Die Muttersprache der Zukunft ist Ăbersetzung

GriaĂ di, bonjour, iyi gĂŒnler! Europa wird, neben anderen Merkmalen, durch seine Sprachvielfalt geprĂ€gt. Sie ist seit jeher Teil der IdentitĂ€t des Kontinents und seiner Bevölkerungsgruppen. Doch vieles von dem, was historisch gewachsen ist, wird gegenwĂ€rtig neu zusammengesetzt. Europa befindet sich durch Migration und MobilitĂ€t in einem Transformationsprozess, der viele Fragen ĂŒber die zukĂŒnftige europĂ€ische Gesellschaft aufwirft. Das interdisziplinĂ€re Forschungsprojekt âEuropa als Raum der Ăbersetzungâ, das vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wurde, untersuchte Sprache und ihre Ăbersetzungsprozesse vor dem Hintergrund der Gesellschaft im Wandel. Ăbersetzung definieren die Forscherinnen und Forscher dabei primĂ€r als soziales PhĂ€nomen. âNeben standardisierten Nationalsprachen gibt es eine Vielzahl von SprachrealitĂ€ten. Das können Familiensprachen, Handelssprachen oder auch die immer wichtiger werdenden Sprachen der Migration seinâ, erklĂ€rt der Philosoph Stefan Nowotny, Mitglied des Forschungsteams. âDie Ausdifferenzierung in Familiensprachen und Handelssprachen etwa kennt man in Teilen Afrikas. Durch Migration werden sie auch in den französischen VorstĂ€dten gelebt.â Diesen Aspekten gelte es Rechnung zu tragen.
Verwaltete Sprachvielfalt der EU
In der EuropĂ€ischen Union werden derzeit 24 Sprachen als Amts- und Arbeitssprachen anerkannt. Wie mit Sprachvielfalt umgegangen wird, ist indessen immer auch Ausdruck einer Politik und habe zudem juristische Aspekte, erklĂ€rt Nowotny. So muss etwa jedes Dokument des europĂ€ischen Vertragswerks in sĂ€mtliche Amtssprachen der EU ĂŒbersetzt werden, gilt aber, aus GrĂŒnden der Rechtsverbindlichkeit, in allen Versionen als Original. âDas ist zugleich ein Beispiel dafĂŒr, dass Ăbersetzung in ihrer Bedeutung oft vollkommen ausgeblendet wird.â Nowotny, der auch in BrĂŒssel gelebt hat, schildert am Beispiel von Belgien und Luxemburg die Auswirkungen unterschiedlicher sprachpolitischer Modelle auf mehrsprachige Gesellschaften. WĂ€hrend Belgien ein multilinguales Konzept verfolge, das vor allem auĂerhalb BrĂŒssels jeder Sprachgruppe ihre Einsprachigkeit sichere, wird Luxemburg von sprachlicher FlexibilitĂ€t geprĂ€gt. Printmedien werden mehrheitlich auf Deutsch veröffentlicht, Gesetze auf Französisch, in Alltag und Rundfunk dominiert Luxemburgisch, ĂŒbrigens keine Amtssprache der EU; hinzu kommt das in Schulen unterrichtete Englisch. â Vielfalt ist und bleibt ein prĂ€gendes Charakteristikum Europas. Die Frage der Wissenschafterinnen und Wissenschafter lautet, welchen Nutzen die Gesellschaft daraus zieht.
