Die Philosophin Katalin Farkas beschäftigt sich mit zentralen Fragen rund um Wissen und Wahrheit und deren gesellschaftlichen Funktionen. © privat

Das Wesen des Wissens ist eine zentrale Frage, die die Philosophie bis heute beschäftigt. Wie lautet Ihre Definition?

Katalin Farkas: Wissen ist eine Beziehung zu einer wahren Tatsache, die nicht akzidentiell, nicht zufällig ist. Im Kern geht es darum, in den Besitz der Wahrheit zu gelangen. Es gibt Wahrheit und es gibt Unwahrheit – die beiden Konzeptionen unterscheiden sich voneinander. Mit anderen Worten: Wissen zielt darauf ab, Wahrheit auf nicht zufällige Weise zu erfassen. Eine Vermutung, die sich zufällig als richtig herausstellt, ist nicht Wissen. Ob man im Besitz der Wahrheit ist oder nicht, hängt also davon ab, wie man sich seine Meinung bildet.

Wie findet man diesen nicht akzidentiellen Weg zum Wissen?

Farkas: Die Philosophie kennt verschiedene Wege: den Gebrauch der Vernunft, die empirische Beobachtung oder Aussagen anderer Menschen. Letztere sind ein sehr wichtiger und wachsender Forschungsbereich, der sich mit dem Erwerb von Wissen als soziales Unterfangen beschäftigt. Vieles von dem, was wir wissen, haben wir von anderen gelernt.

Wir müssen uns folglich auf andere Menschen verlassen, wenn wir Informationen erhalten?

Farkas: Um Wissen zu verstehen, müssen wir uns die Funktion des Wissensbegriffes ansehen. Jede menschliche Sprache hat ein Wort für „wissen“, sprich der Begriff des Wissens wird in allen menschlichen Kulturen verwendet. Schon sehr früh haben die Menschen in ihrem Zusammenleben erkannt, dass nicht jede:r Einzelne alles wissen kann, sondern sich auf andere verlassen muss. Wenn man anderen Wissen zuschreibt, kennzeichnet man so zuverlässige Informationsquellen. Heutzutage ist kein:e Einzelne:r in der Lage, sich das gesamte vorhandene Wissen anzueignen. Wir verlassen uns bei fast allen Dingen, die wir tun oder nutzen, auf andere.

Sie arbeiten derzeit an einem Buch mit dem Titel „The Unity of Knowledge“. Worum geht es in dem Buch?

Farkas: Es gibt verschiedene Wege, wie Menschen sich geistig mit der Welt auseinandersetzen, einer davon ist der Erwerb von Wissen. Das ist eine der großen kognitiven Leistungen der Menschen. Die Kernaussage in meinem Buch ist, dass alles, was den Begriff Wissen verdient, in einer nicht zufälligen Beziehung zur Wahrheit steht. Man weiß etwas, wenn man viel Wahres (Fakten) darüber weiß.

Zur Person

Die Philosophin Katalin Farkas lehrt und forscht seit 2000 an der Central European University (CEU), wo sie die Fakultät für Philosophie leitet. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie des Geistes und die Erkenntnistheorie.

In den vergangenen Jahren hat sie eine Reihe von Arbeiten über die Natur des Wissens verfasst. Derzeit arbeitet Farkas an dem Buch „The Unity of Knowledge“. Zwischen 2020 und 2023 war sie die erste Präsidentin der Europäischen Gesellschaft für Analytische Philosophie.

„Die Menschen glauben das, was für sie bequem ist. “ Katalin Farkas

Der griechische Philosoph Aristoteles sagte: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ Stimmen Sie dem zu?

Farkas: Ich bin mir nicht sicher, ob Menschen wirklich dermaßen an der Wahrheit interessiert sind. Es scheint viel bequemer zu sein, Unwahrheiten zu glauben, die dem Selbstbild und gängigen Meinungen entsprechen. Meiner Meinung nach war das in der Geschichte der Menschheit schon immer so: Die Menschen glauben das, was für sie bequem ist. Diese Fragen in Bezug auf Wissen haben sich seit Aristoteles nicht wesentlich geändert. Aber es gibt andere Fragen, die speziell durch die Technologie aufgeworfen werden.

Welche wären das?

Farkas: Ein Aspekt meiner Forschung beschäftigt sich mit der Frage, ob man einen Teil seines Wissens in einem Informationsspeicher ablegen kann. Wenn mich jemand fragt, ob ich die Telefonnummer meines Bruders kenne, bejahe ich selbstverständlich. Seine Nummer ist ja in meinem Handy gespeichert. Das heißt, wir wissen Dinge, auch wenn wir sie nicht auswendig wissen, da wir einen zuverlässigen und vertrauenswürdigen Zugang zu den Informationen haben. Ich unterrichte an einer Universität, wo Wissensvermittlung ein wesentlicher Teil unserer Arbeit ist, und deswegen interessiere ich mich sehr für diese Frage. Wenn man Studierende nicht nur auswendig lernen lässt, sondern echtes Wissen vermittelt, das teilweise in einem Informationsspeicher abgelegt wird, dann muss sich die Art der Lehre zu einem gewissen Grad ändern.

