Der junge Beethoven lernte als Hoforganist in Bonn ein vielfältiges musikalisches Repertoire kennen. © Wikimedia

Ernsthaft und düster sind treffende Beschreibungen für Ludwig van Beethovens Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II (1741-1790). Diesen wichtigen Auftrag erfüllte der damals 20-Jährige auf besondere Weise. „Deren außergewöhnliche Ausdruckskraft war für die Musik der Zeit unüblich. Beethoven war Originalität wichtig und er begnügte sich nicht damit, eine Kantate nach alten Vorbildern zu komponieren“, erklärt John David Wilson, Musikwissenschaftler an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 1790 war Beethoven bereits seit sechs Jahren in seiner Geburtsstadt Bonn als stellvertretender Organist der Hofmusikkapelle von Erzbischof und Kurfürst Maximilian Franz (1751-1804) von Österreich tätig. Nicht allein sein Streben nach Originalität, sondern auch Neugierde und der Mut, Neues auszuprobieren, zeigten sich früh: Seine ersten drei Klaviersonaten, die er mit 12 Jahren komponierte, sind „ganz wunderbare Werke und vor allem sehr originell“, ergänzt der Forscher. Dieses Frühwerk spielte zudem für seinen weiteren Lebensweg eine maßgebliche Rolle.

Bonner Musikaliensammlung – ein kleines Wunder

Denn Beethoven war mit Zwölf bereits als Stellvertreter des Hoforganisten Christian Gottlob Neefe tätig – allerdings unbezahlt. Neefe unterstützte ihn bei seinem Schaffen. Wie und wodurch genau lag bisher jedoch im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln: Erst die wissenschaftliche Aufarbeitung der mehr als 3.500 Bände umfassenden Musikaliensammlung von Maximilian Franz an der Biblioteca Estense Universitaria di Modena in Norditalien brachte wesentliche Details zu diesem und anderen Aspekten ans Licht. So hat sich Neefe zwischen 1782 und 1784 nachweislich um die Verbreitung der drei Klaviersonaten gekümmert. Seine Kontakte zu Verlegern und das gekonnte Werben um Gönner verhalfen Beethoven zu seiner ersten bezahlten Anstellung am Bonner Hof. Die Erforschung der Sammlung erfolgte dabei etappenweise, beginnend mit den Opern und gefolgt von der Kirchenmusik – im Rahmen von zwei bereits abgeschlossenen und einem laufenden Forschungsprojekt, die der Wissenschaftsfonds FWF fördert(e).

Nach dem Einmarsch der französischen Truppen, wird die Bibliothek von Maximilian Franz quer durch Europa transportiert. © John D. Wilson

Das dreiköpfige Forscherteam John David Wilson sowie Birgit Lodes und Elisabeth Reisinger von der Universität Wien hat die Bonner Sammlung systematisch und vollständig untersucht und zudem in mühsamer Kleinarbeit ausgehoben: Sie war nicht gesondert ausgewiesen, sondern im Bibliotheksbestand verteilt. Im einzigen Katalog dazu fehlten zudem Angaben zu Umfang und Größe der Quellen, was die Arbeit erschwerte. Dafür sind 85 Prozent der Kirchenmusik und ca. 50 Prozent der Opern erhalten. Ein kleines Wunder: Wurde die Bonner Sammlung doch 1794 vor den französischen Truppen über Umwege schließlich nach Modena in Sicherheit gebracht. Sie zählte zu den Größten der Zeit und war, anders als etwa die Herzogin-Anna-Amalie-Bibliothek in Weimar, als offene Gebrauchsbibliothek konzipiert, wofür das Forscherteam nun auch einen Beweis gefunden hat.

Kirchenmusik wichtiger Teil der Bildung

„Wir stießen auf einen erhalten gebliebenen Leihzettel – ausgestellt auf Ludwig van Beethoven“, erzählt Birgit Lodes, Musikwissenschaftlerin und Beethoven-Expertin. Wie die Forschungsergebnisse zeigen, zeichneten die Musikbibliothek nicht nur ihr Umfang, sondern auch eine große musikalische Bandbreite, ihre hohe Qualität und Internationalität aus. Erstaunlich ist, dass Beethoven der einzige Hofmusiker war, von dem Werke aufgenommen wurden. „Maximilian Franz hatte sehr hohe Qualitätsansprüche und seine Hofmusiker wohl eher unterbewertet. Umso mehr Beachtung erhielt Beethovens Schaffen“, berichtet Wilson. Darüber hinaus zog er von den bildungspolitischen Reformen des Kurfürsten seinen Nutzen: Denn Opernhaus, Theater und Kirche waren tragende Säulen des aufklärerischen Bildungsprogramms und Beethoven war zudem an der vom Kurfürsten gegründeten erster Bonner Universität eingeschrieben.

Der Eintrag von Beethovens Oboen-Konzert (heute verschollen) im Inventar des Kurfürsten. © John D. Wilson

Als Hoforganist, der seit seiner Kindheit stets mit hervorragenden Musikern verkehrte, lernte er bereits in Bonn sowohl aktiv als auch passiv ein sehr vielfältiges musikalisches Repertoire kennen. „Wie wir nun wissen, wurde am geistlichen Hof überaus hochstehende, internationale und aktuelle Musikpflege betrieben, was Beethoven stark prägte und nun nicht mehr ignoriert werden kann“, erläutert Lodes.

