KZ Mauthausen, Austria
Am 5. Mai, dem Tag der Befreiung des KZ Mauthausen, gedenkt Österreich alljĂ€hrlich der Opfer des Nationalsozialismus. © Mauthausen Memorial/Stephan Matyus

Von seiner Errichtung im Jahr 1938 bis zu seinem Ende 1945 steht das Konzentrationslager Mauthausen sinnbildlich fĂŒr die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in der „Ostmark“, wie Österreich damals genannt wurde. Etwa 190.000 Menschen wurden hierher deportiert. Rund 90.000 wurden im Hauptlager und in seinen Außenlagern ermordet oder starben nach ihrer Befreiung an den Folgen der Haft.

Lange Zeit galten Konzentrationslager als Orte absoluter Macht und BrutalitĂ€t der SS. Die neuere Forschung thematisiert natĂŒrlich ebenso die BrutalitĂ€t und die Schrecken, arbeitet aber auch heraus, dass es die eine KZ-Erfahrung nicht gibt.

Der Historiker Gerhard Botz, der bis 2017 das von ihm gegrĂŒndete Ludwig Boltzmann Institut fĂŒr Historische Sozialwissenschaft leitete, beschĂ€ftigt sich seit Jahrzehnten mit Mauthausen. Jetzt ist der dritte Band eines Mauthausen-Projekts in Fertigstellung, zu dessen Kernteam Alexander Prenninger und Regina Fritz gehören. Ihre wichtigste Message: Mauthausen erzĂ€hlt nicht eine, sondern viele Geschichten. Denn im KZ gab es verschiedene Phasen, eine große Zahl an HĂ€ftlingsgruppen und viele Unterschiede bei den Inhaftierten.

 


Die Buchreihe, in der das von Ihnen geleitete Forschungsprojekt rund um das Konzentrationslager Mauthausen dokumentiert wird, erscheint unter dem Titel „Europa in Mauthausen“. Warum haben Sie diesen Titel gewĂ€hlt?

Gerhard Botz: Man hat Mauthausen lange so behandelt, als sei es ein von den Nazis errichtetes Konzentrationslager gewesen, in dem nur Österreicher interniert gewesen seien. Das war ursprĂŒnglich der Plan der SS. Im Krieg wurde das Lager aber total international. Schließlich gab es in Mauthausen ĂŒberhaupt nur etwas mehr als zehn Prozent deutschsprachige Inhaftierte, von denen wiederum nur elf Prozent Österreicher waren. Das wollten wir mit dem Titel „Europa in Mauthausen“ betonen.

Das Projekt startete schon vor lÀngerer Zeit. Können Sie die Geschichte noch einmal im Schnelldurchlauf erzÀhlen?

Botz: Schon in den 1990ern gab es PlĂ€ne, Interviews mit Überlebenden von Mauthausen zu fĂŒhren und diese der GedenkstĂ€tte zur VerfĂŒgung zu stellen. In Fahrt gekommen ist das Projekt dann unter der ÖVP-FPÖ-Regierung mit Wolfgang SchĂŒssel als Bundeskanzler. Die Regierung hat es als Möglichkeit gesehen, die internationale Kritik vieler KZ-Überlebender an der blauen Regierungsbeteiligung zu entkrĂ€ften. 2001 wurde das Projekt ausgeschrieben: Die letzten noch lebenden Mauthausen-HĂ€ftlinge sollten angeschrieben und ĂŒber 800 von ihnen in Oral-History-Interviews befragt werden.

Die Ausschreibung hat dann ein Projektteam unter meiner Leitung gewonnen, das im Kern aus Mitarbeiter:innen des Instituts fĂŒr Konfliktforschung, des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands und des Boltzmann Instituts fĂŒr Historische Sozialwissenschaft bestand. Auch Mitglieder der International Oral History Association konnten dafĂŒr gewonnen werden. Die Finanzierung kam zu 80 Prozent vom Innenministerium, doch lange Zeit gab es keine Mittel fĂŒr eine systematische Erforschung dieses Datenschatzes. Erst mit der GrĂŒndung des Zukunftsfonds der Republik Österreich 2006 konnte die Finanzierung sichergestellt werden. Die ersten Ergebnisse wurden in zwei BĂ€nden publiziert: In Band 1, „Nationalsozialistische Expansions- und Verfolgungspolitik“, geht es um Grundlagen, Quellenbasis und Fragestellungen des Projekts. Der Band 2, „Deportiert nach Mauthausen“, beschreibt, auf welchen Wegen und warum HĂ€ftlinge nach Mauthausen gekommen sind.

Sie haben gesagt, dass Mauthausen international ausgerichtet war. Woher kamen die HĂ€ftlinge? Und hat sich das im Verlauf der Existenz des Lagers gewandelt?

