Hier schlĂ€ngelt sich die Donau durch die Wachau. Die Region diente im 20. Jahrhundert als Kulisse fĂŒr zahlreiche Mythen und wird bis heute als Sehnsuchtslandschaft vermarktet. © Joachim Pressl/unsplash

Ende September 2022 sprach der Wiener LandtagsprĂ€sident Ernst Woller (SPÖ) bei einem Treffen der EU-Strategie fĂŒr den Donauraum (EUSDR) in Wien der Ukraine seine SolidaritĂ€t aus und betonte in diesem Zusammenhang, wie wichtig grenzĂŒberschreitende Zusammenarbeit sei. Bei dem Treffen war auch der ukrainische stellvertretende Minister fĂŒr europĂ€ische Integration und Vorsitzende der EUSDR, Ihor Korkhovyi, anwesend. Er sagte, die Donau sei der Fluss des Lebens fĂŒr die Ukraine und eine wichtige Sicherheitsader. Die Donau als verbindendes Band zwischen Völkern und Nationen zu betrachten – eine beliebte Metapher aus dem 19. Jahrhundert – ist demnach bis heute gebrĂ€uchlich.

Doch hatte die Donau in ihren zehn Anrainerstaaten wirklich eine so große identitĂ€tsstiftende Bedeutung, wie ihr zugeschrieben wird? Wie haben die politischen UmbrĂŒche des 20. Jahrhunderts – der Zerfall der Monarchie, die beiden Weltkriege, der Eiserne Vorhang, das Ende des Ostblocks, der Jugoslawienkrieg und der Zerfall Jugoslawiens – das Bild dieses gemeinsamen Bandes verĂ€ndert? Ist die Donau der „große Integrator“, wie der ungarische Autor PĂ©ter EsterhĂĄzy in seinem Buch „Donau abwĂ€rts“ formulierte? Diese Fragen untersucht das ĂŒber drei Jahre laufende Forschungsprojekt „Die Donau lesen. (Trans-)Nationale Narrative im 20. und 21. Jahrhundert“ anhand von literarischen Texten, Filmen und Fotos aus allen DonaulĂ€ndern. Das Projekt ist in Wien und TĂŒbingen angesiedelt und wird vom Wissenschaftsfonds FWF und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

Inspirierende Zusammenarbeit

Schon die Entstehung des Forschungsvorhabens geht auf eine außergewöhnliche Verbindung zurĂŒck: Die Germanistinnen Edit KirĂĄly, die aus Budapest stammt, dort lehrt und in Wien lebt, und die aus Hermannstadt gebĂŒrtige und in TĂŒbingen lebende Olivia Spiridon haben ĂŒber mehrere Jahre gemeinsam auf einer Donauinsel bei Budapest ein Literaturseminar ĂŒber die Donau fĂŒr Teilnehmende aus allen DonaulĂ€ndern veranstaltet. Daraus entstand 2018 die rund 500 Seiten starke Donau-Anthologie „Der Fluss“.

Das Thema war damit aber noch lange nicht ausgeschöpft. FĂŒr ein Folgeprojekt, in dem auch andere Medien untersucht werden sollten, konnten die beiden Wissenschaftlerinnen den Fotohistoriker Anton Holzer und als Projektleiter Christoph Leitgeb gewinnen, der am Institut fĂŒr Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien forscht. Das Team wird durch den Doktoranden Branko Ranković aus Novi Sad ergĂ€nzt und kooperiert mit Forschungsstellen in anderen DonaustĂ€dten.

Die „schöne blaue Donau“ nach dem Walzer von Johann Strauß war und ist auf Postkarten ein beliebtes Motiv. Bratislava ZĂĄmok um 1910 © Anton Holzer

Donau-Narrative, so vielfÀltig wie der Fluss

Im Zentrum des Grundlagenprojekts steht die Vielfalt der Donau-Narrative. Das interdisziplinĂ€re Team will ihre Entstehung, VerĂ€nderung und Wandlung zeigen. Ein typisches Beispiel dafĂŒr sei das berĂŒhmte Gedicht „An der Donau“ des bedeutenden ungarischen Lyrikers Attila JĂłzsef, erzĂ€hlt Edit KirĂĄly: „Einzelne Elemente dieses Gedichts wurden in andere Gedichte eingebaut und brechen dabei die klassischen Topoi auf, die im Original vorkommen. Das ist ein großes Thema, weil in Ungarn alle dieses Gedicht mit der Donau verbinden.“ Ein anderes berĂŒhmtes Beispiel sei der Walzer „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss (Sohn), den er 1867 fĂŒr den Wiener MĂ€nnergesang-Verein als Chorwalzer komponiert hatte. Es gebe kaum ein Werk, das so viele inner- und transkulturelle Wandlungen erfahren habe, sagt KirĂĄly.

