Gerhard Botz ist emeritierter Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Von 1982 bis 2017 war er Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Historische Sozialwissenschaft (Salzburg/Wien) und von 2001 bis 2004 Präsident des wissenschaftlichen Beirats für die Reform der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.
„Das waren vielschichtige und komplexe soziale Situationen“
Von seiner Errichtung im Jahr 1938 bis zu seinem Ende 1945 steht das Konzentrationslager Mauthausen sinnbildlich für die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in der „Ostmark“, wie Österreich damals genannt wurde. Etwa 190.000 Menschen wurden hierher deportiert. Rund 90.000 wurden im Hauptlager und in seinen Außenlagern ermordet oder starben nach ihrer Befreiung an den Folgen der Haft.
Lange Zeit galten Konzentrationslager als Orte absoluter Macht und Brutalität der SS. Die neuere Forschung thematisiert natürlich ebenso die Brutalität und die Schrecken, arbeitet aber auch heraus, dass es die eine KZ-Erfahrung nicht gibt.
Der Historiker Gerhard Botz, der bis 2017 das von ihm gegründete Ludwig Boltzmann Institut für Historische Sozialwissenschaft leitete, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Mauthausen. Jetzt ist der dritte Band eines Mauthausen-Projekts in Fertigstellung, zu dessen Kernteam Alexander Prenninger und Regina Fritz gehören. Ihre wichtigste Message: Mauthausen erzählt nicht eine, sondern viele Geschichten. Denn im KZ gab es verschiedene Phasen, eine große Zahl an Häftlingsgruppen und viele Unterschiede bei den Inhaftierten.
Die Buchreihe, in der das von Ihnen geleitete Forschungsprojekt rund um das Konzentrationslager Mauthausen dokumentiert wird, erscheint unter dem Titel „Europa in Mauthausen“. Warum haben Sie diesen Titel gewählt?
Gerhard Botz: Man hat Mauthausen lange so behandelt, als sei es ein von den Nazis errichtetes Konzentrationslager gewesen, in dem nur Österreicher interniert gewesen seien. Das war ursprünglich der Plan der SS. Im Krieg wurde das Lager aber total international. Schließlich gab es in Mauthausen überhaupt nur etwas mehr als zehn Prozent deutschsprachige Inhaftierte, von denen wiederum nur elf Prozent Österreicher waren. Das wollten wir mit dem Titel „Europa in Mauthausen“ betonen.
Das Projekt startete schon vor längerer Zeit. Können Sie die Geschichte noch einmal im Schnelldurchlauf erzählen?
Botz: Schon in den 1990ern gab es Pläne, Interviews mit Überlebenden von Mauthausen zu führen und diese der Gedenkstätte zur Verfügung zu stellen. In Fahrt gekommen ist das Projekt dann unter der ÖVP-FPÖ-Regierung mit Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler. Die Regierung hat es als Möglichkeit gesehen, die internationale Kritik vieler KZ-Überlebender an der blauen Regierungsbeteiligung zu entkräften. 2001 wurde das Projekt ausgeschrieben: Die letzten noch lebenden Mauthausen-Häftlinge sollten angeschrieben und über 800 von ihnen in Oral-History-Interviews befragt werden.
Die Ausschreibung hat dann ein Projektteam unter meiner Leitung gewonnen, das im Kern aus Mitarbeiter:innen des Instituts für Konfliktforschung, des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands und des Boltzmann Instituts für Historische Sozialwissenschaft bestand. Auch Mitglieder der International Oral History Association konnten dafür gewonnen werden. Die Finanzierung kam zu 80 Prozent vom Innenministerium, doch lange Zeit gab es keine Mittel für eine systematische Erforschung dieses Datenschatzes. Erst mit der Gründung des Zukunftsfonds der Republik Österreich 2006 konnte die Finanzierung sichergestellt werden. Die ersten Ergebnisse wurden in zwei Bänden publiziert: In Band 1, „Nationalsozialistische Expansions- und Verfolgungspolitik“, geht es um Grundlagen, Quellenbasis und Fragestellungen des Projekts. Der Band 2, „Deportiert nach Mauthausen“, beschreibt, auf welchen Wegen und warum Häftlinge nach Mauthausen gekommen sind.