Botz: ZunĂ€chst kamen sie aus dem deutschsprachigen Raum. Mit jeder Expansionswelle des Dritten Reichs sind dann neue und ganz andere Personengruppen in die FĂ€nge der Nationalsozialisten geraten. ZunĂ€chst wurden Tschechen nach Mauthausen deportiert, ab Kriegsbeginn viele Menschen aus Polen. Dann folgte die Expansion nach West- und Nordeuropa. Die nĂ€chste Ausdehnungswelle brachte Slowenen, Serben und Griechen nach Mauthausen. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion kamen durch Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit besonders viele Russen, Ukrainer und andere „Unionsvölker“ nach Mauthausen. Dann kamen noch HĂ€ftlinge aus ehemals verbĂŒndeten LĂ€ndern wie Italien und Ungarn dazu.

„Ab 1944 wurden auch Frauen nach Mauthausen, bis dahin ein MĂ€nnerlager, gebracht.“ Gerhard Botz

Ab 1944 wurden auch Frauen nach Mauthausen, bis dahin ein MĂ€nnerlager, gebracht. Nun begannen auch die Massentransporte aus Auschwitz und anderen Lagern. Die Expansion des KZs im Dritten Reich folgte nicht einem vorgegebenem festen Plan, brachte immer wieder andere soziale und nationale Gruppierungen nach Mauthausen. Juden und Roma und Sinti waren dabei immer einer nationsĂŒbergreifenden Verfolgung unterworfen.

Hat sich neben den Nationen, aus denen die HÀftlinge kamen, auch die Funktion des Lagers mit der Zeit verÀndert?

Botz: Ein weit verbreitetes Geschichtsbild besagt, die HĂ€ftlinge seien ĂŒberwiegend politische Gegner gewesen: Das ist falsch, denn der NS-Verfolgungspolitik ging es nicht primĂ€r darum, zurĂŒckliegende Taten zu bestrafen, sondern ganze Menschengruppen vorausschauend auszuschalten, solche, die man in der Vorstellung der Nazis aufgrund ihres „Wesens“ nicht in die „deutsche Volksgemeinschaft“ hineinsozialisieren konnte bzw. wollte. Diese Menschen wurden in Deutschland ab 1936/37 als sogenannte „Gemeinschaftsfremde“ verfolgt und als „asozial“ oder „kriminell“ stigmatisiert. Als billige ArbeitskrĂ€fte in den SteinbrĂŒchen von Mauthausen und Gusen dienten sie nicht nur dem Profit der SS, sondern sie wurden schon dabei oft zu Tode gearbeitet.

„Mit der Ausdehnung des NS-Imperiums verschĂ€rften sich auch dessen Verfolgungspolitiken. “ Gerhard Botz

Mit der Ausdehnung des NS-Imperiums verschĂ€rften sich auch dessen Verfolgungspolitiken. Ab 1939/40 kamen dann immer mehr Menschen aus den eroberten LĂ€ndern wegen ihrer nicht deutschen Herkunft in Haft; besonders Angehörige der „Ostvölker“ und die sogenannten „Rotspanier“ – sie alle galten als gefĂ€hrlich, ohne ein Delikt begangen zu haben. Diese BegrĂŒndung der Verfolgung, die Menschen nicht nur nach rassistischen, sondern auch sozialen Kriterien aussondert, wird in der neueren KZ-Forschung stark betont.

Diese zweite Phase dauert also die ersten Kriegsjahre an. Gab es danach noch weitere Phasen in der Geschichte des KZ Mauthausen?

Botz: In der dritten Phase, die 1943 begann, standen kriegswirtschaftliche Interessen im Mittelpunkt. Angesichts des „totalen Kriegs“ und der hohen Verluste stellte sich im Dritten Reich vermehrt die Frage, wo die Arbeitskraft herkommen soll. Ab 1943 band man also die Konzentrationslager verstĂ€rkt in die RĂŒstungsproduktion ein. Der ArbeitskrĂ€ftemangel wurde durch Zwangsarbeit ausgeglichen. Das verĂ€nderte den Zugang zu den HĂ€ftlingen. Vorher hatten sie fĂŒr die SS kaum einen Wert gehabt: Noch 1941/42 wurden niederlĂ€ndische Juden oder „Rotspanier“ in großer Zahl ermordet. Das passierte ab 1943 hier nicht mehr in diesem Ausmaß, weil die Menschen gebraucht wurden. In Mauthausen verbesserte sich die relative Situation fĂŒr HĂ€ftlinge etwas – ganz einfach, weil nur lebende Menschen als Arbeitskraft einsetzbar sind.

Hielt dieser Zustand bis Kriegsende an?