An unserer Universität beschäftigen sich Jusstudent:innen zum Beispiel mit dem Fallrecht, d. h. sie müssen sich Rechtsfälle merken, die Präzedenzfälle in einem aktuellen Gerichtsverfahren sind. Früher mussten sie das alles auswendig lernen. Heutzutage hat das seine Relevanz verloren. Die Studierenden müssen wissen, wie man sucht, wo man sucht und wonach man sucht. Sie müssen die Zusammenhänge und den Inhalt verstehen. Das bedeutet, dass wir die Ideen und Vorstellungen lehren müssen, und das ist immer noch Wissen.

Wie sieht es mit der künstlichen Intelligenz und der Veröffentlichung von ChatGPT aus, die für viel Diskussionsstoff gesorgt hat? Es scheint immer schwieriger zu werden zurückzuverfolgen, woher die Technologie ihr „Wissen“ bezieht.

Farkas: ChatGPT unterscheidet sich stark von anderen KI-Programmen, die Informationen aus einer Datenbank auslesen. KI wird zum Beispiel im amerikanischen Rechtssystem eingesetzt, um zu prüfen, ob Personen bei Gericht auf Kaution freigelassen werden oder nicht. Wenn man die Vorgeschichte und Vorstrafen einer Person eingibt, errechnet das Programm das Fluchtrisiko vor Beginn der Verhandlung. Des Weiteren sind diagnostische KI-Tools in der Medizin für das Gesundheitswesen sehr hilfreich.

Was jedoch bisher kein künstliches Gegenstück zu haben scheint, ist die sogenannte allgemeine Intelligenz des Menschen, die kein bestimmtes Ziel verfolgt. Die Fähigkeit des Menschen, sein Denken und seinen Verstand für jeden beliebigen Zweck zu nutzen, zeichnet menschliches Denken aus und konnte bislang noch nicht künstlich nachgeahmt werden. Soweit ich weiß, ist man von diesem Ziel noch weit entfernt.

„ChatGPT vermittelt kein Wissen, weil es dafür nicht ausgelegt ist.“ Katalin Farkas

Wie kann uns ChatGPT auf sinnvolle Weise unterstützen?

Farkas: Dieses Sprachmodell ist ein interessantes Experiment, mit dem die Frage untersucht wird, ob eine künstliche Intelligenz ein menschliches Gespräch oder die menschliche Sprechweise nachahmen kann, was ihr fantastisch gelingt. Aber die Konversation, die entsteht, ist völlig zufällig. ChatGPT vermittelt kein Wissen, weil es dafür nicht ausgelegt ist. Es hat überhaupt keinen Respekt vor den Fakten! Wenn Sie ChatGPT bitten, eine philosophische Abhandlung über ein bestimmtes Thema unter Angabe von Referenzen zu schreiben, so wird es gefälschte Referenzen produzieren: Namen von Autor:innen, einen plausiblen Titel und dem Namen einer Fachzeitschrift. Das alles gibt es in der Form überhaupt nicht.

Digitale Technologien und virtuelle Realitäten durchdringen unser tägliches Leben. Was bedeutet das für unsere Wahrnehmung des Selbst, des Subjekts oder des Ichs, wenn sich die Grenzen zwischen der realen und der künstlichen Welt auflösen?

Farkas: Das ist eine sehr wichtige Frage. Sie wird zu einem großen Teil durch empirische Forschung beantwortet werden müssen, um festzustellen, wie die Menschen von diesen Veränderungen betroffen sind. Ich bin jedoch der Meinung, dass auch die Philosophie diesbezüglich etwas zu sagen hat. Es gibt ein philosophisches Prinzip, demzufolge es einen sehr großen Unterschied macht, ob wir einander im wirklichen Leben oder virtuell treffen. Dies wurde in der gesamten Frühzeit der westlichen Philosophie wegen des Einflusses von Descartes unterbewertet. Das Korrektiv dazu heißt „verkörperte Interaktion“, d. h. der Geist ist nicht nur im Kopf, sondern in der realen materiellen Welt, weshalb die Interaktion zwischen Menschen im wirklichen Leben wichtig ist. Dies ist ein grundlegender Aspekt des Menschseins.

„Die Interaktion zwischen Menschen ist wichtig.“ Katalin Farkas

In Zusammenarbeit mit mehreren Universitäten werden Sie in den kommenden Jahren zum Thema „Wissen in der Krise“ forschen. Welche These liegt diesem Projekt zugrunde?