Der Walzer sollte eine Faschingsaufmunterung fĂŒr das darniederliegende Österreich nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen sein und wurde zum Ohrwurm. Als „blau“ war die Donau, die zumeist braun, grĂŒn oder lehmgelb erscheint, in zwei Gedichten des aus Ungarn stammenden Dichters Karl Isidor Beck bezeichnet worden. Die Farbe Blau steht außerdem fĂŒr Unschuld, Reinheit und Sehnsucht. In den farbigen Bildpostkarten, die ab 1900 in großen StĂŒckzahlen produziert wurden und leicht verfĂŒgbar waren, setzte sich die blaue Farbe schließlich fĂŒr das Wasser der Donau durch und ging um die Welt, wie Anton Holzer mit historischen Beispielen belegen kann. In der Literatur wurden die blaue Donau und der Donauwalzer gerne auch als Symbol fĂŒr Doppelbödigkeit oder LĂŒge eingesetzt, wie z. B. in Ödön von HorvĂĄths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, merkt Edit KirĂĄly an.

Lebensader, Grenze, Naturraum

Verbindendes und Trennendes, viele Bilder und Erlebnisse prĂ€gen die Landschaft und die Menschen entlang des Stromes. So wurde die Donau als Verbindung zwischen West und Ost gesehen oder als Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und dem Westen imaginiert. Oft sei die Donau auch als Metapher des Lebens oder des Geschichtsverlaufes genutzt worden, erklĂ€rt Christoph Leitgeb. Einzelne Erinnerungsorte wurden dabei ĂŒber ihre tatsĂ€chliche Bedeutung hinaus ĂŒberhöht, wie z. B. MohĂĄcs in Ungarn oder die zwischen RumĂ€nien und Serbien gelegene osmanisch geprĂ€gte Insel Ada Kaleh, die nach dem Bau des Kraftwerks am Eisernen Tor ĂŒberflutet wurde.

Die zwischen RumĂ€nien und Serbien gelegene Insel Ada Kaleh wurde nach dem Bau des Kraftwerks am Eisernen Tor ĂŒberflutet. © Anton Holzer

In der Zeit des Kalten Krieges war die Donau eine gefĂ€hrliche Grenze. Von RumĂ€nien versuchten Menschen durch den Fluss nach Jugoslawien zu gelangen, viele starben dabei. Der Blick ĂŒber den Fluss als Symbol fĂŒr Sehnsucht und Lebensgefahr wurde in Film und Literatur mehrfach thematisiert. Olivia Spiridon hat einige der Filme analysiert.

Die technische Beherrschung und wirtschaftliche Nutzung des Flusses sei in allen DonaulĂ€ndern lange Zeit positiv konnotiert gewesen, sagt Anton Holzer, bis Anfang der 1980er-Jahre die ökologische Bewegung gegen Kraftwerke und fĂŒr die Rettung der Auen entstand. Statt als Wasserstraße oder als Wasserkraft fĂŒr die Stromerzeugung wird die Donau nun auch als Naturraum betrachtet.

Das Forschungsprojekt „Die Donau lesen“ hat eine FĂŒlle an Material bearbeitet, aus dem bereits mehrere FachbeitrĂ€ge und BĂŒcher veröffentlicht wurden. Die Projektwebsite gibt mit Bildern und kurzen Texten einen Überblick ĂŒber die Arbeit des Teams. Tiefer gehende Einblicke wird das 2023 zum Abschluss des Projekts erscheinende englischsprachige Buch ermöglichen.


Zu den Personen

Anton Holzer ist in SĂŒdtirol aufgewachsen und hat Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Er lebt in Wien und arbeitet als Fotohistoriker, Autor und Ausstellungskurator.

Edit KirĂĄly, geboren in Budapest, Studium der Germanistik, Soziologie und Hungarologie an der UniversitĂ€t ELTE Budapest. Sie ist Dozentin an der ELTE und lebt in Wien als Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Mitarbeiterin kulturwissenschaftlicher Projekte.

Christoph Leitgeb, geboren in Innsbruck, studierte Geschichte, Anglistik/Amerikanistik und Germanistik und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fĂŒr Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.

Olivia Spiridon wurde in Hermannstadt in RumĂ€nien geboren und hat dort und in Passau Germanistik, RumĂ€nistik, Psychologie und Geschichte studiert. Sie leitet am Institut fĂŒr donauschwĂ€bische Geschichte und Landeskunde in TĂŒbingen den Forschungsbereich Literaturwissenschaft/Sprachwissenschaft.


Publikationen

Auf der Website https://www.diedonaulesen.com sind alle BĂŒcher und AufsĂ€tze zum Forschungsprojekt aufgelistet. Diese Liste wird laufend ergĂ€nzt.

DemnÀchst erscheint: Anton Holzer, Edit Kiråly, Christoph Leitgeb, Olivia Spiridon: Der montierte Fluss. Stuttgart, Steiner 2023 (in Druck)

Zuletzt veröffentlicht:

Holzer, Anton: Sommerfrische und Verbrechen. Mauthausen-Bilder auf Ansichtskarten, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 19, Heft 1, 2022

KirĂĄly, Edit: Österreichs Donau: So silbern, so blau, so schön, in: Hebenstreit D., Herberth A., Kaufmann K., Schönsee R., Tezarek L., Zolles Chr. (Hg.): Austrian Studies: Literaturen und Kulturen. Eine EinfĂŒhrung. Wien, Praesens, 113–122, 2020