Sie haben gesagt, dass Mauthausen international ausgerichtet war. Woher kamen die Häftlinge? Und hat sich das im Verlauf der Existenz des Lagers gewandelt?
Botz: Zunächst kamen sie aus dem deutschsprachigen Raum. Mit jeder Expansionswelle des Dritten Reichs sind dann neue und ganz andere Personengruppen in die Fänge der Nationalsozialisten geraten. Zunächst wurden Tschechen nach Mauthausen deportiert, ab Kriegsbeginn viele Menschen aus Polen. Dann folgte die Expansion nach West- und Nordeuropa. Die nächste Ausdehnungswelle brachte Slowenen, Serben und Griechen nach Mauthausen. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion kamen durch Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit besonders viele Russen, Ukrainer und andere „Unionsvölker“ nach Mauthausen. Dann kamen noch Häftlinge aus ehemals verbündeten Ländern wie Italien und Ungarn dazu.
„Ab 1944 wurden auch Frauen nach Mauthausen, bis dahin ein Männerlager, gebracht.“
Ab 1944 wurden auch Frauen nach Mauthausen, bis dahin ein Männerlager, gebracht. Nun begannen auch die Massentransporte aus Auschwitz und anderen Lagern. Die Expansion des KZs im Dritten Reich folgte nicht einem vorgegebenem festen Plan, brachte immer wieder andere soziale und nationale Gruppierungen nach Mauthausen. Juden und Roma und Sinti waren dabei immer einer nationsübergreifenden Verfolgung unterworfen.
Hat sich neben den Nationen, aus denen die Häftlinge kamen, auch die Funktion des Lagers mit der Zeit verändert?
Botz: Ein weit verbreitetes Geschichtsbild besagt, die Häftlinge seien überwiegend politische Gegner gewesen: Das ist falsch, denn der NS-Verfolgungspolitik ging es nicht primär darum, zurückliegende Taten zu bestrafen, sondern ganze Menschengruppen vorausschauend auszuschalten, solche, die man in der Vorstellung der Nazis aufgrund ihres „Wesens“ nicht in die „deutsche Volksgemeinschaft“ hineinsozialisieren konnte bzw. wollte. Diese Menschen wurden in Deutschland ab 1936/37 als sogenannte „Gemeinschaftsfremde“ verfolgt und als „asozial“ oder „kriminell“ stigmatisiert. Als billige Arbeitskräfte in den Steinbrüchen von Mauthausen und Gusen dienten sie nicht nur dem Profit der SS, sondern sie wurden schon dabei oft zu Tode gearbeitet.
„Mit der Ausdehnung des NS-Imperiums verschärften sich auch dessen Verfolgungspolitiken. “
Mit der Ausdehnung des NS-Imperiums verschärften sich auch dessen Verfolgungspolitiken. Ab 1939/40 kamen dann immer mehr Menschen aus den eroberten Ländern wegen ihrer nicht deutschen Herkunft in Haft; besonders Angehörige der „Ostvölker“ und die sogenannten „Rotspanier“ – sie alle galten als gefährlich, ohne ein Delikt begangen zu haben. Diese Begründung der Verfolgung, die Menschen nicht nur nach rassistischen, sondern auch sozialen Kriterien aussondert, wird in der neueren KZ-Forschung stark betont.
Diese zweite Phase dauert also die ersten Kriegsjahre an. Gab es danach noch weitere Phasen in der Geschichte des KZ Mauthausen?
Botz: In der dritten Phase, die 1943 begann, standen kriegswirtschaftliche Interessen im Mittelpunkt. Angesichts des „totalen Kriegs“ und der hohen Verluste stellte sich im Dritten Reich vermehrt die Frage, wo die Arbeitskraft herkommen soll. Ab 1943 band man also die Konzentrationslager verstärkt in die Rüstungsproduktion ein. Der Arbeitskräftemangel wurde durch Zwangsarbeit ausgeglichen. Das veränderte den Zugang zu den Häftlingen. Vorher hatten sie für die SS kaum einen Wert gehabt: Noch 1941/42 wurden niederländische Juden oder „Rotspanier“ in großer Zahl ermordet. Das passierte ab 1943 hier nicht mehr in diesem Ausmaß, weil die Menschen gebraucht wurden. In Mauthausen verbesserte sich die relative Situation für Häftlinge etwas – ganz einfach, weil nur lebende Menschen als Arbeitskraft einsetzbar sind.
