuch Schalenpaare zusammen zu finden, da durch die Flutwelle vermeintlich alle Schalenpaare getrennt wurdenâ, erzĂ€hlt Harzhauser. Was nach âWissenschaft im Elfenbeinturmâ klinge, habe einen handfesten Hintergrund und finde auch im tĂ€glichen Leben Anwendung, betont der Wissenschafter. So ist etwa das automatische Erkennen von unregelmĂ€Ăigen Formen, wie Baumkronen im Wald oder Einzelpersonen in Menschenmengen, ein hochaktuelles Forschungsfeld.
Zur Person Mathias Harzhauser ist Leiter der Geologisch-PalĂ€ontologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien (NHM), wo er sich unter anderem der Vermittlung erdwissenschaftlicher Themen widmet. Der PalĂ€ontologe ist Autor zahlreicher Publikationen und u.a. Mitglied der Erdwissenschaftlichen Kommission der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften. Das FWF-Projekt âSmart Geology fĂŒr das gröĂte fossile Austernriff der Weltâ lĂ€uft noch bis 2016.
Publikationen
Disentangling the history of complex multi-phased shell beds based on the analysis of 3D point cloud data: Harzhauser, M., Djuricic, A., Mandic, O., Zuschin, M., Dorninger, P., Nothegger, C., Székely, B., Puttonen, E., Molnår, G., Pfeifer, N., Nov. 2015. In: Palaeogeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology, http://dx.doi.org/10.1016/j.palaeo.2015.07.038
Age structure, carbonate production and shell loss rate in an Early Miocene reef of the giant oyster Crassostrea gryphoides: Harzhauser, M., Djuricic, A., Mandic, O., Neubauer, T. A., Zuschin, M., Pfeifer, N. Sept. 2015. In: Biogeosciences, http://dx.doi.org/10.5194/bgd-12-15867-2015
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