Botz: Es gab noch eine vierte Phase. Das ist die Endphase, in der das Regime zusammenbrach. Mit dem Ende des Krieges stiegen die Gefangenenzahlen noch einmal durch Evakuierungstransporte aus anderen KZs und vom „SĂŒdostwall“ stark an. In dieser Phase kam auch eine große Anzahl jĂŒdischer HĂ€ftlinge nach Mauthausen. Es wurde auch die massenhafte Ermordung der HĂ€ftlinge wieder aufgenommen, wĂ€hrend ihre Versorgung mit dem Notwendigsten vollstĂ€ndig zusammenbrach. Aber die Gaskammer funktionierte noch fast bis ans Ende. Das letzte Jahr war die chaotischste und schlimmste Zeit. Diese furchtbare Endphase hat lange das Bild von Mauthausen geprĂ€gt und beeinflusst auch die Art und Weise, wie wir uns heute daran erinnern.

Inwiefern?

Botz: In dieser Phase ĂŒberlebten vor allem junge, körperlich starke, noch besser genĂ€hrte HĂ€ftlinge, die in der Lage waren, sich selbst mehr Essen zu „organisieren“. Diese Menschen haben nach dem Krieg von den Lagern erzĂ€hlt. Die Alten, Kranken und Schwachen, die sogenannten MuselmĂ€nner, waren in vielen FĂ€llen spĂ€testens in der vierten Phase gestorben und konnten nicht mehr erzĂ€hlen. Vieles, was in dieser Zeit geschah, der Hunger-„Kannibalismus“, die Gewalt unter den HĂ€ftlingen im Lager und bei der Befreiung, die Lynchjustiz an Kapos, die als bösartig bekannt geworden waren, wurde nach 1945 (auch in unserer Gesellschaft, selbst beim Großteil der Forschung) mehr oder weniger tabuisiert. Über all das wird in unseren Interviews wenigstens andeutungsweise gesprochen. Das muss man als Oral Historian berĂŒcksichtigen.

Das heißt, man muss bei Oral History auch bedenken, wen und was man nicht mehr hören kann?

Botz: Oral History berichtet oft von schrecklichen EinzelfĂ€llen. Aber es besteht die Gefahr, dass die Erfahrungen, wenn sie nur von Einzelpersonen kommen, verabsolutiert werden. Die Konzentrationslager im Allgemeinen und Mauthausen im Speziellen sind nicht einheitlich. Die Erfahrungen der serbischen oder sowjetischen Gefangenen sind andere als die der Franzosen, der katholischen Österreicher oder von jĂŒdischen Frauen. Man sieht immer, dass die Erfahrungen der Inhaftierten in KZ sich je nach Gruppe unterscheiden.

„Die oft behauptete HomogenitĂ€t gibt es nicht.“ Gerhard Botz

Die oft behauptete HomogenitĂ€t gibt es nicht. Teilweise sind auch die Erfahrungen innerhalb nationaler und spezifischer Gruppen sehr verschieden. Die in der NS-Terminologie „Berufsverbrecher“ Genannten wurden zum Großteil ermordet, in vielen Lagern aber auch gern als Kapos installiert. Zwischen dem Kapo-Netzwerk der sogenannten „Kriminellen“ und dem der „politischen“ Gefangenen herrschte oft ein permanenter Überlebenskampf, in dem in Mauthausen Letztere 1944 die Oberhand gewannen.

Wie wichtig waren die Kapos fĂŒr das Funktionieren eines Lagers?

Botz: In den Konzentrationslagern gab es von Anfang an eine zweigeteilte Struktur: Die SS ĂŒbte die Macht ĂŒber die Gefangenen aus, sie ĂŒbertrug aber einen Teil der Aufgaben an ausgewĂ€hlte HĂ€ftlinge, die Kapos. Sie gaben die Anweisungen und WĂŒnsche der SS nach unten weiter, konnten sich selbst und andere aber auch bis zu einem gewissen Maß schĂŒtzen. Sie waren weder weiß noch schwarz, sondern bildeten eine „Grauzone“, wie der bekannte italienische Auschwitz-Überlebende Primo Levi schrieb. Dieses System, ohne das kein Konzentrationslager hĂ€tte funktionieren können, wird erst seit den letzten Jahren systematisch untersucht, vieles wird erst jetzt bekannt.

In Band 3 der Reihe, der gerade in Fertigstellung ist, geht es viel um den Begriff der „HĂ€ftlingsgesellschaft“. Was ist das?