Hielt dieser Zustand bis Kriegsende an?
Botz: Es gab noch eine vierte Phase. Das ist die Endphase, in der das Regime zusammenbrach. Mit dem Ende des Krieges stiegen die Gefangenenzahlen noch einmal durch Evakuierungstransporte aus anderen KZs und vom „Südostwall“ stark an. In dieser Phase kam auch eine große Anzahl jüdischer Häftlinge nach Mauthausen. Es wurde auch die massenhafte Ermordung der Häftlinge wieder aufgenommen, während ihre Versorgung mit dem Notwendigsten vollständig zusammenbrach. Aber die Gaskammer funktionierte noch fast bis ans Ende. Das letzte Jahr war die chaotischste und schlimmste Zeit. Diese furchtbare Endphase hat lange das Bild von Mauthausen geprägt und beeinflusst auch die Art und Weise, wie wir uns heute daran erinnern.
Inwiefern?
Botz: In dieser Phase überlebten vor allem junge, körperlich starke, noch besser genährte Häftlinge, die in der Lage waren, sich selbst mehr Essen zu „organisieren“. Diese Menschen haben nach dem Krieg von den Lagern erzählt. Die Alten, Kranken und Schwachen, die sogenannten Muselmänner, waren in vielen Fällen spätestens in der vierten Phase gestorben und konnten nicht mehr erzählen. Vieles, was in dieser Zeit geschah, der Hunger-„Kannibalismus“, die Gewalt unter den Häftlingen im Lager und bei der Befreiung, die Lynchjustiz an Kapos, die als bösartig bekannt geworden waren, wurde nach 1945 (auch in unserer Gesellschaft, selbst beim Großteil der Forschung) mehr oder weniger tabuisiert. Über all das wird in unseren Interviews wenigstens andeutungsweise gesprochen. Das muss man als Oral Historian berücksichtigen.
Das heißt, man muss bei Oral History auch bedenken, wen und was man nicht mehr hören kann?
Botz: Oral History berichtet oft von schrecklichen Einzelfällen. Aber es besteht die Gefahr, dass die Erfahrungen, wenn sie nur von Einzelpersonen kommen, verabsolutiert werden. Die Konzentrationslager im Allgemeinen und Mauthausen im Speziellen sind nicht einheitlich. Die Erfahrungen der serbischen oder sowjetischen Gefangenen sind andere als die der Franzosen, der katholischen Österreicher oder von jüdischen Frauen. Man sieht immer, dass die Erfahrungen der Inhaftierten in KZ sich je nach Gruppe unterscheiden.
„Die oft behauptete Homogenität gibt es nicht.“
Die oft behauptete Homogenität gibt es nicht. Teilweise sind auch die Erfahrungen innerhalb nationaler und spezifischer Gruppen sehr verschieden. Die in der NS-Terminologie „Berufsverbrecher“ Genannten wurden zum Großteil ermordet, in vielen Lagern aber auch gern als Kapos installiert. Zwischen dem Kapo-Netzwerk der sogenannten „Kriminellen“ und dem der „politischen“ Gefangenen herrschte oft ein permanenter Überlebenskampf, in dem in Mauthausen Letztere 1944 die Oberhand gewannen.
Wie wichtig waren die Kapos für das Funktionieren eines Lagers?
Botz: In den Konzentrationslagern gab es von Anfang an eine zweigeteilte Struktur: Die SS übte die Macht über die Gefangenen aus, sie übertrug aber einen Teil der Aufgaben an ausgewählte Häftlinge, die Kapos. Sie gaben die Anweisungen und Wünsche der SS nach unten weiter, konnten sich selbst und andere aber auch bis zu einem gewissen Maß schützen. Sie waren weder weiß noch schwarz, sondern bildeten eine „Grauzone“, wie der bekannte italienische Auschwitz-Überlebende Primo Levi schrieb. Dieses System, ohne das kein Konzentrationslager hätte funktionieren können, wird erst seit den letzten Jahren systematisch untersucht, vieles wird erst jetzt bekannt.
In Band 3 der Reihe, der gerade in Fertigstellung ist, geht es viel um den Begriff der „Häftlingsgesellschaft“. Was ist das?
