Das kulturelle Kapital der Vertriebenen
„Es gibt keine Architektur die dieses Namens würdig wäre, keine professionellen Theater, die Kunstgalerien sind fürchterlich“, hält Gertrude Langer ernüchtert in ihren Aufzeichnungen fest. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Architekten Karl Langer, ist die Kunsthistorikerin 1938 über Athen nach Australien geflüchtet. Im ländlichen und provinziellen Brisbane hat das Ehepaar seine Zelte aufgeschlagen. Langers Tagebuchnotizen erzählen von einem langen, mühseligen Weg in der neuen Heimat, in der sie ein kulturelles Vakuum vorfand. In kleinen Schritten und über Jahre konnte sie sich schließlich einen Ruf als Kunstexpertin aufbauen, revolutionierte dabei den Kunstsektor in Queensland und wurde schließlich zu einer der Wegbereiterinnen der modernen Kunst in Australien. Gertrud Langers Schicksal teilten viele, unter ihnen Gertrud Bodenwieser. Sie war eine Pionierin des modernen Ausdruckstanzes in Wien, und auch sie flüchtete kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Australien. In einem kleinen Studio in Sydney hat die erfolgreiche Choreografin und Tänzerin die australische Variante des Modern Dance entwickelt.
Migrationsgeschichte am Beispiel Australien
Als sich in Österreich der „Anschluss“ und in Folge der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs abzeichnete, zerstreute sich die jüdische Bevölkerung in alle Welt. Jedoch nur wenige brachen in das weit entfernte Australien auf, das in den 1930er-Jahren eine restriktive Einwanderungspolitik verfolgte. Erst Anfang 1939 lockerte das Land seine Beschränkungen und erlaubte 15.000 Flüchtlingen in einem Zeitraum von drei Jahren die Einreise. Aus den deutschsprachigen Ländern kamen insgesamt rund 9.000 Personen zwischen 1938 und 1945 in das australische Exil. Sie siedelten sich vorwiegend an der Südostküste des Landes an, in den Städten Melbourne, Sydney oder Brisbane, unter ihnen waren auch mindestens 2.600 Österreicherinnen und Österreicher, die meisten aus Wien. Der Zeithistoriker Philipp Strobl hat nun erstmals die Spuren dieser Geflüchteten aufgenommen und die Migrationsgeschichte des Zweiten Weltkriegs und seine Folgen am Beispiel Australiens skizziert.
Prägender Wissenstransfer
„Australien hat, im Vergleich zu den USA oder Großbritannien, eine ausgezeichnete Archivkultur“, berichtet Philipp Strobl. So konnte der Forscher auf die vollständig erhaltenen Einbürgerungsakten und viele andere Quellen zugreifen, auf deren Datenbasis er ein genaues Profil der österreichischen Geflüchteten in Australien erstellte. Anhand dieser statistischen Analysen hat Strobl, der das Forschungsprojekt finanziert durch ein Schrödinger-Stipendium des Wissenschaftsfonds FWF durchführte, eine repräsentative Gruppe von 26 Personen (ein Prozent der gesamten Flüchtlingsgruppe) ausgewählt und interviewt. Derzeit arbeitet er an der Gesamtausgabe dieser „Kollektivbiografie“, wie es der Wissenschafter nennt, die 2020 erscheinen wird. Zu einzelnen Fallbeispielen hat Strobl bereits etliches publiziert. Die einzelnen Schicksale zeigen, welchen Beitrag österreichische Exilantinnen und Exilanten zur wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der australischen Nachkriegsgesellschaft leisteten. Die Erinnerungen der Vertriebenen sind vor allem Zeugnis eines enormen Wissenstransfers von den Kulturzentren Europas in den dünn besiedelten fünften Kontinent.
Progressives Denken und Wirken
„Die Auswanderer bauten auf ihrem kulturellen Kapital auf, denn finanziell war es aufgrund der Reichsfluchtsteuer und den hohen Kosten der Überfahrt nach Australien schwierig, und die Vertriebenen mussten zudem für sich selbst aufkommen“, erklärt Philipp Strobl. Vorwiegend aus gutbürgerlichem Milieu kommend, hatten viele von ihnen ein Studium absolviert und waren hoch qualifiziert. Unter ihnen befanden sich Ärztinnen und Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten, Ingenieure, aber auch zahlreiche Unternehmer. Dieses Bildungskapital machten sich die Einwanderinnen und Einwanderer zunutze und starteten unter schwierigsten Bedingungen neu durch. Als der passionierte Skitouren-Geher und hauptberufliche Versicherungsangestellte Karl Anton Schwarz (Charles William Anton) nach Australien kam, wusste er noch nicht, dass auch er es zu Pionierleistungen bringen würde. Begeistert von den Möglichkeiten des Skifahrens, das damals in Australien nur in exklusiven Kreisen praktiziert wurde, importierte er das Konzept des Österreichischen Alpenvereins und baute durch Mitgliedschaften und Schutzhütten eine Infrastruktur auf, die den Boden für die Entwicklung des australischen Ski-Sports und -Tourismus bereitete. Die Biografien der Vertriebenen zeigen, welche unterschiedlichen Rollen diese in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Australiens hatten. „Vieles, das heute als ‚australisch‘ angesehen wird, hat einen internationalen Ursprung“, betont Strobl. Wie wichtig solche Forschung zu Migrationsgeschichte sei, zeige, mit welchen Vorurteilen Flüchtlingen bis heute begegnet werde, sagt der Historiker. Strobl ist es daher wichtig aufzuzeigen, wie sich Flüchtlingsbewegungen in der Vergangenheit ausgewirkt haben, um das Verständnis für diese Prozesse zu fördern und einen Beitrag dazu zu leisten, Vorurteile gegen Migrantinnen und Migranten abzubauen.
Zur Person Philipp Strobl studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Innsbruck und forschte im Rahmen eines Schrödinger-Stipendiums des Wissenschaftsfonds FWF von 2016 bis 2019 u.a. an der Swinburne University of Technology in Melbourne, Australien und dem Zeitgeschichte Institut der Universität Innsbruck. Seit 2019 lehrt und forscht er am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim. In seinen Forschungen beschäftigt sich Strobl u.a. mit Migrationsgeschichte, Vernetzungsgeschichte und Transnationaler Geschichte bzw. Globalgeschichte.
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