Inszenierung der Sprachforschung im Lager für den Fotografen. Beim Tisch steht Massaud ben Mohamed ben Salah (2.v.r.), Carl Meinhof sitzt am Kopfende. © DHM, Nachlass W. Doegen

Eine Sammlung von Tonaufnahmen, die von einer Gruppe zumeist deutscher Forscher zur Zeit des Ersten Weltkriegs mit afrikanischen Kriegsgefangenen produziert wurden, bietet die Grundlage für Anette Hoffmanns Projekt „Ins koloniale Archiv hören“. Aus einem Konvolut an Material, das sich im Berliner Lautarchiv befindet, hat sich die Kulturwissenschafterin daran gemacht, diese großteils vor sich hinschlummernden Quellen zu übersetzen, zu analysieren und in den historischen Kontext einzubetten.

Anthropologischer Tourismus

Koloniale Machtverhältnisse ermöglichten rassistische Forschungspraktiken in Europa und in kolonisierten Ländern. Es war die Zeit der sogenannten Völkerschauen, bei denen Menschen aus fernen Ländern zur Schau gestellt wurden. Vor allem waren es Anthropologen und Sprachwissenschafter, zum Teil auch  Musikwissenschafter, die sich für die „Fremden“ interessierten. Während des Ersten Weltkriegs wurden rund 650.000 Soldaten aus afrikanischen Kolonien rekrutiert und nach Europa gebracht. Weil die Forscher die Anwesenheit der Gefangenen als Gelegenheit betrachteten, kam es zu „anthropologischem und linguistischem Tourismus“ in Gefangenenlager, erzählt Anette Hoffmann. Das Interesse der Forscher galt jedoch nicht den Erfahrungen der Afrikanischen Soldaten, sondern der systematischen Dokumentation aller in deutschen Kriegsgefangenenlagern gesprochenen Sprachen, die zu einem großen Teil gar nicht verstanden wurden.

Vernachlässigte Archive

Zurückgeblieben ist ein „Archiv der verzerrten Fragmente, das nichts über die Personen erzählt, sondern sie lediglich auf eine Art Index runtergebrochen hat“, wie es Hoffmann beschreibt. Dabei entpuppt es sich heute, so die Forscherin, als eine bemerkenswerte Dokumentation der Anwesenheit afrikanischer Soldaten und vereinzelter Einwanderer in Europa, die das standardisierte Prozedere der Aufnahmen für Interventionen, Bitten, bis hin zu Persiflagen nutzten. Die Aufnahmen selbst fördern auch Verbindungen zu anderen Archiven zutage. So führt etwa die Spur des Senegalesen Abdulaye Niang, der darum bittet, nicht nach Rumänien deportiert zu werden, zu anthropologischen Forschungen an Kriegsgefangenen in Rumänien und schließlich zu den Aufzeichnungen des österreichischen Anthropologen Rudolf Pöch in Wien. „Es gibt unzählige Tonaufnahmen“, sagt Anette Hoffmann, „die abgesehen von Militärregistern, einigen Fotografien und Akten anthropologischer Untersuchungen, mehr Spuren hinterlassen haben, als gedacht und bis vor wenigen Jahren in der kolonialen Geschichtsschreibung vernachlässigt wurden.“

In die Zwischenräume hören

Die knifflige Aufgabe in Anette Hoffmanns Forschungsprojekt, das durch ein Lise-Meitner-Stipendium des Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird, ist es, hinter den akustischen Sprachproben die Stimmungen in den Lagern, Sprechsituationen und eventuell versteckte  Botschaften herauszufiltern. Hoffmann verwendet in diesem Zusammenhang auch die Begriffe des Echos, „das immer fast, aber eben nicht ganz das gleiche wie das Ursprüngliche ist und damit einen Zwischenraum erfahrbar macht“. Hier geht es um Fragen der Extraktion, Begrenzung, Entfernung oder Verzerrung, die sich aus den Sprechakten ergeben. Bei den konkreten Übersetzungen der verschiedenen afrikanischen Sprachen wird sie von Kolleginnen und Kollegen in Afrika unterstützt. – Hoffmann hat mehrere Jahre an Universitäten in Südafrika gearbeitet und ist im Rahmen ihrer Forschungstätigkeiten nach wie vor regelmäßig dort. Ihre Ergebnisse will die Wissenschafterin nicht nur publizieren, ein Band aus dem Projekt ist derzeit im Entstehen, sondern auch in das Museum bringen, wo bis jetzt noch absolute Stille herrsche, bedauert Hoffmann. Nach Toninstallationen in Stuttgart und Hamburg sollen weitere Ausstellungsprojekte folgen und die bis dato unerschlossenen akustischen Quellen als koloniales Echo des Ersten Weltkrieges neue Perspektiven auf die Geschichtsschreibung liefern. Zukünftig möchte die Forscherin sich verstärkt mit dem Gebrauch von historischen Tonaufnahmen in ethnografischen Museen beschäftigen.


Zur Person Anette Hoffmann ist Kulturwissenschaftlerin und Afrikanistin. Im Rahmen eines Meitner-Programms des FWF arbeitet sie bis 2020 an dem Projekt „Ins koloniale Archiv hören“ an der Akademie der bildenden Künste Wien. Seit mehreren Jahren arbeitet Hoffmann Sammlungen historischer Tonaufnahmen aus Kolonialzeiten auf.


Publikationen

Anette Hoffmann: Kolonialität, in: Daniel Morat, Hansjakob Ziemer, (Hg.) Handbuch Sound, Springer 2018
Anette Hoffmann: Introduction: Listening to Sound archives, in: Social Archives – A journal of African studies, 2015
Anette Hoffmann: Echoes of the Great War, in: Open Arts Journal 2014