Botz: „Häftlingsgesellschaft“ ist ein gängiger Begriff für das Häftlingskollektiv in einem Lager, der heute aber wissenschaftlich umstritten ist. Denn er zieht Parallelen zwischen der „KZ-Gesellschaft“ und der modernen Gesellschaft: In beiden gibt es Regeln, Gruppierungen, Zusammenhalt, Lernprozesse etc., ein ganzheitliches Funktionssystem, wie es von Soziolog:innen verstanden wird. Die Existenz eines solchen Systems wird jedoch heute vielfach angezweifelt. Insgesamt geht es in der Debatte darum, wie ich die Geschichte nicht nur anhand von wenigen Einzelschicksalen, sondern mit kultur- und sozialhistorischen Kriterien erfassen kann. In der Forschung gibt es die oft nützliche Vorstellung eines KZs als Abbild einer Gesellschaft: Die „hohen“ Kapos (Lagerälteste, Lagerschreiber, Blockälteste etc.) sind die 1-Prozent-Oberschicht, ihre vielen Helfer:innen und Abhängigen als Schreiber, Stubendienste, Schuster etc., aber auch die Arbeitskapos, die die Arbeit an die einfachen Häftlinge austeilten, bilden eine „Mittelschicht“, die normalen Häftlinge sind so etwas wie das Proletariat.
Auch der einflussreiche deutsche Soziologe Wolfgang Sofsky interpretiert ein KZ etwa als ein solches Modell, überspitzt es aber als absolutes, alles kontrollierendes Herrschaftssystem der SS. Dagegen haben sich besonders KZ-Überlebende ausgesprochen: Die SS sei brutal und schrecklich gewesen, es habe aber immer auch einen gewissen lautlosen Widerstand gegeben. Ehemalige Häftlinge betonen, dass man – im Kleinen und Verborgenen – versucht habe, zu agieren, zu helfen, aber auch in eine bessere eigene Situation zu gelangen als die anderen Häftlinge. Das waren vielschichtige, komplexe soziale Situationen. Und gerade darin liegt die besondere Perfidität des KZ- und gesamten NS-Herrschaftssystems, die auch von uns eine mehrschichtige Methodik und das Bekenntnis zur Unfertigkeit erfordert hat.
Haben Sie dafür Beispiele?
Botz: Es gab Fälle, wo ein SS-Mann Geburtstag hatte und wollte, dass die Häftlinge ihm eine Feier organisierten. Das übernahm dann ein Kapo, der sich aber wiederum die Unterstützung von anderen Häftlingen sichern musste, die Dekoration nähten, Glückwunschkarten zeichneten und den „Block“ schmückten, und dafür etwas mehr Essen als Belohnung bekamen. Oder ein Häftling arbeitete für den Lagerkommandanten und konnte mit dessen Unterstützung eine Musikkapelle gründen.
Sie haben es eben schon angedeutet, aber ich frage noch einmal explizit: Ist die Mauthausen-Forschung mit Ihrem Projekt mehr oder weniger abgeschlossen?
Botz: Nein. Geschichtsforschung kommt nie ein und für alle Mal zu fixen Ergebnissen. Es ergeben sich immer neue Fragestellungen, neue Quellen, neue Methoden, neue kontrollierbare Antworten. Wir hoffen, mit unserem Projekt das Verständnis von einem KZ in Österreich und international verbessern zu können.
Editionswerk „Europa in Mauthausen“
Unter der Leitung von Gerhard Botz entstand das Mauthausen Survivors Research Project (MSRP), das auf mehr als 850 Interviews mit Überlebenden basiert und aus dem die Buchreihe „Europa in Mauthausen“ hervorging. Bisher sind die Bände „Mauthausen und die nationalsozialistische Expansions- und Verfolgungspolitik“ und „Deportiert nach Mauthausen“ im Verlag Böhlau und Open Access in der FWF-E-Book-Library erschienen. In Kürze wird unter dem Titel „Gefangen in Mauthausen“ Teil 3 publiziert. Die Mitherausgeber:innen der Reihe sind Regina Fritz und Alexander Prenninger. Fritz forscht als Postdoc-Assistentin an der Abteilung für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Bern. Prenninger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institute for Digital History in Wien.