Das Mittelmeer in Literatur und Film
Als ich beschloss, nach meinem Doktoratsstudium weiterzuforschen, war mir klar, dass dies mit einem längeren Auslandsaufenthalt verbunden sein sollte. Zudem war es ein naheliegender Wunsch, da ich mich mit italienischer Literatur- und Kulturwissenschaft beschäftige. Der Plan war, durch das Leben und Arbeiten in Italien internationale Erfahrungen in Bezug auf meine Forschungen zu sammeln und meine Perspektiven zu erweitern. Das Erwin-Schrödinger-Stipendium des Wissenschaftsfonds FWF bot mir die großartige Chance, ab Januar 2020 am Centro Studi Postcoloniali e di Genere (CSPG) der Università degli Studi di Napoli L’Orientale mitzuarbeiten.
Schwerpunkt meines Forschungsprojektes „The Mediterranean in Italian fiction and film from Verismo to the present“ ist eine kulturwissenschaftliche Untersuchung von Darstellungen des Mittelmeer(raum)s in der Literatur und im Kino Italiens, ausgehend vom „Verismo“ im späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die zentrale Frage dabei lautet, wie das Mittelmeer bzw. der Mittelmeerraum als Motiv und/oder Metapher in den literarischen Texten und Filmen inszeniert wird. Dabei geht es u. a. um Themen wie Reise, Stereotype, Raumwahrnehmung oder Migration. Mein Projekt nimmt eine diachrone Perspektive ein und neben allgemeinen Überlegungen, was Literatur und Film zur mediterranen Theoriebildung beitragen können, geht es auch darum, die unterschiedliche politische Aufladung von literarischen und filmischen Mittelmeerdiskursen hinsichtlich Konstanten und Veränderungen zu untersuchen.
Mein Forschungsinteresse umfasst außerdem Fragen nach den ästhetischen Verfahren, welche die Autor:innen und Filmemacher:innen nutzen, um ihre Geschichten, die in der Region rund um das Mittelmeer angesiedelt sind, zu erzählen. Schließlich versuche ich aufzuzeigen, inwieweit einige der untersuchten Fiktionen komplexere Antworten im Sinne einer „Gegenerzählung“ der italienischen Moderne aus mediterraner Perspektive vermitteln.
Fiktion, Feedback und Theorie
Mein Projekt strebt nach einer Verflechtung von fiktionalen Darstellungen und mediterraner Theoriebildung. Dass einer der renommiertesten Mittelmeerforschenden in der zeitgenössischen kritischen Debatte über das Mittelmeer, Iain Chambers, an der Università degli Studi di Napoli L’Orientale tätig war, sprach zusätzlich für die Wahl Neapels als Forschungsstätte meiner Auslandsphase. Als Host stand mir Professor Chambers während des gesamten Aufenthalts beratend und unglaublich hilfsbereit zu Seite. Ich konnte in einem Gemeinschaftsbüro am CSPG im Palazzo Giusso in der historischen Altstadt arbeiten, verbrachte zudem regelmäßig Zeit in den exzellenten Bibliotheken der Stadt, allen voran in der Biblioteca Nazionale di Napoli Vittorio Emanuele III. Die Unterstützung von Iain Chambers, etwa indem er Kontakte mit spezialisierten Italianist:innen herstellte, Ausnahmegenehmigungen während der strengen Zugangsregeln zu Universitätsgebäuden in der Coronapandemie erwirkte, und insbesondere seine Lektüre einzelner Projektkapitel samt Feedback, waren und sind für mich von unschätzbarem Wert.
Die neue Arbeitsumgebung in Neapel hat mich wohl auch aufgrund der unvorhersehbaren Umstände im Zuge der Pandemie und der damit verbundenen zahlreichen Restriktionen (Konferenzen, Seminarreihen und Veranstaltungen wurden abgesagt oder fanden virtuell statt) genau in die richtige Richtung herausgefordert – nämlich zu lernen, an einem Projekt dranzubleiben, auch wenn sich die Gegebenheiten plötzlich ganz anders als erwartet darstellen. Insgesamt nahm ich mein Arbeitsumfeld in dieser nicht einfachen Situation als überaus engagiert, stets unterstützend, dynamisch, offen und äußerst großzügig wahr.
Im Verlauf der Auslandsphase konnte ich zusätzlich zwei kürzere Rechercheaufenthalte realisieren, zunächst am Istituto Nazionale di Studi Verdiani in Parma und später an der Fondazione Verga in Catania. Diese Erfahrungen ermöglichten mir nicht nur mit ausgewiesenen Expert:innen (z. B. Gabriella Alfieri, Università di Catania) in Kontakt zu treten, sondern auch neue Perspektiven auf meine eigene Forschungsarbeit zu entwickeln.
Stadt der Widersprüche
Abseits der Arbeit bot Neapel reichlich Gelegenheit für Stadterkundungen, einschließlich kulinarischer Verlockungen. Und nachdem die pandemiebedingten Einschränkungen langsam zurückgefahren wurden, standen auch kulturelle Aktivitäten und Ausflüge ins Umland, etwa auf die Halbinsel von Sorrent oder nach Ischia, am Programm. Angesichts der unzähligen Veduten vom Vesuv wollte ich unbedingt auch den umgekehrten Blick kennenlernen und dafür den Vulkan „erklimmen“. Nach einer Anfahrt per Bus, gefolgt von einer halbstündigen gemächlichen Wanderung, bot sich in der Tat ein atemberaubender Blick über den Golf und die gesamte Metropolregion. Ein anderes bemerkenswertes Erlebnis war für mich der Besuch der Oper „Aida“ im Teatro di San Carlo, insbesondere da Verdis Oper einer meiner Projektschwerpunkte ist.
Insgesamt erlebte ich die Mittelmeermetropole Neapel immer wieder als unglaublich widersprüchlich, vielschichtig und komplex. Ich glaube, sie lässt sich nicht fassen, es ist dort alles gleichzeitig präsent, so zumindest habe ich es erlebt. Im Alltag konnte das ab und an ganz schön anstrengend sein. Die Geräuschkulisse und hupenden „motorini“ an jeder Ecke nahm ich nicht immer nur als Ausdruck pulsierenden Großstadtlebens wahr, sondern teils auch als spürbar hektische (An-)Spannung. Aber dann gab es wieder jene wunderbaren Momente wie morgens vor der Arbeit ans Meer zu spazieren oder sich von einem Seifenblasenkünstler mitten auf der Piazza del Plebiscito zur Musik von Ludovico Einaudi bezaubern zu lassen oder ein Frühstück bei Grangusto mit einer lieben neapolitanischen Freundin.
Das Schrödinger-Stipendium ermöglichte mir, eine solide Basis für meine weitere Forschungsarbeit zu legen. Die Zeit in Neapel hat mich dank der vielen verschiedenen Erfahrungen und Herausforderungen beruflich und persönlich enorm bereichert, und dafür bin ich sehr dankbar.