Choreo-graphic Figures: Deviations from the Line. Ein künstlerisches Forschungsprojekt von Nikolaus Gansterer, Emma Cocker und Mariella Greil. © Victor Jaschke/Choreo-graphic Figures

„Wie fühlt sich Sprache an, wenn du sie im Mund herum rollst?“, wirft ein Videoprojektor an eine weiße Wand, während eine Rute immer wieder und schnell durch den Lichtstrahl fährt, die Buchstaben auf dem Weg von der Lichtquelle zur Wand aufhält, reflektiert und doch nicht bremst: Willkommen im „Method Lab“ von Nikolaus Gansterer und seinem Team, einer künstlerischen Versuchsanordnung praktischen Erkenntnisgewinns. Die Welt ermessen, um sie zu erkennen. Das ist ein zutiefst wissenschaftlicher Zugang. Das ist zugleich ein Bedürfnis, das auch die Kunst für sich in Anspruch nimmt. „Wissenschaft und Kunst“, betont denn auch Nikolaus Gansterer, „sind auf das Engste miteinander verbunden.“ So wie es die Wissenschaften gibt in allen ihren Disziplinen, so gibt es viele Künste in allen ihren Disziplinen. – So wie sie ja auch seit der Antike Geschwister im Geiste sind. „In der künstlerischen Forschung geht es um das Ergründen der Welt, es geht um ein Freilegen ihrer Grundlagen“, führt Gansterer im Gespräch mit scilog aus. Womit die gemeinsame Basis, auf der seine Arbeit aus Kunst und Forschung ruht, definiert ist.

Denken, fühlen, wissen

„Choreo-graphic Figures: Deviations from the Line“, so heißt das Projekt, das der Künstler Nikolaus Gansterer in Zusammenarbeit mit der Tänzerin Mariella Greil und der Schriftstellerin Emma Cocker und verschiedenen Gästen über die vergangenen drei Jahre und unterstützt durch den Wissenschaftsfonds FWF im Rahmen seines PEEK-Programms vorangetrieben hat. „Deviations oder Abweichungen einfach deshalb, weil das Projekt als das Zusammentreffen dreier verschiedener Disziplinen aufgesetzt war.“ Als ein Begegnungsraum, das heißt ein Spannungsfeld aus Choreografie, Schreiben und Zeichnen, also genuin künstlerische Mittel, die die Formen des Denkens-Fühlens-Wissens erforschen, die durch kollaborative Praxis entstehen. „Die Abweichung“, erklärt Gansterer weiter, „ist positiv gedacht. Sie ermöglicht es uns, Fragen zu formulieren, aufzuwerfen.“ Die Abweichung als Ansporn, als Anstoß neue Welten zu erschließen. Untersucht wurde sie im „Method Lab“, einem Raum, in dem Schreiben, Choreo-grafie (auf den trennenden Bindestrich legt Gansterer Wert, als es keine festgelegte Choreografie ist, vielmehr eine, die sich ad hoc und in situ aus der Situation des Experiments heraus ergibt) und Zeichnen gemeinsam ausgeübt, erfahren, bemerkt, notiert werden.

Auf- und ausräumen © Julian Hughes/Choreo-graphic Figures

In der Welt sein

„Was wir freigelegt haben, ist ein System, das diesen Bewegungen nachspürt“, beschreibt Gansterer den Prozess. Und fügt hinzu: „Es geht um Formen, Spuren und Figuren des In-der-Welt-seins.“ In manchen Situationen, so Gansterer, ereignen sich eben jene choreo-grafischen Figuren, in anderen nicht. Das lässt sich nicht rigoros kontrollieren. Nach drei Jahren intensiver Arbeit, Beobachtungen und Aufzeichnungen mit Partnern aus der Philosophie, dem Theater und den Tanzwissenschaften lässt sich dieses System schlussendlich fassen und kommunizieren. Soeben sind die Forschungsergebnisse in dem im Verlag de Gruyter erschienen Band „Choreo-graphic Figures: Deviations from the Line“ erschienen. In der mit zahlreichen Bild- und Textbeiträgen der Projektbeteiligten sowie einer Vielzahl an diagrammatischen Zeichnungen von Gansterer versehenen Publikation ist es gelungen, sowohl die Annäherung an die Formen des Denkens-Fühlens-Wissens als auch den Labor- und Werkstattcharakter des Projekts zu vermitteln.

Der eigene Körper als Ressource © Victor Jaschke/Choreo-graphic Figures

Es wäre durchaus reizvoll, so der Projektleiter, die Arbeit weiterzuführen und den Kreis der Partner zu erweitern; man sei da in viele Richtungen offen, bis hin zur Experimentalphysik etwa in Form einer Kooperation mit dem CERN. Denn „es geht sehr stark um Mikrogesten, um Mikrosituationen; es geht in das Kleine und das Kleinste“, so Gansterer. „In den Labors haben wir stets so gearbeitet, dass der eigene Körper als Ressource diente.“ Es gab also keine Sensoren oder technische Aufzeichnungen, vielmehr vertraute man bewusst auf die eigene Wahrnehmung, die im Prozess zunehmend geschärft wurde. „Man wird einer im Bruchteil einer Sekunde auftauchenden Falte im Gesicht eines Partners gewahr“, beschreibt Nikolaus Gansterer dieses „Finetuning“ des eigenen Körpers und der eigenen Sinne. „Das Raumempfinden nimmt so sehr zu, dass ich differenziert wahrnehmen konnte, was hinter mir geschah, während ich auf einer Diagonale den Raum durchquerte.“

Jeder Klick eine Notation

Eine höchst sensible Situation, vor allem insofern, als es gilt, eine Notation zu (er)finden und zu entwickeln, die die Dinge beschreibt „ohne sie im Moment ihres Erscheinens gleich zunichte zu machen“. Es entstehe in der Arbeit in den Labors „etwas Atmosphärisches“, welches alleine durch Sprache schon zerstört werden kann, beschreibt Gansterer, ebenso durch Bewegungen und Fingerzeige. „Diese Problematik beschäftigte uns so lange bis wir schließlich in schlichten Klicklauten die Möglichkeit von Markern gefunden haben, durch die wir für die Videoaufzeichnungen etwas festhalten konnten, ohne es zu zerstören.“ – Es gibt noch viel zu notieren. Was bisher war, ist nur ein erster Schritt.


Zur Person Nikolaus Gansterer ist Mitbegründer des „Instituts für Transakustische Forschung“ und des Klangkollektivs „The Vegetable Orchestra“. Gansterer lehrt unter anderem am Institut für Transmediale Kunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien und ist seit 2016 Gastprofessor am Zentrum Fokus Forschung Wien.


Publikation

Nikolaus Gansterer, Emma Cocker, Mariella Greil (Hg.): CHOREO-GRAPHIC FIGURES: DEVIATIONS FROM THE LINE, Reihe “Edition Angewandte”, Walter de Gruyter, Berlin/Boston, 2017. ISBN 978-3-11-054660-6

Projektwebsite: http://www.choreo-graphic-figures.net/