Antiker Friedhof ohne Pomp und Gloria liefert neue Erkenntnisse
âIn einem ausgesprochen einfachen Grab haben wir in der Hand des Toten ein Nahrungsmittel gefunden. Vielleicht ein StĂŒck Brot? Nach seinem Tod wurde es ihm vorsichtig in die Hand gelegt und diese so vor das Gesicht drapiert, dass er im Jenseits mit Nahrung versorgt istâ, beschreibt Eva Christiana Köhler einen berĂŒhrenden Fund. Dabei handelt es sich um eines von 218 GrĂ€bern, die die Ăgyptologin und ArchĂ€ologin mit ihrem Team auf einem unbekannten Teil der âNekropole von Helwanâ neu entdeckte. Dieses GrabungsgelĂ€nde am Ostufer des Nils, nahe des heutigen Helwan und rund 25 Kilometer sĂŒdlich von Kairo gilt als der gröĂte antike Friedhof seiner Zeit. Wie Funde belegen, hatte er seine BlĂŒtezeit zwischen 3.300 und 2.700 v. Chr., was in die MitteleuropĂ€ische Bronzezeit fĂ€llt. Doch nicht allein seine GröĂe machen ihn einzigartig: In der Nekropole sind hauptsĂ€chlich Normalsterbliche von der altĂ€gyptischen Unter- bis zur Oberschicht aus Memphis, als es Hauptstadt war, begraben. âDie GrĂ€ber erlauben es uns, die urbane Gesellschaft von unten nach oben zu betrachten und besser zu verstehenâ, erklĂ€rt Köhler, die seit 2010 das Institut fĂŒr Ăgyptologie der UniversitĂ€t Wien leitet.
Rettung fĂŒr Nachwelt in letzter Sekunde
Auf dem bis dahin unerforschten Areal stieĂen die Forschenden in mehrjĂ€hrigen Grabungsarbeiten auf insgesamt 218 GrĂ€ber, 229 Leichname, etwa 70.000 Pflanzen- und 13.000 tierische Ăberreste, sowie mehr als 150.000 Keramikfragmente, hunderte GefĂ€Ăe und etwa 2.000 andere Artefakte. Das rund 7.000 Quadratmeter groĂe Gebiet mache laut Köhler nur einen kleinen Teil des ursprĂŒnglichen GrabungsgelĂ€ndes aus. Erste Ausgrabungen gab es dort bereits in den 1940er-Jahren unter der Leitung des namhaften Ă€gyptischen ArchĂ€ologen Zaki Youssef Saad (1901-1982). Damals konnten mehr als 10.000 GrĂ€ber auf einer FlĂ€che von rund 100 Hektar freigelegt werden.
Köhler begann ihre ForschungstĂ€tigkeiten 1997, die zunĂ€chst darin bestanden, die Funde von Saad mit modernen Methoden teils nochmals auszugraben, zu lokalisieren und zu dokumentieren. Ihre eigenen Ausgrabungen auf einem unerforschten Teil des Friedhofs schlossen die GrabungstĂ€tigkeiten ab. Dabei entging diese archĂ€ologische StĂ€tte wegen des hohen Bebauungsdrucks mehrmals nur knapp dem Schicksal, fĂŒr immer unzugĂ€nglich zu werden: âEinen Tag, nachdem wir 2006 die Ausgrabungen abgeschlossen hatten, kamen die Bewohner des angrenzenden Dorfs, um Territorien zur Bebauung abzustecken. Das beobachtete mein Ă€gyptischer Kollege und informierte mich sofortâ, erinnert sich Köhler, die damals Dozentin an der Macquarie University in Sydney war. Daraufhin wandte sie sich an die Ă€gyptischen Behörden. Seither steht das gesamte GelĂ€nde von rund 20 Hektar unter Ă€gyptischem Denkmalschutz und ist von einer Schutzmauer umgeben. Was bei den jĂŒngsten Freilegungen ans Licht kam, hat sie im Rahmen eines Forschungsprojekts, das der Wissenschaftsfonds FWF finanzierte, dokumentiert und analysiert.
Individuum hatte hohen Stellenwert
âDas bekannte bzw. pharaonische Memphis liegt mit einer Luftlinie von 7 bis 8 Kilometern zu weit weg. Bei normalen Leuten, wie wir sie in Helwan begraben finden, liegen Wohn- und BegrĂ€bnisort nahe beieinanderâ, erklĂ€rt die Ăgyptologin. Daraus folgt, dass die erste Stadt Memphis, deren Lage bis heute unbekannt ist und die schon vor den Pharaonen existierte, deutlich nĂ€her an der Nekropole gelegen sein muss. Ein zentraler Faktor, mit der die ArchĂ€ologie hier arbeitet, ist der sogenannte âBegrĂ€bnisaufwandâ. Dieser steht stets im VerhĂ€ltnis zu den sozioökonomischen Möglichkeiten der zu Bestattenden. Die GrĂ€ber zeigten: In allen sozialen Schichten wurde je nach Machbarkeit stets viel Aufwand fĂŒr die Bestattung betrieben. Zur Standardausstattung gehörte eine Grabgrube oder unterirdische Anlage, KeramikgefĂ€Ăe fĂŒr Nahrungsmittel sowie Objekte aus dem persönlichen Besitz. âAuĂerdem waren alle GrabstĂ€tten sehr ordentlich. Selbst fĂŒr den Ărmsten, der in eine Schilfmatte gewickelt war, wurde eine Grube ausgehoben und der Leichnam sehr sorgfĂ€ltig und vorsichtig hineingelegtâ, sagt Köhler. AuĂerdem offenbarten die anthropologischen Untersuchungen, dass die Menschen allgemein relativ gesund waren und zudem keine Mangelerscheinungen aufwiesen. Besonders hervorzuheben ist, dass das Individuum in jeder sozialen Schicht einen groĂen Stellenwert hatte. Jede Person â ob Mann, Frau oder Kind â wurde mit allem, was die IdentitĂ€t ausmachte, in einem eigenen Grab beerdigt.
