Am Schreibtisch des Arthur Schnitzler
Ungefähr drei Monate Einlesezeit brauche es schon, bis man mit Arthur Schnitzlers Handschrift halbwegs vertraut sei, erzählt Konstanze Fliedl von der Universität Wien. Vor knapp zehn Jahren hat sich die Literaturwissenschafterin einem Großprojekt verschrieben, als sie mit der Edition des Frühwerks des bedeutenden Schriftstellers der Wiener Moderne begann. Schnitzlers lange als unentzifferbar geltende Handschrift, aber auch der umfangreiche und europaweit verstreute Nachlass des Autors, waren die Gründe dafür, dass es bis ins 21. Jahrhundert keine systematische Aufarbeitung der Genese seiner Werke gab. Inzwischen liegen zehn neue Bände vor, unter ihnen die bekannten Dramen Anatol und Liebelei sowie die Novelle Lieutenant Gustl; deren Entstehungsgeschichten werden im Detail nachgezeichnet und neue Perspektiven erschlossen. – Fast so, als hätte man Schnitzler beim Schreiben über die Schulter geschaut. „Es handelt sich um eine genetische Edition“, betont Fliedl. Die Ausgaben enthalten also keine Interpretationen oder Wirkungsgeschichten – was wohl mehr als ein Lebenswerk wäre –, sondern stellen minutiös, Wort für Wort, die Entstehungs- und Druckgeschichte der Werke Arthur Schnitzlers bis 1904 dar. Bis zu dem Zeitpunkt hat Schnitzler überwiegend handschriftlich – mit Bleistift – geschrieben, danach fast nur noch (mündlich) diktiert. Die meisten dieser frühen Manuskripte liegen heute in der Cambridge University Library, wohin sie 1938, als die deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschierte, in Sicherheit gebracht wurden. Allein dieser Nachlass wird auf rund 40.000 Seiten geschätzt.
Von der Notiz zum Druck
In der neuen Ausgabe – in Kürze wird Reigen erscheinen – wird sämtliches erhaltenes Material in Faksimiles wiedergegeben und zwar in Originalgröße inklusive Transkription. Sie bildet den gesamten Schreibprozess ab: Streichungen, Tilgungen, Überschreibungen und so weiter. Deutlich wird hier auch, wie stark viele Manuskripte von der Druckvorlage abweichen. Und bleiben Fragen offen, etwa Entzifferungsunsicherheiten, sind auch diese für die Leserin und den Leser kenntlich gemacht. Zudem enthalten die Ausgaben die Fassungen der Werke auf Basis der Erstausgaben. „Das ist insofern wichtig, als die bis dato vorhandenen Taschenbuchausgaben viele Fehler enthalten. Daher haben wir die Texte nach dem ersten Druck, der von Schnitzler auch angesehen wurde, konstituiert“, sagt die Wissenschafterin. Viel Zeit und Arbeit sei dabei auch in Überlegungen geflossen, wie sich das alles am besten typographisch darstellen ließe.
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Von der Buchedition ins digitale Zeitalter
Die historisch-kritische Ausgabe ist zunächst als Printversion und E-Book im Verlag De Gruyter erschienen. Als zweiten Schritt hat das Team um Fliedl die Editionen mithilfe digitaler Technologien selbstständig für den Druck aufbereitet (gesetzt). Diese Datenaufbereitung soll nun in der abschließenden Phase dieser aufwendigen Forschungsarbeit, die vom Wissenschaftsfonds FWF seit ihrem Beginn in 2010 unterstützt wird, in eine Online-Version münden. Mit der Expertise des Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), wo aktuell übrigens auch ein Projekt zu Schnitzlers Korrespondenzen im Entstehen ist, wird die technische Aufbereitung umgesetzt. Die digitalen Möglichkeiten bieten den Vorteil, die Entstehungsgeschichten visuell nachzuzeichnen, wie zum Beispiel im Fall der Erzählung Blumen, wo diese besonders kompliziert ist, viel Material umgruppiert wurde und sich Seiten verschoben haben.
Neues Licht auf den Schriftsteller
Die aktuelle Edition von Schnitzlers Frühwerk ist nicht nur eine enorme Publikationsleistung, sie liefert auch neue Grundlagen für die Schnitzlerforschung. Nicht zuletzt fördert der freie Zugang auf die Fassungen den wissenschaftlichen Austausch. Bereits im aktuellen Projekt ist erstmals eine werkübergreifende digitale Textgenese in Zusammenarbeit mit einem britischen Forschungsteam geplant, die sich mit Schnitzlers Werk der mittleren Schaffensperiode befasst. „Für mich persönlich war es spannend zu erfahren, wie viel Arbeit Arthur Schnitzler von der ersten Bleistiftnotiz über Heftmanuskripte bis zur Druckedition in die Form investiert hat“, resümiert Konstanze Fliedl. Man könne seinen Arbeitsprozess als einen Akt der Ökonomisierung bezeichnen, der der Komposition zugutekommen sei, so die Expertin. „Schnitzler gilt ja als ‚Impressionist’, als einer, der aus der Stimmung heraus schrieb. Nichts ist falscher als diese Vorstellung. Es stecken in Wahrheit unglaublich viel harte Arbeit und Handwerk dahinter.“
Preisverleihung und szenische Lesung
Anlässlich der Buchpräsentation von Reigen findet am 6. Juni 2019 eine szenische Lesung zu dem skandalumwitterten Werk im Burgtheater (Kasino am Schwarzenbergplatz) in Wien statt. In diesem Rahmen wird auch der Arthur Schnitzler-Preis zum vierten Mal vergeben, mit dem heuer der Dramatiker und Regisseur René Pollesch ausgezeichnet wird.
Zur Person
Konstanze Fliedl ist Professorin am Institut für Germanistik der Universität Wien. Sie studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Theologie und habilitierte sich über Arthur Schnitzler. Sie hatte Gastprofessuren u.a. in Berlin und Zürich inne und forschte in Harvard und Yale. Fliedl ist Präsidentin der Arthur Schnitzler-Gesellschaft und arbeitet zu den Schwerpunkten Edition, österreichische Literatur und Literaturkritik.