Sprache als Produkt vieler EinflĂŒsse
Teil des FWF-Forschungsprojekts, das am EuropĂ€ischen Institut fĂŒr progressive Kulturpolitik (eipcp) durchgefĂŒhrt wurde, war eine Serie von Workshops im französischen Aubervilliers, einem Pariser Vorort, in Salzburg und Maribor in Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort, dem Les Laboratoires d'Aubervilliers, dem Stefan Zweig Centre Salzburg und dem Goethe Institut Ljubljana. Hier wurden folgende Fragen mit internationalen Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft diskutiert: Wie werden in Situationen sprachlicher Differenz soziale VerhĂ€ltnisse artikuliert? Wer wird wie âangesprochenâ? Und welche politischen, ökonomischen und institutionellen Interessen prĂ€gen diese Adressierungen, um andererseits auch durch brĂŒchige oder informelle Ăbersetzungsgemeinschaften infrage gestellt zu werden? Dabei bildete der Begriff der HeterolingualitĂ€t, eingefĂŒhrt von dem japanischen Ăbersetzungstheoretiker Naoki Sakai, einen zentralen theoretischen Ausgangspunkt fĂŒr das Projekt. âDieses Konzept ist unserer EinschĂ€tzung nach ein ĂŒberzeugendes Instrument fĂŒr die Neubewertung und Neuerschaffung nicht nur sprachlicher, sondern auch kultureller, pĂ€dagogischer und politischer Praxenâ, sagt Nowotny. In einer Reihe von Print- und Onlinepublikationen, einer internationalen Konferenz und in den Workshops wurden als Ergebnis des Projekts auch Elemente einer Kartographie Europas als translationaler Raum erarbeitet.
Ăbersetzung als Chance fĂŒr Europa
Neben theoretischen Auseinandersetzungen suchten die Wissenschafterinnen und Wissenschafter im Rahmen der Workshops auch die Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten aus der Praxis, etwa aus dem Bereich der ZweitsprachpĂ€dagogik, des Dolmetschens in Asylverfahren oder der Jugendarbeit. KĂŒnstlerisches Arbeiten, Film- und Musikprojekte von und mit Jugendlichen wurden dabei verwirklicht und der kreative Umgang mit Sprache in den Mittelpunkt gestellt. âWir haben hier AnsĂ€tze weiterentwickelt, die die Notwendigkeiten der Ăbersetzung nicht von einem Kommunikationsdefizit her begreifen, wie es gerade in Migrationsdebatten meist einseitig verortet wird, sondern Ăbersetzung als Chance sehen, den Transformationsprozessen gegenwĂ€rtiger Gesellschaften gerecht zu werdenâ, erlĂ€utert Stefan Nowotny. Denn das Projekt der europĂ€ischen Integration stehe an einem kritischen Punkt, sind die Forscherinnen und Forscher ĂŒberzeugt. Welche Sprache die europĂ€ische Ăffentlichkeit zukĂŒnftig sprechen soll? âDie Antwort kann weder eine einzelne Nationalsprache, noch deren rein mechanische Summe, sprich die MultilingualitĂ€t, seinâ, sagt Nowotny. FĂŒr das Funktionieren einer gemeinsamen Demokratie sei eine entsprechende Ăffentlichkeit erforderlich. âZur ErfĂŒllung ihrer demokratischen Funktionen muss diese auch ĂŒber eine gemeinsame Sprache verfĂŒgen. Doch diese gemeinsame Sprache kann heute nur die der Ăbersetzung sein.â
Zur Person Dr. Stefan Nowotny ist Philosoph. Er unterrichtet am Goldsmiths College der University of London und ist Mitglied des eipcp â EuropĂ€isches Institut fĂŒr progressive Kulturpolitik in Wien. Seine Forschungs- und LehrtĂ€tigkeit fokussiert auf politische Theorie, Institutionskritik, sprachliche und soziale Aspekte der Ăbersetzung sowie die Verflechtungen von historischen und zeitgenössischen Wissens- und Bildproduktionen. Er ist Autor und Mitherausgeber zahlreicher Publikationen.
Publikationen
"Die Sprachen der Banlieues": http://eipcp.net/transversal/0513
"Eine KommunalitĂ€t, die nicht sprechen kann: Europa in Ăbersetzung": http://eipcp.net/transversal/0613
Boris Buden, Birgit Mennel u. Stefan Nowotny (Hg.): Translating Beyond Europe. Zur politischen Aufgabe der Ăbersetzung, Wien/Berlin, Turia + Kant 2013