Hohe Steinbearbeitungskunst bereits frĂŒh bekannt
Wer zu welcher sozialen Schicht gezĂ€hlt werden kann, lĂ€sst sich mit gewisser Vorsicht anhand von Menge, QualitĂ€t und Material der Objekte im Grab abschĂ€tzen. Metallfunde, kostbare Importware oder Halbedelsteine, wie sie fĂŒr ElitegrĂ€ber ĂŒblich sind, konnten in der Nekropole von Helwan selten identifiziert werden. Bei Menschen aus niederen sozialen Schichten finden sich in GrĂ€bern vor allem praktische Objekte der materiellen Kultur, die sie zu Lebzeiten nutzten. Wer einer höheren Schicht angehörte, nutzte das Medium der Schrift, um das, was ihn oder sie ausmachte â die IdentitĂ€t â darzulegen. Auf insgesamt 50 Grabreliefs fanden sich bildliche Darstellungen, Namen und Berufstitel. Manche sind im Ăgyptischen Museum in Kairo ausgestellt. âDeren QualitĂ€t, der hohe Grad an PrĂ€zision, die Ăsthetik und IndividualitĂ€t ist zum Teil erstaunlich. Daher wissen wir nun, dass die Kunstfertigkeit, die man mit dem Pyramidenzeitalter assoziiert, seine UrsprĂŒnge in prĂ€dynastischer Zeit hatâ, ergĂ€nzt Köhler. Gleiches gilt fĂŒr die Ingenieurskunst: Wie eine GrabstĂ€tte zeigt, wusste man schon mehrere hundert Jahre vor dem Bau der Pyramiden, wie man zweieinhalb Tonnen schwere Steinblöcke abbaut, sicher an den Zielort transportiert und auf den Zentimeter genau in der Grabkammer einsetzt.
Neue Quellen fĂŒr 2. Dynastie
Die GrĂ€ber der Nekropole Helwan sind darĂŒber hinaus auch fĂŒr die Zeitrechnungskunde wertvoll: In der historischen Chronologie der Ă€gyptischen Geschichte sind die Regierungszeiten der Pharaonen (Dynastien) wichtige Bezugspunkte, weshalb KönigsgrĂ€ber eine zentrale Quelle sind. Allerdings ist ĂŒber die 2. Dynastie wenig bekannt. Deren Dauer konnte noch nicht exakt bestimmt werden und wird auf 140 bis 220 Jahre geschĂ€tzt. âSpannend ist, dass die Nekropole in Helwan einen riesigen Datensatz an materieller Kultur liefert und die 2. Dynastie sehr gut reprĂ€sentiert ist. Deshalb können wir nun sagen, dass sie fĂŒnf Phasen aufwies und eher lĂ€nger als kĂŒrzer dauerteâ, erlĂ€utert die Forscherin, die aktuell mit dem Deutschen ArchĂ€ologischen Institut Kairo die KönigsgrĂ€ber in Abydos erforscht. Denn erst die Synchronisierung der unterschiedlichen historischen Abschnitte ermöglicht die exakte Eingrenzung einer Zeitspanne. Etliche FundstĂŒcke aus der Nekropole sind bereits im teileröffneten neuen National Museum of Egyptian Civilization ausgestellt und auch im Grand Egyptian Museum, das wegen der Corona-Pandemie vermutlich nicht wie geplant 2020, sondern erst nĂ€chstes Jahr eröffnen wird, wird vieles der Ăffentlichkeit zugĂ€nglich gemacht. GrĂ€ber von Normalsterblichen sind zweifellos aufschlussreiche Quellen und wertvoll fĂŒr Forschung und Kultur, um frĂŒhe Ă€gyptische Gesellschaften â vom Bettler bis zum Pharao â in all ihren Facetten besser zu verstehen.
Zur Person Eva Christiana Köhler ist Ăgyptologin und ArchĂ€ologin. Seit 2010 ist sie VorstĂ€ndin des Instituts fĂŒr Ăgyptologie der UniversitĂ€t Wien. Vor ihrer Berufung nach Wien war die gebĂŒrtige Deutsche ĂŒber ein Jahrzehnt lang Dozentin an der Macquarie University in Sydney. Etliche Ausgrabungsprojekte fĂŒhrten sie bisher vor allem nach Ăgypten und in den Nahen Osten. Die Grabungen in Helwan wurden unter australischer Konzession und bis 2011 auch mit australischer Finanzierung ermöglicht. Seit 2014 unterstĂŒtzt der Wissenschaftsfonds FWF die Forschungen ĂŒber den gröĂten antiken Friedhof im Alten Ăgypten.
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