Botz: „HĂ€ftlingsgesellschaft“ ist ein gĂ€ngiger Begriff fĂŒr das HĂ€ftlingskollektiv in einem Lager, der heute aber wissenschaftlich umstritten ist. Denn er zieht Parallelen zwischen der „KZ-Gesellschaft“ und der modernen Gesellschaft: In beiden gibt es Regeln, Gruppierungen, Zusammenhalt, Lernprozesse etc., ein ganzheitliches Funktionssystem, wie es von Soziolog:innen verstanden wird. Die Existenz eines solchen Systems wird jedoch heute vielfach angezweifelt. Insgesamt geht es in der Debatte darum, wie ich die Geschichte nicht nur anhand von wenigen Einzelschicksalen, sondern mit kultur- und sozialhistorischen Kriterien erfassen kann. In der Forschung gibt es die oft nĂŒtzliche Vorstellung eines KZs als Abbild einer Gesellschaft: Die „hohen“ Kapos (LagerĂ€lteste, Lagerschreiber, BlockĂ€lteste etc.) sind die 1-Prozent-Oberschicht, ihre vielen Helfer:innen und AbhĂ€ngigen als Schreiber, Stubendienste, Schuster etc., aber auch die Arbeitskapos, die die Arbeit an die einfachen HĂ€ftlinge austeilten, bilden eine „Mittelschicht“, die normalen HĂ€ftlinge sind so etwas wie das Proletariat.

Auch der einflussreiche deutsche Soziologe Wolfgang Sofsky interpretiert ein KZ etwa als ein solches Modell, ĂŒberspitzt es aber als absolutes, alles kontrollierendes Herrschaftssystem der SS. Dagegen haben sich besonders KZ-Überlebende ausgesprochen: Die SS sei brutal und schrecklich gewesen, es habe aber immer auch einen gewissen lautlosen Widerstand gegeben. Ehemalige HĂ€ftlinge betonen, dass man – im Kleinen und Verborgenen – versucht habe, zu agieren, zu helfen, aber auch in eine bessere eigene Situation zu gelangen als die anderen HĂ€ftlinge. Das waren vielschichtige, komplexe soziale Situationen. Und gerade darin liegt die besondere PerfiditĂ€t des KZ- und gesamten NS-Herrschaftssystems, die auch von uns eine mehrschichtige Methodik und das Bekenntnis zur Unfertigkeit erfordert hat.   

Haben Sie dafĂŒr Beispiele?

Botz: Es gab FĂ€lle, wo ein SS-Mann Geburtstag hatte und wollte, dass die HĂ€ftlinge ihm eine Feier organisierten. Das ĂŒbernahm dann ein Kapo, der sich aber wiederum die UnterstĂŒtzung von anderen HĂ€ftlingen sichern musste, die Dekoration nĂ€hten, GlĂŒckwunschkarten zeichneten und den „Block“ schmĂŒckten, und dafĂŒr etwas mehr Essen als Belohnung bekamen. Oder ein HĂ€ftling arbeitete fĂŒr den Lagerkommandanten und konnte mit dessen UnterstĂŒtzung eine Musikkapelle grĂŒnden.

Sie haben es eben schon angedeutet, aber ich frage noch einmal explizit: Ist die Mauthausen-Forschung mit Ihrem Projekt mehr oder weniger abgeschlossen?

Botz: Nein. Geschichtsforschung kommt nie ein und fĂŒr alle Mal zu fixen Ergebnissen. Es ergeben sich immer neue Fragestellungen, neue Quellen, neue Methoden, neue kontrollierbare Antworten. Wir hoffen, mit unserem Projekt das VerstĂ€ndnis von einem KZ in Österreich und international verbessern zu können.

Editionswerk „Europa in Mauthausen“

Unter der Leitung von Gerhard Botz entstand das Mauthausen Survivors Research Project (MSRP), das auf mehr als 850 Interviews mit Überlebenden basiert und aus dem die Buchreihe „Europa in Mauthausen“ hervorging. Bisher sind die BĂ€nde „Mauthausen und die nationalsozialistische Expansions- und Verfolgungspolitik“ und „Deportiert nach Mauthausen“ im Verlag Böhlau und Open Access in der FWF-E-Book-Library erschienen. In KĂŒrze wird unter dem Titel „Gefangen in Mauthausen“ Teil 3 publiziert. Die Mitherausgeber:innen der Reihe sind Regina Fritz und Alexander Prenninger. Fritz forscht als Postdoc-Assistentin an der Abteilung fĂŒr Neueste Geschichte und Zeitgeschichte der UniversitĂ€t Bern. Prenninger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institute for Digital History in Wien.

Gerhard Botz ist emeritierter Professor am Institut fĂŒr Zeitgeschichte der UniversitĂ€t Wien. Von 1982 bis 2017 war er Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts fĂŒr Historische Sozialwissenschaft (Salzburg/Wien) und von 2001 bis 2004 PrĂ€sident des wissenschaftlichen Beirats fĂŒr die Reform der KZ-GedenkstĂ€tte Mauthausen.