Bonner Vielfalt hinterlässt Spuren

Welche große Vielfalt sein Repertoire tatsächlich auszeichnete, konnten die Forschenden in Wien nun erstmals im Detail festmachen und zudem etliche seiner Frühwerke präzise datieren. Um herauszufinden, wann Beethoven welche Stücke als Hoforganist spielte, waren die jährlich erscheinenden Hofkalender zentral. Darin sind alle kirchlichen Festtage vermerkt, an denen große Kompositionen aufgeführt wurden. „Wir haben uns die einzelnen Musikalien akribisch angesehen. Wann wurden sie verwendet, wann ergänzt? Kamen bei einem Stück etwa Stimmen hinzu und fiel das in Beethovens Bonner Zeit? Dann können wir sicher sein, dass er es auf der Orgel spielte“, erklärt die Forscherin. Beispielsweise fand Wilson heraus, bei welchen Messen der junge Beethoven mitwirkte: Eine davon war mit Gewissheit die berühmte große Orgelsolomesse von Joseph Haydn. Aber auch böhmische Weihnachtsmusik zählte dazu, deren pastoraler Charakter noch in Beethovens 6. Sinfonie, der „Pastorale“ nachklingt. Der Schlüssel, um den Entstehungszeitpunkt von Beethovens frühen Kompositionen zu bestimmen, steckt übrigens ganz unscheinbar im verwendeten Papier. Die Forschenden lernten, die Bonner Schreiber zu erkennen und wann welches Papier am Hof verwendet wurde. Anhand des Papiers, auf dem Beethoven seine Kompositionen verfasste, konnte sie John Wilson schließlich zum Teil sogar umdatieren.

Ein kommunikatives Improvisationstalent

Rund ein Drittel seiner musikalischen Praxis erlebte Beethoven in Bonn somit vorrangig als Kirchenmusiker. Obwohl Beethoven in seinem Leben letztlich nur zwei Messen komponierte, existieren aus seiner Bonner und Wiener Zeit zahlreiche Skizzen und Pläne für Kirchenmusikwerke. Fertiggestellt hat er sie nicht, da zur damaligen Zeit andere Gattungen stärker nachgefragt waren. Dennoch prägte ihn die Kirchenmusik sein ganzes Leben. Zudem hat ihn die Idee nie losgelassen, so wie sein Großvater ebenfalls Hofkapellmeister zu werden: Wie förderlich ein geregelter Orchesterbetrieb sein kann, hat Beethoven jahrelang in Bonn als stimmiges Modell erlebt und geschätzt. Betrachtet man zudem sein direktes Umfeld, das stark von Diskurs, künstlerischen Einflüssen aus ganz Europa bis hin zu sozialkritischen Prägungen gekennzeichnet war, kommt die neuere Einschätzung, dass der junge Beethoven sehr gesellig und kommunikativ war und laufend Neues ausprobierte, der Realität wohl sehr nahe. „Für seine Kreativität war spannenderweise der verpflichtende Dienst an der Orgel besonders vorteilhaft“, so Lodes, „weil er lernte, zu improvisieren. Diese improvisierende Haltung sowie das Überraschende sind bis heute substanzielle Qualitäten seiner Musik.“ – Egal, ob es sich um eine Klaviersonate, eine Sinfonie oder eben eine Kantate handelt.


Zu den Personen Birgit Lodes ist international anerkannte Musikhistorikerin und befasst sich seit Mitte der 1990er mit Ludwig van Beethovens Schaffen. Aufgewachsen in Bayreuth, kam sie über mehrere Stationen an das Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien, dem sie auch vorstand. Zudem übt sie verschiedene professionelle Funktionen aus und wurde mehrfach ausgezeichnet. John David Wilson ist Musikwissenschaftler mit Forschungsschwerpunkt auf Topos und Tonart zur Zeit Beethovens. Der gebürtige Texaner ist zudem Pianist, und seine Promotion legte den Grundstein für FWF-geförderte Projekte zur Opern- und Kirchenmusikbibliothek. Aktuell arbeitet er an einer Biografie über den jungen Beethoven, die ebenfalls vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird.


Publikationen

Elisabeth Reisinger, John D. Wilson, in Zus. mit Birgit Lodes und Anna Sanda: The Sacred Music Collection of the Bonn Electoral Court, Schriften zur Beethoven-Forschung; Musik am Bonner kurfürstlichen Hof, 4, Bonn: Beethoven-Haus, in Druck. Die Buchreihe wurde eigens für die Forschungsarbeiten zur Musikbibliothek von Max Franz gegründet; siehe auch https://musikwissenschaft.univie.ac.at/projekte/aktuelle-projekte/the-music-library-of-elector-maximilian-franz/
Elisabeth Reisinger: The Prince and the Prodigies. On the Relations of Archduke Maximilian Franz with Mozart, Beethoven, and Haydn, in: Acta musicologica 91/1, S. 48-70, 2019
John Wilson: From the Chapel to the Theater to the Akademiensaal: Beethoven's Musical Apprenticeship at the Bonn Electoral Court, 1784–1792, in: David Wyn Jones und Keith Chapin (Hg.), Beethoven Studies 4, Cambridge: Cambridge University Press, erscheint im Frühjahr 2020
Elisabeth Reisinger, Birgit Lodes, John D. Wilson: Zwischen Wien, Bonn und Modena: Erzherzog Maximilian Franz und die kurkölnischen Musiksammlungen, in: Studien zur Musikwissenschaft 61, erscheint im Herbst 2020