Farkas: Der Titel hat eine doppelte Bedeutung. Das Wissen selbst befindet sich in einer Krise, weil das Vertrauen in bestimmte Informationsquellen enorm gesunken ist. Das Vertrauen in die Wissenschaft, in Politik und in Nachrichten ist zurückgegangen – aber gleichzeitig sehen wir ein unbegrenztes Vertrauen in Meinungen, die in sozialen Medien geteilt werden. Das Wissen selbst befindet sich daher in einer Krise. Gleichzeitig befinden wir uns aufgrund von Klimawandel, Pandemien, Kriegen usw. in einer Krise. Das heißt, wir brauchen Wissen mehr denn je. Das ist der Ausgangspunkt für das Projekt.

Was ist das Ziel dieses groß angelegten Projekts?

Farkas: Wir werden die philosophischen konzeptionellen Fragen untersuchen, die sich hinter verschiedenen Aspekten dieser Krise verbergen. Das Projekt versucht, verschiedene Bereiche der Philosophie auf gänzlich neue Weise zusammenzubringen. Es ist nicht nur die Erkenntnistheorie, also jener Teil der Philosophie, der sich traditionellerweise mit Wissen beschäftigt, vertreten, sondern auch die politische Philosophie, die Moralphilosophie, die Technikphilosophie und Metaphysik, die Sprach- und die Bildungsphilosophie. Alle Bereiche der Philosophie wollen hier zu einem besseren Verständnis der Geschehnisse beitragen.

„Wir wollen herausfinden, was genau geschieht, wenn Menschen den Glauben an Fakten verlieren.“ Katalin Farkas

Das heißt, das Projekt will auch eine Antwort auf die Frage finden, warum wir eine höhere Skepsis und einen Vertrauensverlust gegenüber Fakten sehen?

Farkas: Die Antwort auf diese Frage wird komplex ausfallen und muss zu einem großen Teil von der Sozialwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und anderen Disziplinen untersucht werden. Wir wollen analysieren, was genau geschieht, wenn Menschen den Glauben an Fakten verlieren. Ein Teil des Projekts befasst sich zum Beispiel mit der Frage, was passiert, wenn Menschen dem Begriff der Wahrheit mit Skepsis begegnen. Wenn ich zu Menschen, die sich nicht mit Philosophie beschäftigen, sage, dass Wissen das Erfassen der Wahrheit ist, werde ich oft gefragt: Woher wissen Sie, was Wahrheit ist? Die Leute sagen, Wahrheit ist relativ. Wenn man sagt, es gibt nur eine Wahrheit, empfinden sie das als imperialistisch und repressiv. Gleichzeitig stellen sie die Wahrheit aber nicht infrage, wenn sie ihre individuellen Überzeugungen vorbringen. Ein Teil des Projekts besteht darin zu verstehen, wie dies möglich ist.

Und wie wir dieser Vorstellung entgegenwirken können?

Farkas: Das ist ein sehr wichtiges Element, das wir im Bildungskontext berücksichtigen müssen: Wie vermitteln wir Wissen angesichts der Tatsache, dass sich das Wissen selbst verändert hat. Ein Teil unseres Projekts konzentriert sich daher auf konkrete Aktivitäten wie Mitarbeit an den Lehrplänen der Gymnasien und Förderung des kritischen Denkens in der frühen Schulbildung. Wir planen auch die Entwicklung von Volkshochschulkursen. Ein mögliches interessantes Thema sind die Vorteile und Herausforderungen der KI. Bildungsinitiativen sind daher ein sehr wichtiger Teil unserer Arbeit.

Wir werden auch öffentliche Veranstaltungen in allen vier Städten, in denen das Projekt angesiedelt ist, organisieren. Unserer Erfahrung nach sind Menschen der Philosophie gegenüber sehr aufgeschlossen, wenn die Fragestellungen richtig formuliert sind. Wir glauben im Geiste des Wiener Kreises, dass Forschung der beste Weg ist, um die aktuelle Krise zu bewältigen. Deswegen forschen wir zu der Frage, wie die Wissenschaft die Öffentlichkeit, Politik und Entscheidungsträger:innen besser erreichen und etwas bewirken kann.

Katalin Farkas ist Mitglied des Vorstands des Exzellenzclusters „Wissen in der Krise“ im Rahmen der neuen Exzellenzinitiative für Österreich. In diesem Forschungsnetzwerk arbeiten seit 2023 die CEU und die Universitäten Wien, Graz und Salzburg zusammen. Das Großprojekt ist vom Wissenschaftsfonds FWF und von den beteiligten Institutionen mit 14,9 Millionen Euro für fünf Jahre dotiert.

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